Inhaltsverzeichnis
1 Einführung … 71
2 Grundlagen … 72
2.1 Entwicklung der Strukturen des Gleichgewichtsorgans … 72
2.2 Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems … 72
2.3 Vestibularisdiagnostik … 75
3 Akute einseitige Vestibularisstörung … 75
3.1 Diagnostik und Ursachen … 75
3.2 Medikamentöse Therapie … 77
3.3 Vestibuläre Kompensation … 77
4 Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel … 78
4.1 Ursachen … 78
4.2 Symptomatik und Varianten … 78
4.3 Diagnostik … 79
4.4 Physikalische Therapie … 79
4.5 Chirurgische Therapie … 80
4.6 Fakten der evidenzbasierten Medizin … 82
5 Morbus Menière … 82
5.1 Differenzialdiagnostik und Therapieansätze … 82
5.2 Medikamentöse Therapie … 83
5.3 Intratympanale Applikation von Medikamenten … 83
5.3.1 Aminoglykosidtherapie … 83
5.3.2 Labyrinthanästhesie … 85
5.3.3 Glukokortikoidtherapie … 86
5.3.4 „Osmotische Induktion” … 86
5.4 Beeinflussung von Mittelohrdruck, -mechanik und Hydrodynamik des Innenohres …
86
5.5 Chirurgische Therapie … 87
5.5.1 Funktionserhaltende Labyrinthchirurgie … 87
5.5.1.1 Saccotomie … 87
5.5.1.2 Cochleosacculotomie … 88
5.5.2 Ausschaltung der Labyrinthfunktion … 88
5.5.2.1 Neurektomie des Nervus vestibularis … 88
5.5.2.2 Labyrinthektomie … 89
5.6 Zusammenfassende Bemerkungen … 89
6 Funktionsstörungen der Otolithenorgane … 90
7 Bilaterale Vestibulopathie … 90
8 Gestörtes Gleichgewicht im Alter … 91
9 Kinetosen … 91
Literatur (Hinweis: erscheint nur in der Online-Ausgabe)
1 Einführung
1 Einführung
Das Gleichgewichtsvermögen des Menschen wird durch die Funktionen des Labyrinths,
des visuellen Systems und der zervikalen Tiefensensibilität erreicht. Diese genau
aufeinander abgestimmten Sinnesmodalitäten steuern die Blickmotorik zur Orientierung
im Raum in jeder Körperlage und während der Bewegung des Kopfes. Darüber hinaus werden
durch die muskuläre Koordination Stehen, Gehen und simultane Kopfbewegungen möglich.
Ist das Zusammenwirken dieser verschiedenen Sinnesfunktionen gestört, entsteht eine
Wahrnehmung, die individuell unterschiedlich als Schwindelempfindung interpretiert
wird. Dabei handelt es sich weder um eine Diagnose noch um einen Befund, sondern um
ein vieldeutiges fachübergreifendes subjektives Symptom. Dieses tritt aber nicht nur
bei Krankheiten des Gleichgewichtssystems auf, sondern auch bei nicht otologischen
Erkrankungen. Unter Gleichgewichtsstörungen im engeren Sinne wird auch eine Störung
der Haltungsregulation verstanden. Sie ist Folge von Läsionen im Bereich des vestibulären
Systems. „Aus dem Gleichgewicht geraten” kann man deshalb aus den unterschiedlichsten
Gründen.
Tab. 1 Therapie bei Erkrankungen mit gestörtem Gleichgewicht (Vestibularisausfall, Morbus
Menière, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel)
Erkrankung
medikamentöse Therapie
physikalische Therapie
chirurgische Therapie
akuter einseitiger Vestibularisausfall
z. B. Antivertiginosa, Glukokortikoide
vestibuläres Training
-
Morbus Menière
Anfallstherapie: Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat) Anfallsprophylaxe: z. B. Cinnarizin und Dimenhydrinat, Betahistin, Diuretika
vestibuläres Training
funktionserhaltend: z. B. Saccotomie, ablativ: z. B. Neurektomie des N. vestibularis; medikamentös-chirurgisch: intratympanale Gentamicin- oder Lidocaingaben
benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
als alleinige Therapie kontraindiziert, im Einzelfall einmalige Gabe eines Antivertiginosums
nach physikalischer Therapie
nach Beteiligung des jeweiligen Bogenganges: Befreiungsmanöver (z. B. nach Semont) oder Repositionsmanöver (z. B. nach Epley,
Vannuchi)
im Einzelfall: konventionell-chirurgische Okklusion des jeweiligen Bogenganges („Plugging”) oder
laserchirurgische (Argon-, CO2 -Laser) Okklusion
Tab. 2 Prävention und Prophylaxe bei ausgewählten vestibulären Störungen
Erkrankung
Prävention/Prophylaxe
Bilaterale Vestibulopathie
Kontrolle der Serumspiegel (Gentamicin), Vermeidung kumulativer Effekte (z B. bei
gleichzeitiger Gabe von Schleifendiuretika)
Gleichgewichtsstörungen nach Cochlea-Implantation
Einbeziehung der Ergebnisse der thermischen Vestibularisprüfung sowie der Otolithenfunktionstests
in die Wahl der zu implantierenden Seite
Borreliose
Antibiotika (Einmalgabe), adäquate Behandlung eines Erythema chronicum migrans
Kinetosen
reisespezifisches Kinetosentraining (wiederholte Reizexposition: Habituation), vorsichtigess
Beschleunigen und Bremsen, Vermeidung zusätzlicher Beschleunigungskräfte(z. B. Kopfbewegungen
beim Autofahren), Vermeidung optisch-visueller Konfliktsituationen (z. B. Lesen beim
Autofahren, visuelle Kontrolle der Fahrt), Kopffixation während der Fahrt, Antivertiginosa
vor Reiseantritt
Höhenschwindel
Vermeidung zu starker Kopfneigung, Hinsetzen oder Hinlegen, Festhalten oder Anlehnen,
Vermeidung von Bewegungen, nahegelegene Kontraste sollten im Gesichtsfeld verbleiben
Gleichgewichtsstörungen beim Tauchen
Tauchtauglichkeitsuntersuchung, keine Tauchgänge bei Erkrankungen der oberen Luftwege
mit Tubenfunktionsstörungen
Gestörtes Gleichgewicht im Alter
Körperliches und Gleichgewichtstrining, Vermeidung von Stürzen durch sinnvolle Verordnung
von Medikamenten
Der Umgang mit Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen wird im Allgemeinen
als schwierig angesehen. Aufgrund des subjektiven Charakters, der Unschärfe und Ungenauigkeit
des Begriffs „Schwindel” ergeben sich nicht selten Probleme im klinischen Alltag.
Das Wort „Schwindel” lässt sich auf das althochdeutsche Verb „swintilon” (für „In
Ohnmacht fallen”, „Schwinden der Sinne”) (800 nach Chr.) zurückführen. Die Bedeutung
beschrieb etwa den orthostatischen Schwindel. Erst im Mittelhochdeutschen entstand
das Substantiv „swindel” mit der innewohnenden Bedeutung des systematischen Schwindels
und bedeutet heute im medizinischen aber auch juristischen Sinne, dass irgendetwas
nicht zusammen stimmt [1 ]
[2 ]. In anderen Sprachen hingegen wird klar zwischen gerichteten Schwindelsensationen
(engl. vertigo, frz. vertige) und unbestimmtem Unwohlsein (engl. dizziness, frz. malaise)
unterschieden [3 ].
Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen gehören zu den häufigsten Beschwerden
überhaupt und können deshalb als Volkskrankheit bezeichnet werden. Mehr als 300 verschiedene
Ursachen können infrage kommen [4 ].
Akute oder dauerhaft vorhandene Schwindelzustände äußern sich in einer Störung, die
Raumorientierung und Wahrnehmung (z. B. Drehschwindel), Blickstabilisierung (z. B.
Nystagmus), Haltungsregulation (Ataxie, Fallneigung) und das vegetative Nervensystem
betreffen kann [5 ]. Die Beeinträchtigung der Patienten durch diese Symptome ist teilweise erheblich.
Aber nicht nur körperliche, sondern auch seelische Faktoren spielen eine bedeutende
Rolle [6 ]. Nahezu immer ergeben sich dadurch für den Betroffenen Auswirkungen auf das alltägliche
Leben und den Beruf.
Der vestibulookuläre Reflex (VOR) ist zentraler Bestandteil des sensomotorischen Systems.
Er überträgt die Informationen vom Labyrinth über den Nervus vestibularis und seine
Kerngebiete im Hirnstamm zu den Augenmuskeln (Abb. [1 ]). Vestibuläre Schwindelformen basieren auf Störungen im Bereich des VOR. Vor diesem
Hintergrund erscheint die häufig gebräuchliche Unterscheidung peripherer und zentraler
Störungen nicht mehr schlüssig. Sie ist didaktisch sinnvoll, eignet sich aber nicht
für das Verständnis der Ursachen und zur Deutung funktionsdiagnostischer Befunde.
