Z Gastroenterol 2005; 43(2): 165-168
DOI: 10.1055/s-2005-857871
Leitlinie

© Karl Demeter Verlag im Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Themenkomplex I: Definitionen, Epidemiologie und natürlicher Verlauf

W. Schepp, H.-D Allescher, T. Frieling, M. Katschinski, P. Malfertheiner, C. Pehl, U. Peitz, W. Rösch, J. Hotz †
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Publication Date:
07 February 2005 (online)

Table of Contents

Definitionen

Nosologische Definition

Konsens

Eine allgemein gültige und verbindliche nosologische Definition der gastroösophagealen Refluxkrankheit gibt es bisher nicht. In Anlehnung an den internationalen Konsens - The Genval Workshop Report 1999 [1] - wird die folgende Definition empfohlen:

Eine gastroösophageale Refluxkrankheit liegt vor, wenn ein Risiko für organische Komplikationen durch einen gesteigerten gastroösophagealen Reflux und/oder eine signifikante Störung des gesundheitsbezogenen Wohlbefindens (Lebensqualität) infolge der Refluxbeschwerden besteht (C).

Kommentar

Organische Komplikationen einer Refluxkrankheit können sich im Bereich der Speiseröhre (z. B. Ösophagitis, Stenosen, Barrett) sowie extraösophageal (siehe Leitlinien „Extraösophageale Manifestationen der gastroösophagealen Refluxkrankheit”) manifestieren. Eine Refluxkrankheit wird als wahrscheinlich angesehen, wenn Refluxsymptome (siehe Leitlinien „Diagnostik der Refluxkrankheit”) mindestens 1 × /Woche [2] bis 2 × /Woche [1] auftreten und mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität einhergehen. Allerdings können auch Refluxbeschwerden, die seltener auftreten, zu einer relevanten Minderung der Lebensqualität führen [3].

Gastroösophageale Refluxkrankheit

Konsens

Die gastroösophageale Refluxkrankheit der Speiseröhre wird im medizinischen Sprachgebrauch als GERD abgekürzt. Unter dem Begriff werden die verschiedenen Manifestationen nicht erosive Refluxkrankheit (NERD), erosive Ösophagitis verschiedener Schweregrade (ERD), Barrett-Ösophagus und extraösophageale Manifestationen subsumiert (C).

Kommentar

Unter pathophysiologischen und therapeutischen Aspekten wird zwischen primärer und sekundärer (siehe Abschnitt sekundäre Refluxkrankheit auf der nächsten Seite) Refluxkrankheit unterschieden.

Nichterosive gastroösophageale Refluxkrankheit (NERD)

Konsens

GERD ohne endoskopisch nachweisbare Läsionen wird als nichterosive gastroösophageale Refluxkrankheit definiert (NERD). NERD liegt nur vor, wenn Beschwerden die Lebensqualität beeinträchtigen. NERD kann die Lebensqualität (QoL) ähnlich stark beeinträchtigen wie ERD (B).

Kommentar

Die Unterscheidung zwischen NERD und ERD ist weder durch das Ausmaß der Beschwerden oder der Beeinträchtigung der Lebensqualität möglich noch durch das Ansprechen auf PPI-Therapie oder durch nachweisbar andere Empfindlichkeit gegen Säureexposition [1] [4] [5] [6]. Bei einem Teil der Patienten liegt eine Überlappung mit der funktionellen Dyspepsie bzw. dem Reizdarmsyndrom, gelegentlich mit psychopathologischen Bedingungen, vor [5]. Die NERD kann auch bei Patienten mit refluxbedingten laryngopulmonalen Manifestationen (Laryngitis, chronischer Bronchitis, Asthma bronchiale) bestehen [5].

Epidemiologie

Prävalenz und Inzidenz der GERD

Konsens

Die Prävalenz der GERD mit allen Manifestationsformen liegt in den westlichen Industrieländern bei 10 - 20 %. Die epidemiologischen Daten sprechen für eine Zunahme der GERD-Inzidenz in den letzten Jahrzehnten für alle Manifestationsformen, wenngleich prospektive Daten fehlen (B).

