Suchttherapie 2005; 6(3): 95-96
DOI: 10.1055/s-2005-858660
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

EditorialR. Soellner, D. Kleiber
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Renate Soellner

FU-Berlin, FB 12, Arbeitsbereich Evaluation, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in Erziehungswissenschaft und Psychologie

Habelschwerdter Allee 45

14195 Berlin

Email: soellner@zedat.fu-berlin.de

Publication History

Publication Date:
23 September 2005 (online)

Table of Contents

Cannabis ist seit gut einem Jahrzehnt die Substanz, die in Deutschland die mitunter emotionalsten drogenpolitischen Diskussionen und Kontroversen auslöst. Mit der Lübecker Vorlage zum „Recht auf Rausch” und dem darauf folgenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde 1994 eine Überprüfung und gegebenenfalls Neubewertung bislang als gesichert geltender Wissensbestände zu Cannabis angeschoben. Dies geschah mit der Hoffnung, einen gewinnbringenden Diskurs auf einer sachorientierten Basis zu fördern.

Trotz erhöhten Forschungsaufkommens zum Konsum von Cannabis seit Mitte der neunziger Jahre dominieren jedoch ideologiegeleitete statt sachorientierte Argumente den gesundheitspolitischen und teilweise auch den wissenschaftlichen Diskurs. Seit Beginn dieses Jahrtausends wird gar seitens der politischen Vertreterinnen und Vertreter eine neue Risikodebatte gefordert und geführt, wonach Cannabiskonsum gar nicht so ungefährlich sei, wie dies bislang angenommen wurde, sondern einer differenzierten Neueinschätzung der Gefahren, die mit dem Konsum von Cannabis einhergehen, bedürfe. Ungeachtet der Expertisen, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre national und international erstellt wurden [1] [2] [3] [4], wurde dazu übergegangen, einzelne Befunde hochzustilisieren und somit die Risikoseite des Konsums zu akzentuieren.

Unterschiedlich breit angelegte Expertisen und Metaanalysen zu den psychosozialen Folgen von Cannabis, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7], werden in Anhängigkeit der ideologischen Heimat jeweils unterschiedlich interpretiert.

Nicht selten werden weitere Forschungsbemühungen zum Phänomen Cannabis gefordert, vorwiegend mit dem Ziel, die Frage der Gefährlichkeit oder der Risiken des Konsums von Cannabis am besten abschließend zu klären. Ätiologische Forschungsansätze sind diesen Risikobewertungsstudien sowie einer epidemiologischen Betrachtung fast ausschließlich gewichen.

Da der Konsum von Drogen jedoch ein äußerst komplexes Geschehen darstellt, ist er weder einfach noch allgemein zu beschreiben und vor allem zu erklären. Vielmehr bedarf es einer differenzierten, an Zielgruppen orientierten Sicht, die spezifische Präventionsziele und -botschaften formuliert, statt generalpräventive und dadurch möglicherweise unglaubwürdige und ineffiziente Ansätze zu verfolgen.

Dieses Schwerpunktheft fokussiert Anforderungen und Konsequenzen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven für die Suchthilfe und damit für die Prävention, Beratung und Therapie ableiten lassen. Es soll somit einen handlungsorientierten Beitrag in der Diskussion um Cannabisprävention leisten, zum Nach- und Überdenken alter Handlungsgrundsätze anregen sowie, wo möglich, neue Wege aufzeigen.

Die öffentliche Cannabisdiskussion in Deutschland aus der Perspektive der Suchthilfe und Prävention wird von Raphael Gaßmann nachgezeichnet. Er plädiert in Anlehnung an die Cannabisurteile des Bundesverfassungsgerichts für mehr Sachlichkeit im Umgang mit der Substanz Cannabis, um Möglichkeiten von Prävention, Frühintervention und Therapie zu fördern. Weiterhin sollte die vorherrschende, rein epidemiologische Betrachtung des Phänomens durch Ursachenanalysen ergänzt werden, die Ansatzpunkte für individuelle Präventionsangebote liefern können.

Auch die psychiatrische Perspektive auf das Jugendphänomen Cannabiskonsum ist vertreten. Oliver Bilke stellt in seinem Beitrag die Diagnostik cannabisspezifischer Störungen in den Vordergrund und betont die Notwendigkeit einer gründlichen multiaxialen Diagnostik, bei der cannabisspezifische Störungen lediglich einen Teil darstellen. Insbesondere der Diagnostik komorbider Störungen komme bei der Gesamtbehandlungsplanung zentrale Bedeutung zu. Er plädiert für eine interdisziplinäre Herangehensweise im Umgang mit dem komplexen Phänomen Cannabiskonsum.

Jens Kalke, Uwe Verthein und Heino Stöver nehmen neuere epidemiologische Studien unter die Lupe und diskutieren diese vor einem empirischen sowie methodischen Hintergrund. Sie kommen zu dem Schluss, dass von einer „Cannabis-Seuche”, wie sie in einzelnen Veröffentlichungen und teilweise auch in der Fachöffentlichkeit behauptet wird, aus epidemiologischer Sicht nicht die Rede sein kann. Eine glaubwürdige Präventionspolitik sollte berücksichtigen, dass der Cannabiskonsum im Wesentlichen ein passageres Phänomen der Adoleszenzphase ist, und neben einer abstinenzorientierten auch schadensminimierende Perspektiven berücksichtigen.