Abb. 1 Der vestibulookuläre Reflex (VOR) vom Labyrinth bis zum Kortex. Der VOR ist zentraler
Bestandteil des sensomotorischen Systems, das für die Raumorientierung und Wahrnehmung
(vestibuläre Projektion im Kortex, perzeptiver Schenkel des VOR), Haltungsregulation
(vestibulospinale Projektion, posturaler Schenkel) und Blickstabilisierung verantwortlich
ist. Der VOR überträgt Informationen von den Bogengängen und Otolithenorganen über
den Nervus vestibularis, die im Hirnstamm gelegenen Kerngebiete und vestibulären Projektionen
an die Kerne der drei Augenmuskeln (Drei-Neuronen-Reflexbogen, okulomotorischer Schenkel).
Die geringe Leitungszeit im VOR (ca. 20 ms) garantiert ein scharfes retinales Abbild
bei Kopfbewegungen [5 ]
[15 ], (SVN; IVN; LVN; MVN: superiorer, inferiorer, lateraler, medialer Vestibulariskern).
Zur Wiederherstellung des Gleichgewichts können eine medikamentöse Behandlung, physikalische
Maßnahmen, funktionserhaltende operative Verfahren und Methoden der unilateralen Ausschaltung
der Labyrinthfunktion zum Einsatz kommen. Grundlage hierfür ist die Kompetenz des
Individuums zur vestibulären Kompensation, einen durch das Zentralnervensystem organisierten
Vorgang bei einseitigen und beiderseitigen Funktionsstörungen im vestibulären System
mit Neuorganisation des VOR.
In den letzten Jahren sind neue Impulse zur Aufklärung von Schwindelsyndromen seitens
unseres Fachgebietes aber auch vom Fachgebiet der Neurologie ausgegangen. Gegenwärtig
ist eine Lösung diagnostischer und therapeutischer Fragestellungen bei Schwindelsyndromen
kaum noch ohne die Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen möglich.
Das folgende Referat widmet sich in erster Linie labyrinthären Erkrankungen mit gestörtem
Gleichgewicht. Es werden historische und etablierte Behandlungsmethoden vorgestellt,
kontroverse Ansichten gegenübergestellt und kritisch diskutiert. Die gewählte Darstellung
wendet sich an den HNO-Arzt in der Arztpraxis und an den Kliniker.
So verfügbar, wurden zur Bewertung der Wirksamkeit einzelner therapeutischer Maßnahmen
Quellen der evidenzbasierten Medizin herangezogen.
2 Grundlagen
2 Grundlagen
2.1 Entwicklung der Strukturen des Gleichgewichtsorgans
Die embryonale Entwicklung des Innenohres ist ein komplizierter Prozess mit einem
Wachstum der Labyrinthstrukturen in drei Dimensionen. Der embryologische Ursprung
ist das so genannte Ohrbläschen. Dieses unterteilt sich zunächst in einen ventralen
Anteil, bestehend aus Sacculus und Ductus cochlearis und eine dorsale Komponente,
den Utriculus. Im Utriculus sind inzwischen Hinweise für adulte Stammzellen gefunden
worden. Die Entwicklung des Innenohrs beginnt in der sechsten Woche. Alle drei Bogengänge
entstehen gleichzeitig aus drei flachen Vorwölbungen des Utriculus. Die weitere Entwicklung
der Bogengänge ist ein Prozess der Verschmelzung und des gleichzeitigen Wachstums.
Der laterale Bogengang ist die letzte Struktur, die sich während der Embryogenese
des Innenohres entwickelt. Eine Fehlbildung des lateralen Bogengangs kann als isolierte
Anomalie vorkommen [7 ]. Ein Fehlen aller drei Bogengänge wird beim Goldenhar-Syndrom und der CHARGE-Assoziation
beschrieben [8 ]
[9 ].
2.2 Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems
Das knöcherne Labyrinth umscheidet das häutige (membranöse) Labyrinth. Letzteres stellt
ein verzweigtes, in sich geschlossenes System dar. Die endolymphgefüllten Bogengänge
münden mit fünf Öffnungen (ein Crus commune, nichtampulläres Ende des vorderen und
hinteren Bogengangs) in den Utriculus. Von klinischer Bedeutung (Gleichgewichtsstörung
nach Stapesoperationen) ist die unmittelbare Nachbarschaft der Otolithenorgane zur
Fenestra vestibuli. Die Distanzen zum ovalen Fenster sind nach einer Zusammenstellung
von Lang vom oberen Rand des ovalen Fensters zum Utriculus (medial und oben gelegen)
am geringsten (0,3 mm). Vom hinteren Unterrand soll er durchschnittlich 1,4 mm betragen
und von der unteren Wand 1,6 bis 2 mm. Der Sacculus ist vom mittleren Anteil der Stapesfußplatte
etwa 1 mm entfernt. Die geringste Distanz findet sich zur Vorderkante (etwa 0,75 -
1 mm) [10 ].
Die vaskuläre Versorgung des Gleichgewichtsorgans erfolgt über die Arteria labyrinthi.
Sie gibt eine Arteria vestibularis anterior ab, deren Äste über den Ramus vestibularis
mit der Arteria vestibulocochlearis anastomosieren. Variationen der Gefäßverläufe
und Schlingenbildungen im Bereich des Hirnstammes (neurovaskuläre Kompression) können
zu Schwindelbeschwerden im Rahmen einer Vestibularisparoxysmie führen.
Die Sinnesepithelien des vestibulären Labyrinths befinden sich im Otolithenapparat
(Macula utriculi et sacculi) und in den Ampullen der drei Bogengänge (Cristae). Man
unterscheidet zwei Typen von Haarzellen beim Menschen. Die flaschenförmigen Typ-I-Haarzellen
und die zylindrisch geformten Typ-II-Haarzellen. Beide funktionieren als mechano-sensorische
Rezeptoren. Nach der Reizung durch Dreh- oder Linearbeschleunigungen erfolgt eine
mechano-elektrische Transduktion. Diese ist einer aktuellen Studie zufolge in Typ-I-Haarzellen
größer (500 pA) als in den Typ-II-Haarzellen [11 ]. Der Rezeptorpol beider Zellen enthält Stereozilien, die bei der Aufsicht hexagonal
angeordnet sind. Die Stereozilien ragen in die mit Otolithen (Statolithen) besetzte,
aufliegende gelatinöse, wabenartige Membran oder die gelatinöse Masse der Cupula hinein.
Der adäquate Reiz ist eine Scherbewegung der Sinneshärchen. Entsprechend einer funktionellen
Zellpolarisation befindet sich lateral des Stereozilienbündels eine Kinozilie (Verbiegung
in Richtung der Kinozile = Depolarisation, entgegengesetzte Bewegung = Hyperpolarisation).
Während die Polarisation der Sinneszellen in den Cristae einheitlich ist, sind die
Verhältnisse in den Maculae funktionsbedingt komplizierter. Hier findet sich eine
bogenförmig verlaufende Grenzlinie (Striola), die die Sinnesepithelien in zwei Hälften
teilt. Die Sinneszellpolarisationen der Otolithenorgane verlaufen nicht parallel sondern
ebenfalls bogenförmig und sind so in allen Richtungen einer Ebene vorhanden [12 ]
[13 ].
Die Informationen der in etwa rechtwinklig zueinander stehenden Otolithenorgane (S acculus s enkrecht) gelangen über die Nervenfasern des Nervus utricularis und saccularis zum
oberen Anteil des Ganglion vestibulare (Scarpae). Ein weiterer Nerv zieht vom Sacculus
zum Ganglion vestibulare inferior. Alle Cristae geben jeweils einen Nerven ab. Vorderer
und lateraler Nervus ampullaris ziehen zum oberen Anteil des vestibulären Ganglions.
Der hintere Bogengang entlässt den Nervus singularis und den Nervus ampullaris posterior
zum Ganglion vestibulare inferior. Im Ganglion vestibulare liegen die Nervenzellen
des zweiten Neurons. Die Faserbündel des Nervus vestibulocochlearis (Pars vestibularis
superior, Pars vestibularis inferior, Pars cochlearis) rotieren auf dem Weg zum Eintritt
in den Hirnstamm diskret. Die einzelnen Faserbündel lassen sich im Bereich der Fundus
meatici acustici von einander abgrenzen. Einige der zahlreichen Anastomosen bestehen
zwischen der Pars vestibularis superior und dem Nervus intermedius sowie dem oberen
Anteil des Nervus saccularis und dem Nervus intermedius. Neben den afferenten Fasern
verlaufen im Nervus vestibularis auch efferente Bahnen. Die Nervenendigungen verteilen
sich im Gleichgewichtsorgan ohne Spezifität und steuern sowohl Typ-I- als auch Typ-II-Zellen
an. Feinabstimmungen des Gleichgewichtsorgans über die efferenten Bahnen werden angenommen
[10 ]
[14 ].