Kommentar

In epidemiologischen Studien schwanken die Prävalenzangaben für mindestens einmal pro Woche auftretendes Sodbrennen zwischen 11 und 18 % [2] [7] [8] [9]. Auswertungen einer amerikanischen Diagnosestatistik sprechen für eine Häufigkeitszunahme der ERD in den letzten Jahrzehnten [10]. Auch eine steigende Inzidenz der NERD ist aufgrund allgemeiner Erfahrungen und Retrospektivanalysen sehr wahrscheinlich [11], wenngleich prospektive kontrollierte Daten fehlen. Ebenso wird für extraösophageale Manifestationen trotz fehlender prospektiver kontrollierter Studien ein absoluter Häufigkeitsanstieg angenommen [2] [12]. Eine familiäre Häufung für die verschiedenen Formen der GERD ist wahrscheinlich [13]. Für eine vermutete Abnahme der Inzidenz von Strikturen in den letzten 2 Dekaden, möglicherweise infolge besserer medikamentöser Therapie, sind die Literaturdaten uneinheitlich [14] [15] [16] [17].

Geschlechts- und Altersverteilung der GERD

Konsens

Die Daten aus populationsbasierten Studien sprechen für eine vergleichbare Prävalenz von Refluxbeschwerden bei Frauen und Männern (B).

Die Prävalenz der GERD ist nicht altersspezifisch, ein Altersgipfel der Erstmanifestation ist in der Literatur nicht eindeutig belegt (B).

Kommentar

Epidemiologische Studien mit Befragungen großer Bevölkerungsstichproben zeigen ein identisches Geschlechtsverhältnis oder wechselnd ein Vorwiegen des weiblichen oder männlichen Geschlechts [2] [7] [18] [19] [20] [21] [22]. Klinikbasierte Studien lassen vermuten, dass Männer häufiger eine ERD aufweisen [10] [14] [23] [24]. Beim Barrett-Ösophagus überwiegt das männliche Geschlecht mit ca. 60 - 70 % [14] [25]. Extraösophageale Manifestationen sind bei beiden Geschlechtern gleich häufig [2].

Es ist offen, ob Patienten mit höhergradiger ERD bzw. Barrett-Ösophagus im Mittel ein höheres Alter aufweisen als Patienten mit NERD bzw. leichtgradiger ERD [2] [10] [14] [23] [24] [26]. Ebenso ist umstritten, ob die Prävalenz von Sodbrennen mit dem Alter zunimmt [2] [7] [20] [22] [23].

Sozioökonomie

Lebenserwartung

Konsens

Die unkomplizierte GERD hat keinen Einfluss auf die Lebenserwartung (B).

Kommentar

Selbst eine ERD Grad II-III hat nur geringen Einfluss auf das Überleben [27]. Auch beim Barrett-Ösophagus ist wegen des seltenen Adenokarzinoms eine generell erniedrigte Lebenserwartung nicht nachgewiesen [28]. Lebensbedrohliche Komplikationen der GERD (Blutung, Strikturen) treten zwar nur bei einem kleinen Prozentsatz der GERD-Patienten auf [2], wegen der hohen Prävalenz der GERD ist aber von durchaus beträchtlichen Absolutzahlen auszugehen. So stieg in England und Wales zwischen 1968 und 1991 die Mortalität infolge benigner Ösophaguserkrankungen an [29].

Kostenaufwand

Konsens

Aufgrund des vergleichbar hohen Leidensdruckes von NERD und ERD sind ähnliche ärztliche und medikamentöse Leistungen zur Wiederherstellung der Lebensqualität erforderlich (C).

Kommentar

Für eine adäquate Behandlung von NERD und ERD werden vergleichbare PPI-Dosen benötigt [5]. Die direkten jährlichen Fallkosten für ärztliche Leistungen und Medikamente werden mit 185 CHF bis 510 $ angegeben [30] [31]. Daraus errechnen sich für 7 - 10 Mio. behandlungsbedürftige GERD-Patienten in Deutschland Aufwendungen von ca. 3 - 4 Milliarden Euro pro Jahr. Eine verlässliche prospektive Kostenanalyse fehlt.