Renate Soellner und Dieter Kleiber beleuchten Präventionsansätze aus historischer, wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Perspektive. Fragen wie „Welche Anforderungen an Präventionsprojekte lassen sich aus Studien über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen und aus Theorien zur Entwicklung problematischen Konsumverhaltens ableiten?”, „Welche Präventionsziele werden aus der Sicht von Gesundheitspolitikerinnen und -politikern formuliert?” und „Wie werden diese in cannabisspezifischen Präventionsangeboten umgesetzt?” werden in ihrem Beitrag angesprochen. Um konsistente und glaubwürdige Prävention umsetzen zu können, muss ihrer Meinung nach neben schädlichem Konsum auch festgelegt werden, was als unschädlich gelten kann. Eine überzeugende Präventionspolitik sollte Präventionsstrategien an der gesellschaftlichen Realität orientieren und zur Kenntnis nehmen, dass Cannabis für einen großen Teil Jugendlicher bereits den Status einer Alltagsdroge besitzt. Hierbei schließen sie sich dem von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung formulierten Präventionsziel an, „den gesundheitsschädlichen Konsum von Suchtmitteln von vornherein zu verhindern”.

Cannabiskonsum in der Schweiz wird von Martin Neuenschwander, Ulrich Frick, Gerhard Gmel und Jürgen Rehm beleuchtet. Auf der Grundlage einer Risikofaktorenanalyse plädieren sie für die Entwicklung eines Screeninginstruments zur Früherkennung problematischen Cannabiskonsums sowie speziell auf die Bedürfnisse von gefährdeten Jugendlichen ausgerichtete Informations-, Beratungs- und Behandlungsangebote.

Der Drogen- und Suchtkommission der Bundesregierung zufolge sollte in der Cannabisprävention im Zweifel der Grundsatz „Prävention vor Repression” gelten [8]. Dies umzusetzen erscheint aus jeder der hier eingenommenen Perspektiven empfehlens- und vor allem lohnenswert.

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Literatur

  • 1 Kleiber D, Kovar K A. Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen. Stuttgart; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 1998
  • 2 Kalant H, Corrigall W A, Hall W. et al .The health effects of cannabis. Canada; Centre for Addiction and Mental Health 1999
  • 3 Ministry of Public Health of Belgium .Cannabis 2002 Report. Brussels; Ministry of Public Health 2002
  • 4 Inserm expertise collective. Cannabis. Quels effets sur le comportement et la santé?. Paris; Les éditions Inserm 2001
  • 5 Kleiber D, Soellner R. Psychosoziale Folgen des Cannabiskonsums. Gaßmann R Cannabis. Neue Beiträge zu einer alten Diskussion Freiburg; Lambertus 2004: 20-54
  • 6 Grant I, Gonzalez R, Carey C L. Non-acute (residual) neurocognitive effects of cannabis use: A meta-analytic study.  Journal of the International Neuropsychological Society. 2003;  9 (5) 679-689
  • 7 Thomasius R, Petersen K U, Küstner U. et al . Cannabis als Medikament - eine Nutzen/Risiko-Abwägung.  Blutalkohol. 2004;  41 383-400
  • 8 Die Drogen und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit .Stellungnahme der Drogen und Suchtkommission zur Verbesserung der Suchtprävention. Berlin; Bundesministerium für Gesundheit 2001

Renate Soellner

FU-Berlin, FB 12, Arbeitsbereich Evaluation, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in Erziehungswissenschaft und Psychologie

Habelschwerdter Allee 45

14195 Berlin

Email: soellner@zedat.fu-berlin.de

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Literatur

  • 1 Kleiber D, Kovar K A. Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen. Stuttgart; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 1998
  • 2 Kalant H, Corrigall W A, Hall W. et al .The health effects of cannabis. Canada; Centre for Addiction and Mental Health 1999
  • 3 Ministry of Public Health of Belgium .Cannabis 2002 Report. Brussels; Ministry of Public Health 2002
  • 4 Inserm expertise collective. Cannabis. Quels effets sur le comportement et la santé?. Paris; Les éditions Inserm 2001
  • 5 Kleiber D, Soellner R. Psychosoziale Folgen des Cannabiskonsums. Gaßmann R Cannabis. Neue Beiträge zu einer alten Diskussion Freiburg; Lambertus 2004: 20-54
  • 6 Grant I, Gonzalez R, Carey C L. Non-acute (residual) neurocognitive effects of cannabis use: A meta-analytic study.  Journal of the International Neuropsychological Society. 2003;  9 (5) 679-689
  • 7 Thomasius R, Petersen K U, Küstner U. et al . Cannabis als Medikament - eine Nutzen/Risiko-Abwägung.  Blutalkohol. 2004;  41 383-400
  • 8 Die Drogen und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit .Stellungnahme der Drogen und Suchtkommission zur Verbesserung der Suchtprävention. Berlin; Bundesministerium für Gesundheit 2001

Renate Soellner

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