Die wichtigste Struktur des vestibulären Systems, der VOR, gibt die Informationen
vom Labyrinth (Bogengänge und Otolithenorgane auf beiden Seiten) über den Nervus vestibularis,
das Vestibulariskerngebiet, die vestibulären Projektionsgebiete im Hirnstamm (Fasciculus
longitudinalis medialis, Brachium conjunctivum, aufsteigender Deiters Trakt) an die
Kerngebiete der Augenmuskelnerven über einen so genannten „Drei-Neuronen-Reflexbogen”
(N. trochlearis, N. oculomotorius, N. abducens) weiter. Die paramediane Formatio reticularis
der Pons (PPRF) als wesentliches Integrationszentrum für Augenbewegungen kontrolliert
z. B. horizontale Sakkaden durch prämotorische Burst-Neuronen mit monosynaptischen
Eingängen auf den N. abducens. Der VOR ist unter anderem verantwortlich für die Blickstabilisierung.
Betrachtete Bilder werden bei allen Körperbewegungen simultan auf gleichen Orten der
Netzhaut abgebildet. Andere Bahnen ziehen zum vestibulären Kortex (Raumorientierung
und Wahrnehmung) und zu den vestibulospinalen Bahnen (Haltungsregulation) [5 ]
[15 ].
In neueren Untersuchungen mit funktionellen kernspintomographischen Darstellungen
und mittels Positronen-Emissions-Tomographie nach visueller und vestibulärer Stimulation
von Hirnarealen konnte nachgewiesen werden, dass eine zentrale intersensorische Verarbeitung
unterschiedlicher Stimuli erfolgt. Bei vestibulären Stimulationen (thermische Reizung)
wurden Signale in parietoinsulären Zonen festgestellt (parietoinsulärer vestibulärer
Kortex). Eine Aktivierung des visuellen Systems führte zu einer Minderung der Durchblutung
im postinsulären Kortex. Wenn das vestibuläre System stimuliert wurde, war eine partielle
Deaktivierung des visuellen Kortex die Folge. Diese so genannte reziproke inhibitorische
Interaktion zwischen visuellem und vestibulärem System soll funktionelle Bedeutung
in der Konfliktverarbeitung unterschiedlicher sensorischer Inputs haben [16 ]
[17 ]
[18 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]
[22 ]. So ist auch denkbar, dass solche Mechanismen auch bei der vestibulären Kompensation
eine Rolle spielen könnten.
Gestörtes Gleichgewicht kommt durch Läsionen an Strukturen des vestibulären Systems
zustande und führt zu einem gestörten vestibulären Funktionsgleichgewicht. Der VOR
besitzt drei Arbeitsebenen, eine sagittale (pitch), eine frontale (roll) und eine
horizontale (yaw). Definierte topische Funktionsstörungen bedingen bisweilen definierte
Nystagmusrichtungen. Diese klinische Zuordnung von Augenbewegungen und Schädigungsorten
wurde vorwiegend für zentralnervöse Syndrome (Hirnstammläsionen) entwickelt und hilft
bisweilen auch für die Einteilung von Störungen im labyrinthären Bereich (z. B. benigner
paroxysmaler Lagerungsschwindel des lateralen Bogengangs) [5 ]
[15 ]
[23 ] (Abb. [2 a, b ]). Pathologische Augenbewegungen in der pitch-Ebene sind durch bilaterale pontomedulläre, pontomesenzephale und Flocculusschädigungen
bedingt. Vestibuläre Syndrome in der roll-Ebene zeigen eine unilaterale Schädigung aufsteigender Bahnen (von den Bogengängen und
Otolithenorganen) an. Gestörte Augenbewegungen in der yaw-Ebene werden durch einseitige Läsionen im Bereich der Eintrittszone des Nervus vestibularis
in den Hirnstamm oder durch Schädigungen des mittleren und/oder oberen Vestibulariskern
sowie der parapontinen Formatio reticularis hervorgerufen [5 ]
[15 ]
[23 ].
Abb 2
a Die drei Hauptarbeitsebenen des vestibulookulären Reflexes (VOR). Vertikale pitch-Ebene
(grün), frontale roll-Ebene (grau), horizontale yaw-Ebene (grün) [23 ]. b Nystagmen bei definierten Schädigungen in den drei Hauptarbeitsebenen des VOR. Tonusimbalancen
in der pitch-Ebene führen zu einem vertikalen Nystagmus (upbeat oder downbeat Nystagmus).
Störungen in der roll-Ebene bewirken einen torsionellen Nystagmus und Schädigungen
des VOR in der yaw-Ebene einen horizontalen Nystagmus.
Endo- und Perilymphe haben ein in etwa gleiches spezifisches Gewicht und stehen unter
etwa gleichem Druck, der durch den Liquorraum beeinflusst wird. Dieser befindet sich
in unmittelbarer Nähe des Labyrinths. Der Aquaeductus cochleae stellt eine bei der
Ontogenese angelegte Verbindung zwischen Perilymph- und Subarachnoidalraum dar. Beim
Erwachsenen ist sie verschlossen. Die Kommunikation der Perilymphe mit dem Liquorkompartiment
über den Aquaeductus cochleae spielt beim Krankheitsbild der perilymphatischen Hypertension
eine Rolle [24 ]. Auch eine interlabyrinthäre Verbindung zwischen den Perilymphräumen beider Ohren,
die nach einer Hypothese über perineurale Lymphscheiden erfolgen soll, wird seit langem
diskutiert („Schreiner-Effekt”, sympathetic cochleo-labyrinthitis) [25 ]
[26 ].
Der Aquaeductus vestibuli führt den Endolymphkanal (Ductus endolymphaticus). Dieser
entsteht durch die Vereinigung der Gänge aus dem Utriculus und dem Sacculus. Der distale
Saccus endolymphaticus ist unter der Dura der hinteren Schädelgrube an der Hinterkante
der Felsenbeinpyramide zu finden. Er stellt eine ca. 10 mm große, intrakranielle Ausdehnung
des häutigen Labyrinths dar. Charakteristische Epithelien mit funktioneller Bedeutung
finden sich in drei Zonen: der Pars rugosa, der Pars intermedia und der Pars lateralis
des Saccus endolymphaticus. Transportvorgänge zwischen dem Endo- und Perilymphraum
verursachen Volumenverschiebungen und Flüssigkeitsströmungen. Dem Ductus und Saccus
endolymphaticus werden verschiedene Funktionen zugeordnet, wie die Volumen- und Flussregulation
(Klappensysteme), die Resorption von Endolymphe, sekretorische Aktivitäten und eine
Rolle bei Immunprozessen des Innenohres (Pars rugosa) [11 ]
[27 ]
[28 ]. Ein ektatischer oder obliterierter Ductus endolymphaticus kann beispielsweise im
Falle einer endolymphatischen Hypertension vorliegen.
2.3 Vestibularisdiagnostik
Labyrinthäre und neurogene Störungen des vestibulookulären Reflexes lassen sich heute
mit modernen Methoden diagnostisch erfassen. Die Otolithenorgane sind bei einer Reihe
von Funktionsstörungen aufgrund ihrer zentralen Lage früher und häufiger betroffen
als die Cristae. Indikationen z. B. zur Einlage von Paukenröhrchen, explorativer Tympanotomie
und Nischenabdeckung sowie endolymphatischer Shuntoperation können erst nach Ausschöpfung
der gesamten neurootologischen Differenzialdiagnostik und Subklassifikation labyrinthärer
Störungen gestellt werden.
Statische Kippung und exzentrische Rotation sowie thermische Prüfung in Pro- und Supinationslage
mittels Videonystagmographie oder der Erfassung der subjektiven Vertikalen erlauben
die seitengetrennte Beurteilung der Makulafunktion [29 ]. Mit modernen thermischen Reizmethoden (z. B. die Nahinfrarotreizung) wird eine
gezielte, berührungsfreie, dosierte, geräuschlose und für den Patienten angenehmere
Diagnostik ermöglicht. Zudem tritt hierbei das störende Phänomen der Verdunstungskälte
nicht mehr auf [30 ]
[31 ]
[32 ].
Anhand von neueren rotatorischen Tests kann eine Aussage über den cristaabhängigen
(frequenzselektive Drehpendelprüfung) und makulaabhängigen vestibulookulären Reflex
(OVAR) gemacht werden. Vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMP) lassen sich
durch gemittelte EMG-Ableitung gewinnen. Sie können der Funktion des Sacculus zugeordnet
werden.