Arbeitsunfähigkeit, Berentung

Konsens

Bei Patienten mit NERD/geringgradiger ERD spielen indirekte Kosten für Arbeitsunfähigkeit bzw. Berentung eine erhebliche Rolle und rechtfertigen die Kosten einer angemessenen medikamentösen Therapie (B).

Kommentar

Mit einer beschwerdebedingten Beeinträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit ist bei 23 bis 33 % der Refluxpatienten zu rechnen [32] [33]. Die indirekten Kosten für GERD durch Arbeitsunfähigkeit und gelegentliche Berentung sind ähnlich hoch wie die direkten Therapiekosten [32] [34] [35]. Im Vergleich zu ambulanten Ulkuspatienten vor der H.-p.-Eradikationsära sind die Kosten für GERD vergleichbar bzw. sogar höher zu veranschlagen [36].

Natürlicher Verlauf

Keine wesentliche Progredienz

Konsens

Das Stadium der NERD/ERD ist bei > 95 % der Patienten über viele Jahre nicht progredient, regelmäßige endoskopische Verlaufskontrollen sind daher nicht erforderlich. Eine spontane langfristige Rückbildung der GERD ist selten (B).

Kommentar

Prävalenz und Schwere von Refluxsymptomen sind unabhängig von der Dauer der Beschwerden und vom Alter der Patienten. Bei den meisten Patienten mit ERD und NERD bleibt das Stadium der Erkrankung bei Diagnosestellung in den folgenden Jahrzehnten stabil [1] [2] [4] [37] [38] [39] [40]. Endoskopische Verlaufskontrollen nach Absetzen der Therapie sind daher verzichtbar, symptomatische Rezidive weisen meist denselben endoskopischen Schweregrad auf wie die Index-Gastroskopie bei Erstdiagnose [39]. Andererseits sind Spontanremissionen v. a. bei höhergradiger ERD selten [41] [42], Rezidive nach Absetzen einer Therapie dagegen sehr häufig [43] [44].

Sekundäre Refluxkrankheit

Konsens

Spezifische pathophysiologische Störungen aufgrund anderer Krankheitsbilder können zur GERD führen und werden als sekundäre Refluxkrankheit bezeichnet (C).

Kommentar

Als Ursachen sind akzeptiert: Magenausgangsstenose und funktionelle Gastroparese, Gravidität [45], Magenverweilsonde [46], Zollinger-Ellison-Syndrom [47], Sjögren/Sicca-Syndrom [48], Sklerodermie [49], neuromuskuläre Erkrankungen sowie geistige Behinderungen (Übersicht bei [50]).

Assoziation mit anderen Erkrankungen

Konsens

Über eine Assoziation von GERD mit anderen gastrointestinalen und/oder extragastrointestinalen Erkrankungen wird in der Literatur berichtet, ohne dass direkte kausale pathogenetische Mechanismen gesichert sind (C).

Kommentar

Dies gilt z. B. für die distale Gastrektomie [51], die Cholezystektomie [52], die Peritonealdialyse [53], Zöliakie [54], Diabetes mellitus [55] [56], Koronarinsuffizienz [57], M. Parkinson [58], psychiatrische Erkrankungen [59] und Schlafapnoe [60] [61] [62].

Medikamente

Konsens

Medikamente können die Symptomatik der GERD verstärken, da sie die komplexe Funktion des gastroösophagealen Verschlussmechanismus und der ösophagealen Clearance stören können (C).

Kommentar

Zu diesen Medikamenten gehören Kalziumantagonisten, Nitropräparate, Theophylline (Verstärkung eines refluxbedingten Asthmas!), Anticholinergika, Psychopharmaka, orale Kontrazeptiva und pfefferminzölhaltige Präparate u. a. [63]. Kalziumantagonisten, Nitropräparate und Anticholinergika können zudem durch Reduktion der ösophagealen Kontraktionsamplituden die ösophageale Säure-Clearance beeinträchtigen [64]. Darüber hinaus reduzieren Anticholinergika die Sekretion Bikarbonat enthaltenden Speichels und vermindern dadurch die Säureneutralisation im Ösophagus [65]. Refluxpatienten scheinen zudem ein erhöhtes Strikturrisiko zu tragen bei Einnahme von ASS oder NIARD.

Literatur

Literatur