Zur Diagnostik von labyrinthären Anomalien und Neoplasien ist die hochauflösende Computertomographie
geeignet. Fibrosierungen des endo- und perilymphatischen Raumes werden durch die Kernspintomogaphie
und Maximum-Intensitäts-Pixel-Projektion dargestellt. Dreidimensionelle Visualisierungen
erleichtern die räumliche Zuordnung von Befunden.
Da bei vielen Erkrankungen eine schrittweise Beeinträchtigung der labyrinthären Funktion
(beginnend mit den Otolithenorganen und fortschreitend über eine Beeinträchtigung
der Bogengangsfunktion) stattfindet, ist für eine Beurteilung bestimmter, vor allem
druckbedingter Labyrinthfunktionsstörungen im Zeitverlauf eine Wiederholung von Untersuchungen
und deren Vergleich sinnvoll [29 ]. Diagnostische Methoden mit Verlaufskontrollen sind außerdem erforderlich, um den
Therapieerfolg im Einzelfall zu objektivieren und Therapiequalität zu sichern.
Die Untersuchung des vestibulookulären Reflexes ist innerhalb der letzten Dekade durch
eine neue Generation der dreidimensionalen Videonystagmographie bereichert worden,
die in Zunkunft zur Differenzialdiagnostik von vestibulären Störungen beitragen kann.
3 Akute einseitige Vestibularisstörung
3 Akute einseitige Vestibularisstörung
3.1 Diagnostik und Ursachen
In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich bei einer plötzlich einsetzenden
einseitigen Labyrinthstörung um einen idiopathischen „Vestibularisausfall”. Die Synonyme
„akuter isolierter Vestibularisausfall”, „Neuritis vestibularis” und „Neuropathia
vestibularis” sind in der klinischen Praxis gebräuchliche Bezeichnungen für ein und
dieselbe, jedoch meistens ätiologisch überwiegend unklare Erkrankung.
Die Diagnose eines „Vestibularisausfalls” ist leicht zu stellen. In der Akutphase
entwickelt sich intervallartig oder plötzlich eine ausgeprägte Schwindelsymptomatik
mit vorwiegend horizontalschlagendem Spontannystagmus, eine Lateropulsion zur erkrankten
Seite verbunden mit vegetativen Symptomen (Abb. [3 ]). Der Halmagyi-Curthoys-Test eignet sich für ein Screening zur Klärung der Frage
einer einseitigen labyrinthären Funktionsstörung (Prüfung des horizontalen VOR). Der
Kopf wird mit beiden Händen des Untersuchers gehalten und dabei ein nahes Ziel fixiert.
Dann erfolgen schnelle (3000 bis 4000 °/s) horizontale Kopfbewegungen nach rechts
und links (10 bis 20 Grad). Ein ungestörter horizontaler VOR zeigt sich in schnellen
kompensatorischen, ruckartigen Augenbewegungen entgegengesetzt zur Rotationsrichtung
des Kopfes. Ein pathologischer horizontaler VOR (z. B. bei einer einseitigen Vestibularisstörung)
zeigt sich in einem Zurückbleiben der Augen zur entgegengesetzten Seite (Korrektur
der Blickrichtung durch Einstellsakkade) [33 ].
Abb. 3
a Bei einer gesunden Person ist die Richtung der Rotation beider Augen bei Kopfbewegungen
entgegengesetzt zur Richtung der Kopfbewegung. Die Rotationsachsen von Kopf und Augen
stehen zueinander parallel. Die Geschwindigkeit der Augenrotation entspricht der Geschwindigkeit
der Kopfrotation (nach [68 ]). b Im Falle eines einseitigen Vestibularisausfalls ist die Geschwindigkeit der Augenrotation
geringer als die Geschwindigkeit der Kopfbewegung. Die Rotationsachsen von Kopf und
Augen unterscheiden sich. Beides führt zu einem unscharfen, verwischten retinalen
Abbild (nach [68 ]).
Bei den neurogenen Läsionen und Labyrintherkrankungen sind verschiedene Formen beschrieben. Ein kompletter „Ausfall” des Gleichgewichtsorgans
liegt in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht vor. Vielmehr handelt es sich dabei
um eine thermische Unerregbarkeit des lateralen Bogengangs, dessen thermische Reizantwort
in der Praxis fälschlicherweise auf das gesamte Vestibularorgan extrapoliert wird.
In solchen Fällen liegt vermutlich eine Form mit einer isolierten Schädigung der Pars
superior des Nervus vestibularis vor, die den lateralen und vorderen Bogengang, den
Utriculus sowie Teile des Sacculus versorgt. Auch eine alleinige Störung der Pars
inferior des Nervus vestibularis mit selektivem Ausfall des hinteren Bogengangs [34 ] und eine kombinierte Funktionsstörung des hinteren Bogengangs und der Cochlea [15 ] werden als Formen einer labyrinthären vestibulären Funktionsstörung in der Literatur
beschrieben. Neben Störungen der Bogengangsfunktion kommen auch Funktionsstörungen
der Otolithenorgane im Rahmen eines Vestibularisausfalls vor [35 ].
Bei vertebrobasilären Gefäßprozessen können bei 60 % der Patienten isolierte Schwindelbeschwerden als Prodromalzeichen
auftreten [36 ]
[37 ]
[38 ]
[39 ]
[40 ]
[41 ]. Gerade bei älteren Patienten mit episodischem Schwindel muss bei einem scheinbar
klassischen Vestibularisausfall an vertebrobasiläre Gefäßprozesse als Ursache gedacht
werden. Therapie der Wahl bei intrakraniellen Gefäßverschlüssen im vertebrobasilären
Kreislauf ist die Antikoagulation. Stenosen der Abgänge der Arteria vertebralis können
operativ saniert werden. Eine weitere Möglichkeit zur Behandlung extra- und intrakranieller
Stenosen der großen vertebrobasilären Gefäße stellt die perkutane transluminale Angioplastie
dar [39 ].
Eine weitere bekannte Ursache für einen Vestibularisausfall ist das stumpfe Schädeltrauma mit Beteiligung des Innenohres (Contusio labyrinthi). Einblutungen oder Mikrofissuren des Labyrinths sind die Folge.
In der Akutphase empfiehlt sich eine Cortisontherapie (150 mg über 3 Tage und dann
abfallend oral) [42 ]. Isolierte Blutungen im Labyrinthbereich können nicht nur im Rahmen eines Traumas
sondern auch spontan auftreten. Im Kernspintomogramm in den T1 -gewichteten Sequenzen zeigt sich dann ein Signalenhancement des Labyrinths vor Kontrastmittelgabe
[43 ]
[44 ]. Scherer und Helling vermuten als Substrat für einen Vestibularisausfall eine spontane Lösung der Cupula von der Ampullenwand . Da Unterschiede im Aufbau der Cupulae der drei Bogengänge nachgewiesen sind, wäre
das auch eine Erklärung für unterschiedliche Verläufe. Tierexperimentell konnte das
Bild eines Vestibularisausfalls durch eine Lösung der Cupula des lateralen Bogengangs
bei der Taube erzeugt werden [45 ]
[46 ]
[47 ].
Weiterhin gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es sich beim so genannten Vestibularisausfall
um eine viral verursachte Erkrankung handelt (dann wäre der Terminus „Neuritis vestibularis” gerechtfertigt). Vor allem
Herpes simplex Viren Typ 1 (HSV 1), die sich latent im Ganglion des Nervus vestibularis
aber auch im Labyrinth aufhalten sollen, wird im Rahmen einer Reaktivierung eine Rolle
zuerkannt [15 ]
[48 ]
[49 ]. Auch eine Kontrastmittelanreicherung im Bereich des inneren Gehörgangs, die als
Zeichen einer vermutlich viral induzierten Entzündung im Ganglion vestibulare (Ganglionitis,
Neuritis) interpretiert werden kann, ist beschrieben [50 ]. In anderen Studien wiederum konnte ein entzündungsbedingtes Enhancement nicht bestätigt
werden [51 ]. Auch die Ergebnisse serologischer Untersuchungen sind weder eindeutig noch einheitlich
[52 ]
[53 ]. Hinweise für einen Zusammenhang mit dem Varicella zoster Virus (VZV) gibt es bei
Rezidiven eines Vestibularisausfalls [53 ].
Neben Mikrozirkulationsstörungen und Virusinfektionen des Labyrinths werden auch Autoimmunerkrankungen als Ursache diskutiert [42 ].
Bei einer akuten einseitigen Vestibularisstörung findet in vielen Fällen eine Wiederkehr
der thermischen Erregbarkeit statt. Die aus dem Schrifttum bekannt gewordenen Prozentsätze
sind unterschiedlich. Haid und Mirsberger fanden bei 57 % (n = 47) eine Rückkehr der
thermischen Erregbarkeit des Labyrinths [54 ]. 75 % bis 81 % (n = 252) der Patienten zeigten bei Anwendung unterschiedlicher Therapiemethoden
eine Erholung der thermischen Erregbarkeit nach vollständigem initialen Ausfall [55 ]. Herzog u. Mitarb. beobachteten bei 46 % (n = 79) eine Normalisierung der vestibulären
Funktion nach akuter labyrinthärer Funktionsstörung bis zu vier Monate nach dem Akutereignis
[56 ].
3.2 Medikamentöse Therapie
In der Akutphase eines akuten Vestibularisausfalls sind eine Elektrolytsubstitution
und die Therapie mit Antiemetika, Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat i. v. oder
als Suppositorium für höchstens drei Tage) und Glukokortikoide (100 mg Methylprednisolon
in abfallender Dosierung über ein bis zwei Wochen) unabhängig von den oben geschilderten
Ursachen indiziert [15 ]. Wir führen in der Akutphase zudem eine Behandlung mit durchblutungsfördernden Medikamenten
durch [42 ]. Diese Therapie wird zum Teil von anderen Autoren als unwirksam angesehen [15 ].
Virostatika in Kombination mit Glukokortikoiden stellen einen kausalen Behandlungsansatz
dar, wenn es sich um eine viral verursachte Erkrankung handelt. Die für die Behandlung
infrage kommenden und auf dem Markt verfügbaren antiviralen, virostatisch wirksamen
Medikamente sind nur effektiv, wenn das Virus im Rahmen einer Reaktivierung und Vermehrung
den extrazellulären Raum erreicht hat. Im Ergebnis einer aktuellen Studie zeigte sich,
dass Methylprednisolon die Erholung der vestibulären Funktion beim Vestibularisausfall
signifikant verbesserte, nicht jedoch die Verabreichung eines antiviralen Medikamentes
(Valaciclovir) [57 ]. Lokale Medikamentenapplikationen (z. B. Ganciclovir) über ein spezielles Paukenröhrchen
(MicroWick®) werden als mögliche zukünftige Therapieansätze bei eindeutig als viral
identifizierten einseitigen Vestibularisstörungen im Schrifttum diskutiert [58 ].
Die Verabreichung einer fixen Kombination von Cinnarizin (20 mg) und Dimenhydrinat
(40 mg) hat bereits nach einer Woche zu einer besseren Reduktion von akuten vestibulären
Schwindelbeschwerden geführt als die Monotherapie mit diesen Medikamenten [59 ]. Cinnarizin und Dimenhydrinat aber auch Betahistin beeinträchtigen einer neueren
Studie zufolge die Vigilanz nur geringfügig [60 ]. Eine signifikante Verbesserung von akuten Schwindelbeschwerden konnte in einer
randomisierten Doppelblindstudie auch mit einem homöopathischen Arzneimittel erzielt
werden [61 ].
3.3 Vestibuläre Kompensation
Bei allen Labyrinthschädigungen erfolgen vestibuläre Kompensationsmechanismen, wenn
das Zentralnervensystem zu einer entsprechenden Funktion in der Lage ist. Bei der
vestibulären Kompensation handelt sich um einen zeit- und altersabhängigen plastischen
neuronalen, zentralen Prozess, an dem mehrere Sinnesmodalitäten beteiligt sind. Eine
Beeinflussung durch eine Veränderung der Empfindlichkeit der primären vestibulären
Sinneszellen im Innenohr über die nach ipsi- und kontralateral verlaufenden efferenten
Fasern des Nervus vestibularis soll dabei eine wesentliche Rolle spielen [14 ]. Der Prozess der vestibulären Kompensation wird durch ein spezielles vestibuläres
Training gefördert, was in tierexperimentellen Studien belegt werden konnte, so dass ein gestörtes
Tonusgleichgewicht bei einer einseitigen Läsion des Gleichgewichtsorganes wiederhergestellt
werden kann [14 ]
[15 ]
[62 ]
[63 ].
Gramowski hat bereits 1964 auf die Bedeutung der Habituation für die Rehabilitation
von Vestibularisstörungen hingewiesen. Er sah im Phänomen der Habituation eine Veränderung
des Regelbereiches auf eine andere Empfindlichkeitsstufe. Eine wiederholte Reizung
in kurzen Intervallen führt in einem „zentralen Vorgang”, der eine Reduzierung der
Reizantwort zur Folge hat, zu einer Reaktionsabnahme (Habituation). Reaktionsabnahme
bedeutet bei Patienten mit einseitiger vestibulärer Läsion eine Leistungssteigerung
im Hinblick auf Anforderungen an das Gleichgewichtssystem [64 ].
Die in Phasen ablaufende vestibuläre Kompensation erstreckt sich bei bleibendem Verlust
der thermischen Erregbarkeit des lateralen Bogengangs über mehrere Wochen. Um die
zentralen vestibulären Kompensationsvorgänge zu trainieren, ist das allmähliche, systematische,
individuelle Aufsuchen von Situationen, die schließlich das gesamte vestibuläre System
einbeziehen (Konfliktsuche), die wirkungsvollste physikalische Therapiemethode [65 ]. Früh nach Labyrinthfunktionsstörung sind Antivertiginosa kontraindiziert, da sie
den vestibulären Kompensationsvorgang verzögern [15 ]
[66 ]. Curthoys und Halmagyi haben diesen Zeitabschnitt auch sehr treffend als „kritische
Phase” bezeichnet [67 ]
[68 ]. Anschließend können aktive Kopfbewegungen zur Förderung der vestibulären Kompensation
durchgeführt werden. In einer weiteren Phase erfolgt zusätzlich die Aktivierung vestibulospinaler
und vestibulozerebellärer Verbindungen, indem Ziel- und Haltemotorik trainiert werden.
Ziel dieser speziellen physikalischen Therapie ist eine Beschleunigung der Neueinstellung
des vestibulookulären Reflexes. Die Neuorganisation des vestibulookulären Reflexes
wird nur aufgrund der Plastizität des Zentralnervensystems möglich [69 ].
In Anlehnung an Cawthorne, Cooksey und Sterkers hat Hamann in den 1980er-Jahren ein
Trainingsprogramm entwickelt, mit dem Schwindelbeschwerden in etwa 90 % der Fälle
gebessert werden können. In der Literatur findet sich eine Vielzahl weiterer komplexer
physikalischer Trainingsprogramme [70 ]
[71 ]
[72 ]
[73 ]
[74 ]
[75 ]
[76 ].
Die vestibuläre Kompensation bei Patienten ohne thermisch nachweisbare Erholung der
Labyrinthfunktion erfolgt bei Anwendung von Trainingsprogrammen mit allmählicher Steigerung
der Anforderungen an das Körpergleichgewicht signifikant schneller als ohne diese
[77 ]
[78 ].
Ein positiver Einfluss von Glukokortikoiden auf die Kompensation konnte im Tierexperiment
nachgewiesen werden [79 ]. Glukokortikoide fördern nach bisherigen Erkenntnissen wahrscheinlich auch die Kompensation
nach einseitiger Labyrinthläsion beim Menschen [15 ]
[57 ]. Auch Koffein und Amphetamine sollen ihn fördern [66 ]
[78 ]. Tierexperimentell ist eine negative Einwirkung von Alkohol, Diazepam und Phenobarbital
gesichert [15 ].
Scherer unterscheidet fünf Kompensationsstadien nach akuter einseitiger vestibulärer
Läsion [14 ]. Der Prozess der Kompensation kann sehr schnell erfolgen und schon nach mehreren
Wochen abgeschlossen sein, unter Umständen jedoch auch Monate bis Jahre in Anspruch
nehmen und auf der Stufe einer inkompletten Kompensation (Teilkompensation) verharren.
Die Ursachen für eine inkomplette Kompensation im erwarteten Zeitumfang sind bisher
nicht vollständig geklärt. So ist bei Patienten mit kombinierten Erkrankungen des
Gleichgewichtssystems, beispielsweise simultanen labyrinthären, zentralnervösen und
okulären Funktionsstörungen aber auch unter dem Einfluss von Alkohol, eine verzögerte
und unvollständige Kompensation zu beobachten [80 ]
[81 ]. Auch die Halswirbelsäule muss als „Störfaktor” in Betracht gezogen werden. Einflüsse
dieser Art werden in einem weiteren Referat dieses Bandes behandelt. Beim Vorliegen
einer unvollständigen Kompensation und dem Verdacht auf multitope Störungen muss eine
interdisziplinäre Schwindeldiagnostik erfolgen, um Reserven für weitere Therapieformen
zu ergründen. Sonst ist gegebenenfalls über die von Stoll entwickelten Kriterien zur
Begutachtung eine weitere Rehabilitation, z. B. eine berufliche Umorientierung, erforderlich
[82 ]
[83 ]
[84 ]. Für die Abschätzung der vestibulären Kompensationsleistung, z. B. nach unilateralen
Vestibularisstörungen gibt es eine Reihe diagnostischer Möglichkeiten. Wir benutzen
die frequenzselektive Drehpendelprüfung mit Frequenzen von 0,01 bis 0,16 Hz [85 ]. Diese ermöglicht eine Objektivierung von Beeinträchtigungen des vestibulookulären
Reflexes, da der Test eine starke Ähnlichkeit zu täglichen Bewegungsmustern aufweist
[86 ]. Posturographische und stabilometrische Verfahren werden hierfür ebenfalls empfohlen.
4 Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
4 Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
4.1 Ursachen
Otolithen bestehen aus Kalziumkarbonatkristallen, die in eine Proteinmatrix eingebettet
sind. Sie haben eine charakteristische Form und Größe. Die Faktoren, welche diesen
Partikeln ihre Form geben und ihre Größe kontrollieren, waren bisher nicht bekannt.
Kürzlich konnte ein neues Gen im Zebrafisch entdeckt und charakterisiert werden, das
für die Bildung der Otolithen bei Fischen nötig ist. Das Genprodukt Starmaker wurde
als Bestandteil der organischen Proteinmatrix der Otolithen identifiziert. Es konnte
nachgewiesen werden, dass Gestaltveränderungen der Otolithen durch das schrittweise
Herunterregulieren der Aktivität des Starmaker-Gens zustande kommen. Diese morphologischen
Veränderungen der Otolithen (von der Kugel- zur Sternform) werden durch eine Veränderung
der Gitterstruktur der Otolithen hervorgerufen. Eine Verringerung der Starmaker-Konzentration
führte auch zu einem verstärkt unkontrollierten Wachstum von Kalziumkarbonatkristallen
[87 ].
Anderen tierexperimentellen Studien zufolge sollen Wachstum und Anzahl der Otokonien
etwa zur Geburt abgeschlossen sein. Danach werden offenbar keine neuen Otolithen gebildet
[88 ]. Im Laufe der Zeit, vor allem im mittleren und höheren Alter, soll deren Zahl insbesondere
im Sacculus abnehmen [89 ]. Die vestibulären dunklen Zellen, die auch für die Endolymphproduktion verantwortlich
sind, können offenbar frei werdende Kalziumionen aufnehmen. Daher wird vermutet, dass
diese in die Resorption degenerierter Otolithen eingebunden sind [90 ]. Der Nachweis eines Kalziumturnover lässt einen dynamischen Prozess vermuten, der
für die Regeneration der Otolithen jedoch auch deren Degeneration eine Rolle spielen
könnte. Die Fähigkeit der Otolithen zur Aufnahme von Kalziumionen nimmt mit zunehmendem
Alter ab [91 ]
[92 ]. Eine Spontanheilung beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel ist wohl häufiger
als vermutet, was wir aufgrund eigener Beobachtungen bestätigen können [93 ]. Etwa ein Drittel aller Personen über 70 Jahre haben eine solche Symptomatik einmal
oder mehrfach erlebt [15 ]. Die Fähigkeit der Endolymphe, degenerierte Otokonien auflösen zu können, ist möglicherweise
als Erklärung geeignet [94 ]. Gegenwärtig kann man pharmakologisch noch nicht in diese unvollständig aufgeklärten
Stoffwechselprozesse der Otolithen eingreifen.
Lindsay und Hemenway berichten über mehrere Patienten, bei denen die Symptomatik eines
gutartigen Lagerungsschwindels meistens auf der Seite der primären Läsion in einem
unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang von mehreren Tagen bis mehreren Monaten nach
einem akuten isolierten Vestibularisausfall aufgetreten ist. Die Erkrankung wird heutzutage
auch als Lindsay-Hemenway-Syndrom bezeichnet [95 ]
[96 ]. Wir beobachten die spontan reversible und daher meist nicht behandlungsbedürftige
Symptomatik eines gutartigen Lagerungsschwindels manchmal etwa zehn Tage nach dem
Akutereignis eines akuten Vestibularisausfalls. Ob es sich dabei um eine entzündlich,
gar viral verursachte Symptomatik handelt, bleibt bisher ungeklärt.
Die intraoperative Beobachtung von Partikeln im hinteren Bogengang („free-floting
particles”) gelang Parnes und McClure sowie Welling während Okklusionsoperationen
des hinteren Bogengangs („canal plugging”), was die bis dahin existierenden Vorstellungen
über die Pathogenese des Krankheitsbildes erweiterte und bestätigte [97 ]
[98 ]. Eine kernspintomographische Visualisierung im Endolymphschlauch oder auf der Cupula
während einer Schwindelattacke gelang jedoch bisher noch nicht.
4.2 Symptomatik und Varianten
Pathophysiologische Grundlage der Erkrankung ist das dystope Vorkommen von Otolithen
in einem oder mehreren Bogengängen. Die Otolithenpartikel können durch Anpralltraumen
des Kopfes, eine Degeneration oder auch im Rahmen von Innenohrerkrankungen in die
Bogengänge gelangen. Patienten mit einem gutartigen Lagerungsschwindel erleben die
Schwindelattacken häufig in der Nacht beim Drehen und Umlagern im Bett, nach schnellem
Hinlegen oder Aufstehen mit Kopfbewegungen [99 ]. Sie berichten über einen ausgeprägten, „bedrohlichen” Drehschwindel, mit an- und
abschwellendem Charakter, der in der Regel nicht länger als eine Minute anhält.
Es werden mehrere Varianten des gutartigen Lagerungsschwindels unterschieden, je nachdem,
welcher Bogengang frei flottierende Otolithenfragmente auf welcher Seite enthält.
Am weitaus häufigsten ist in der klinischen Praxis die isolierte Beteiligung des hinteren
Bogengangs anzutreffen (ca. 90 %), da dieser mit seinem kaudalen Schenkel den tiefsten
Punkt aller Bogengänge markiert. Entsprechend der Schwerkraft können die Partikel
aus dem Utriculus sehr leicht dort hineingelangen.
Seltener ist die Beteiligung des lateralen Bogengangs (5 - 10 %) [93 ]
[100 ]. Obwohl einige Autoren die Existenz eines Lagerungsschwindels des vorderen Bogengangs
als nicht überzeugend beschrieben ansehen [101 ], gibt es Fallbeschreibungen in der Literatur. In einer Untersuchung von 122 Patienten
mit einem gutartigen Lagerungsschwindel wurden bei 110 der hintere Bogengang, bei
zehn Patienten der horizontale als Ort der Otokonienablagerung und bei nur zwei Erkrankten
die Variante des vorderen Bogengangs diagnostiziert [102 ]
[103 ].
Neben einseitigen kommen aber auch beiderseitige Varianten des Lagerungsschwindels
eines Bogengangs (besonders nach Kopfanpralltraumen) vor. Auch kombinierte Formen
zweier unterschiedlicher Bogengänge (nach Behandlung, bei der Otolithen auf einer
Seite vom hinteren in den lateralen Bogengang oder umgekehrt bewegt wurden) sind in
der Praxis möglich, jedoch selten [93 ]
[104 ]. Die Diagnostik bereitet dann oft Schwierigkeiten. Man sollte jedoch daran denken.
Ist die Nystagmusreaktion nicht typisch, liegen atypische Varianten eines Lagerungsschwindels
vor, die mit dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel verwechselt werden können
[99 ]
[105 ]
[106 ]
[107 ].
4.3 Diagnostik
Zur genauen Überprüfung und Lokalisation des klassischen gutartigen Lagerungsschwindels des hinteren Bogengangs ist eine Lagerungsprüfung nach Hallpike mit Verwendung einer Frenzel-Brille (abgedunkelter
Raum) erforderlich. Bei der einseitigen Variante des hinteren Bogengangs ist typischerweise
nach einer Latenz von wenigen Sekunden ein zum unten liegenden Ohr (geotroper) bzw.
zur betroffenen Seite schlagender, torsionaler Nystagmus zu sehen, der nicht länger
als eine Minute andauert. Die begleitende Schwindelempfindung weist ein crescendo-decrescendo
auf. Die Richtung des Nystagmus kehrt sich nach dem Wiederaufrichten um (ageotroper
Nystagmus). Der Lagerungswechsel sollte sehr zügig erfolgen. Ein abruptes Abbremsen
des Kopfes erhöht die Wahrscheinlichkeit, einen Nystagmus zu sichern, aber auch die
Intensität des Schwindels. Ein falsches Hallpike-Lagerungsmanöver (fehlende oder mangelnde
Kopfdrehung vor der Lagerung) kann eine beiderseitige Variante der hinteren Bogengänge
vortäuschen [108 ]. Die Auslösbarkeit eines Lagerungsnystagmus ist bei der Variante des hinteren Bogengangs
nach wiederholter Provokation erschöpflich (Habituation) und erst nach mehreren Stunden
wieder reproduzierbar. Aus diesem Grund muss bei einer positiven Anamnese auch bei
zunächst fehlendem Nachweis eines Lagerungsnystagmus der Verdacht bestehen bleiben.
Die Ermüdung des Nystagmus kann dazu führen, dass beispielsweise bei kurz zuvor erlittenen,
mehrfachen Schwindelattacken bei der Diagnostik kein Nystagmus mehr nachweisbar ist
[99 ]. Die Diagnostik des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels muss vor allen anderen
diagnostischen Methoden der Vestibularisprüfung durchgeführt werden. Dadurch werden
Habituationseffekte vermieden [99 ]
[108 ]. Da die Beschwerden auf der betroffenen Seite meist ausgeprägter sind, lässt sich
diese nicht selten auch explorativ ermitteln. Auf der vermuteten Seite sollte dann
auch die erste Hallpike-Lagerungsprüfung durchgeführt werden [99 ].
Auch der gutartige Lagerungsschwindel bei Beteiligung des vorderen Bogengangs kann mit dem Hallpike-Lagerungsmanöver diagnostiziert werden. Es zeigt sich im Vergleich
zum hinteren Bogengang eine inverse Symptomatik. Die vertikale Komponente des Nystagmus
schlägt nicht geotrop sondern entgegengesetzt (ageotrop). Das oben liegende Ohr ist
dann betroffen.
Der seltene gutartige Lagerungsschwindel mit Beteiligung des lateralen Bogengangs weist einige Besonderheiten auf. Die Beschwerden werden durch Kopfdrehung um die
Körperlängsachse im Liegen provoziert. Er wird beim auf dem Rücken liegenden Patienten
diagnostiziert, indem eine schnelle Drehung von Kopf und Körper um die Längsachse
des Körpers (ca. 90 Grad) in Richtung der vermuteten Seite der Läsion erfolgt. Befinden
sich die Partikel im Endolymphkanal des lateralen Bogengangs (Kanalolithiasis), so
zeigt sich ein rein horizontaler Nystagmus, der in Richtung des betroffenen Ohres
schlägt. Die Intensität der Attacken ist ausgeprägter und die Latenz kürzer als bei
der Variante des hinteren Bogengangs. Zudem zeigt sich eine fehlende oder eingeschränkte
Tendenz zur Ermüdung. Besteht der Verdacht auf eine Variante des hinteren Bogengangs,
sollten diese immer vor den lateralen Bogengängen geprüft werden [93 ]
[99 ]
[100 ]
[108 ]. Befinden sich die Otokonien direkt auf der Cupula (Kupulolithiasis) und nicht frei
im Endolymphschlauch, dann präsentiert sich dem Untersucher ein ageotroper Nystagmus
auf der geprüften Seite der Läsion. Richtungsweisend ist immer die größte Intensität
des Nystagmus (und des Schwindels) auf der Seite der Schädigung. Eine rechte Kupulolithiasis
(geotroper Nystagmus) und eine linke Kanalolithiasis (ageotroper Nystagmus) im lateralen
Bogengang würden also zu einer maximalen Nystagmusintensität auf der linken Seite
führen. Offenbar handelt es sich dabei um Teilchenkonglomerate (Canalith jam). Kleine
Partikel sollen den Bogengang bereits bei Kopfbewegungen verlassen. Die größere Intensität
des Nystagmus bei dieser Form ist am ehesten auf die größere Empfindlichkeit und Verstärkung
des horizontalen vestibulookulären Reflexes zurückzuführen [108 ]
[109 ].
In der Praxis sollen neben Kanalolithiasis und Kupulolithiasis auch der so genannte
„Otolithenstau” bzw. die Blockade des Kanals oder der Cupula (canalith jam) vorkommen
(Abb. [4 ]). Diagnostik und Therapie sind von Epley detailliert beschrieben worden [110 ].
Abb. 4 Kanalolithiasis (rot und grau dargestellte Partikel), Kupulolithiasis (blaue Partikel)
und „Canalith jam” (gelbe Partikelmasse) im Bereich des hinteren Bogenganges.
4.4 Physikalische Therapie
Für alle Varianten des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels wurden physikalische
Therapieverfahren, so genannte „Manöver” entwickelt. Ziel aller Behandlungsmethoden
ist eine Rückführung der „verloren gegangenen” Teilchen aus den Bogengängen in den
Utriculus. Dabei werden Beschleunigungskräfte angewendet und die Gravitation ausgenutzt.
Ist der hintere Bogengang betroffen, kann das Semont- oder Epley-Manöver angewendet werden [111 ]
[112 ]. Beim Semont-Manöver („Befreiungsmanöver”) bedient man sich vorwiegend Beschleunigungskräften
(schnelle, abrupte passive Kopf- und Körperbewegungen) als auch der Schwerkraft („Befreiungsmanöver”).
Das Epley-Manöver ist ein „Repositionsmanöver”, bei dem die Otolithenpartikel vorwiegend
unter dem Einfluss der Schwerkraft aus den Bogengängen „ausgeschüttet” werden. Beschleunigungskräfte
werden bei dieser Methode nur bedingt angewendet. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle ist mit beiden Techniken eine schnelle und für den Patienten eindrucksvolle
Therapie möglich. Ausgeprägte vegetative Reaktionen können die Diagnostik und das
therapeutische Vorgehen in Einzelfällen erschweren und verzögern. Wir bevorzugen das
Epley-Manöver (Abb. [5 ]).
Abb. 5 Epley-Repositionsmanöver. Sequenzen der physikalischen Therapie für den linken hinteren
Bogengang (roter Pfeil).
Das Semont-Manöver wird in folgenden Schritten durchgeführt:
Schritt: Patient sitzt aufrecht vor dem Arzt auf einer Untersuchungsliege, Kopfdrehung
um ca. 45 Grad zur gesunden Seite, das betroffene (erkrankte) Ohr zeigt zum Untersucher.
Der Kopf wird vom Therapeuten gehalten.
Schritt: abrupte Seitwärtslagerung zur erkrankten Seite. Der Kopf des Patienten, der
immer noch in den Händen des Arztes liegt, sollte okzipital aufliegen, optimalerweise
über das Ende einer Untersuchungsliege (105 Grad) reichen. Nach einer Latenz tritt
ein Nystagmus (wie beim Hallpike-Lagerungstest) auf, die zum untenliegenden Ohr schlägt.
Verweildauer ca. 3 Minuten
Schritt: Zügige Seitwärtslagerung (195 Grad) zur anderen Seite. Der Nystagmus schlägt
entgegengesetzt (zum oben liegenden Ohr). Verweildauer ca. 3 Minuten.
Schritt: Schnelles Aufsetzen in die Ausgangslage, Verweildauer bis zum Abklingen von
Schwindel.
Die Erfolgsrate dieser Behandlungsmethoden ist sehr hoch. Nur wenige Patienten müssen
mehr als zweimal behandelt werden. Rezidive kommen vor. In der Praxis trifft man extrem
selten auch auf therapieresistente Fälle, bei denen dann eine chirurgische Behandlung
erfolgen kann. Kontroverse Ansichten gibt es darüber, ob ein Kopfschütteln oder Oszillationen,
die Epley in seiner Erstbeschreibung benutzte, die Erfolgsquote verbessern helfen
[113 ]
[114 ]. Der Therapieerfolg sollte nach einigen Tagen mittels Hallpike-Manöver geprüft werden.
Als Ersttherapie ist das Brandt-Daroff-Manöver ideal [115 ]. Die Autoren erzielten damit nach 14-tägiger Therapie bei über 90 % der Patienten
eine Heilung.
Für die physikalische Behandlung des gutartigen Lagerungsschwindels des vorderen Bogengangs kann das Semont- oder Epley-Manöver modifiziert angewendet werden.
Die Behandlung der Kanalo- oder Kupulolithiasis des lateralen Bogengangs kann mit unterschiedlichen Lagerungstechniken erfolgen [116 ]
[117 ]. Etwas umständlich durchzuführen ist das so genannte prolongierte Lagerungsmanöver
nach Vannucchi. Der Patient liegt dabei 12 Stunden auf dem gesunden Ohr. In mehr als
90 % konnte damit ein Behandlungserfolg verzeichnet werden. Allerdings ist in Einzelfällen
auch eine Konversion in eine Variante mit Beteiligung des hinteren Bogengangs beschrieben
[116 ]. Eine weitere Prozedur ist die von Epley erwähnte walzenartige Drehung um die Körperlängsachse
(360 Grad). Der Patient wird dabei in 90 Grad-Schritten vom beeinträchtigten Ohr „weggerollt”
[110 ]. Auch diese Methoden bedienen sich der Einwirkung der Schwerkraft („Repositionsmanöver”).
Bemerkenswert ist, dass viele Patienten nach erfolgreichem Lagerungsmanöver für mehrere
Stunden oder Tage eine Schwindelempfindung wahrnehmen, die einem Otolithenschwindel
ähnelt und von dem beim Lagerungsschwindel empfundenen deutlich unterschieden werden
kann. Eine antivertiginöse Therapie lindert die Beschwerden aus empirischer Sicht
[99 ].
Die Behandlung eines gutartigen Lagerungsschwindels mit den Repositions- und Befreiungs-
Manövern kann ausschließlich ambulant durchgeführt werden. Es handelt sich um eine
sehr effiziente neurootologische Therapieform. Nach dem Therapieerfolg ist die Veranlassung
einer weiteren Diagnostik nicht sinnvoll. Instruktionen, wie das Schlafen mit erhöhtem
Kopf nach der Behandlung beeinflussen den Behandlungserfolg nicht [118 ].
4.5 Chirurgische Therapie
Die operative Therapie des gutartigen Lagerungsschwindels ist sehr selten indiziert
und therapieresistenten Fällen vorbehalten [99 ]
[119 ]. Sie sollte erst durchgeführt werden, wenn die physiotherapeutische Rehabilitation
erfolglos war, wenn andere, seltene Formen eines gutartigen Lagerungsschwindels ausgeschlossen
worden sind und differenzialdiagnostisch keine andere Erkrankung infrage kommt. Eine
bildgebende Diagnostik ist im Vorfeld ggf. erforderlich, um zentrale Störungen (Tumoren)
auszuschließen [99 ]
[120 ]. Zu den seltenen Differenzialdiagnosen zählt z. B. auch die Vestibularisparoxysmie.
Die Neurektomie des Nervus singularis soll ein effektives chirurgisches Therapieverfahren zur selektiven Ausschaltung der
Funktion des hinteren Bogengangs darstellen [121 ]
[122 ]. Der aus dem Nervus vestibularis inferior hervorgehende Nerv kann transtympanal
am Unterrand der runden Fensternische dargestellt und durchtrennt werden [119 ]. Anatomischen Beschreibungen zufolge ist der Nervus singularis ein von der Crista
ampullaris posterior entspringender akzessorischer Nerv, der durch einen eigenen Knochenkanal
zieht und sich ein bis zwei Millimeter nach der Vereinigung des Nervus saccularis
inferior mit dem Nervus ampullaris posterior dem Nervus sacculoampullaris anschließt.
Die Nervenzellen liegen im Ganglion vestibulare inferior [24 ]
[120 ]. Eine vollständige sensorische Ausschaltung würde auch eine Durchschneidung des
Nervus ampullaris posterior erfordern. Untersuchungen an Felsenbeinpräparaten zeigten,
dass der Nervus singularis, wenn er transtympanal für eine Neurektomie aufgesucht
wird, aber nur in einem Fünftel der Fälle im Bereich des Unterrandes des runden Fensters
gut erreichbar ist [124 ]. Daher ist ein Aufbohren der runden Fensternische hin und wieder erforderlich. Das
Verfahren kann auch laserchirurgisch (Argon-Laser) durchgeführt werden, indem der
Nerv koaguliert wird [125 ]. Bis heute hat es jedoch keine weite Verbreitung erlangt. Ein entscheidender Nachteil
dieser Methode ist, dass eine Verschlechterung des Hörvermögens eintreten kann [126 ]. Daher sind dieser Methode Okklusionsoperationen vorgezogen worden. Eine Okklusion des hinteren Bogengangs kann ebenfalls sowohl konventionell
chirurgisch als auch laserchirurgisch durchgeführt werden [93 ]
[127 ]
[128 ]. Das Konzept der Okklusionsoperation des hinteren Bogengangs wurde von Parnes und
McClure entwickelt [128 ]
[129 ]
[130 ]. Danach wird der hintere Bogengang nach Durchführung einer Mastoidektomie gefenstert
und das Lumen mit Knochenmehl und Fibrinkleber verschlossen. So wird eine Obliteration
des Endolymphschlauches und eine „Fixierung” der Cupula erreicht. Strutz und Menke
haben tierexperimentell unterschiedliche Materialien für den Bogengangsverschluss
untersucht. Teflon und Titan erwiesen sich als optimal und führten zu einer starken
Induktion von Bindegewebe und Knochengewebe innerhalb des Bogengangs [131 ]. Eine temporäre, vier- bis sechswöchige Periode mit Schwindelbeschwerden soll bei
allen operierten Patienten vorkommen. Daher ist auch in diesen Fällen eine Trainingstherapie
zur Förderung der Kompensation hilfreich. Mögliche Komplikationen sind die Entwicklung
einer temporären oder permanenten Hörminderung, einer Perilymphfistel sowie einer
Labyrinthitis [127 ]
[132 ]. Die geringe Komplikationsrate und hohe Erfolgsrate dieser unseres Erachtens selten
indizierten Operationsmethode wird in anderen Studien bestätigt [132 ]. Sie ist demzufolge einer Neurektomie des Nervus singularis vorzuziehen. Auch eine
beiderseitige Okklusion der hinteren Bogengänge und ein Plugging des vorderen Bogengangs
sind im Schrifttum erwähnt [127 ]
[133 ].
Die Methode der laserchirurgischen Okklusion des hinteren Bogengangs schnitt in einer Studie beim Vergleich mit den Ergebnissen der konventionell-chirurgischen
Okklusion des hinteren Bogengangs sogar besser ab [134 ]. Das Verfahren geht auf Studien von Wilpizeski und Anthony zurück [135 ]
[136 ]. Sowohl Argon- und CO2 -Lasersysteme sind für die Koagulation des Endolymphschlauches geeignet [137 ]
[138 ]. Nach der Argon-Laserkoagulation des Endolymphschlauches ist eine Fibrosierung und
spätere Verknöcherung des Lumens des Bogengangs histologisch gesichert worden [137 ]. Auch die Makulaektomie des Utriculus (selektive Laser-Labyrinthektomie) wird in der Literatur für die Behandlung des gutartigen Lagerungsschwindels erwähnt
[138 ].
Die Erkrankung des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels kann selten auch im Kindesalter
zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr vorkommen [139 ]. Als Ursache wird auch eine Form der Migräne (ohne Kopfschmerzen) diskutiert [140 ]
[141 ]
[142 ]. Hamann beobachtete Schwindelzustände im Kindesalter, die er aber eindeutig als
benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel von migräneassoziierten Schwindelbeschwerden
abgrenzen konnte [143 ].
4.6 Fakten der evidenzbasierten Medizin
Eine Recherche in den Quellen der evidenzbasierten Medizin ergab für den gutartigen
Lagerungsschwindel wenige, jedoch interessante Fakten.
Die Diagnose „benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel” ist heutzutage eine exakt
definierte Erkrankung mit klar definierten klinischen Testmethoden und einfachen,
schnellen Behandlungsverfahren, die in einer Zeit von weniger als fünf Minuten durchführbar
sind. Die Diagnosestellung ist nur in Ausnahmefällen schwierig und anspruchsvoll.
Die Bezeichnung „gutartig” ist prinzipiell gerechtfertigt und impliziert einige wenige
Ausnahmen, die sich sekundär nach der Diagnostik ergeben (so genannter maligner paroxysmaler
Lagerungsschwindels bei zentralen Schädigungen, „pseudo-benigner paroxysmalen Lagerungsnystagmus”
bei Kleinhirnstörungen, Unterscheidung: in der Regel keine Habituation) [144 ]
[145 ]
[146 ]
[147 ]. Traumatische oder durch eine Labyrinthitis induzierte gutartige Varianten des Lagerungsschwindels
haben eine schlechtere Prognose als die, welche im Zusammenhang mit einem Morbus Menière
entstanden sind [148 ].
Nach einer Analyse aller Studien bis einschließlich Januar 2004 stellt das Epley-Manöver
nach evidenzbasierten Kriterien eine sichere Behandlungsmethode dar [149 ]. Im Zeitraum bis zu drei Monaten nach Durchführung der Therapie, führte ein Repositionsmanöver
bei Patienten, verglichen mit solchen, die nicht behandelt worden sind, zu einem signifikant
besserem Befinden [150 ]. Unbehandelte Patienten zeigen im Vergleich zu bereits behandelten eine Symptomverbesserung,
die jedoch auf der Vermeidung provokativer Körperpositionen beruhen soll. Bei vielen
der unbehandelten Patienten zeigte sich aber auch noch nach Wochen ein positives Hallpike-Manöver
[151 ].
Eine alleinige, schwindeldämpfende medikamentöse Behandlung des gutartigen Lagerungsschwindels
wird als uneffektiv eingeschätzt und ist unserers Erachtens auch kontraindiziert.
Die Selbstbehandlung (z. B. Brandt-Daroff-Manöver) wird von evidenzbasierten Quellen
empfohlen [152 ]. Fehldiagnosen und falsche Therapiestrategien sowie eine uneffektive Behandlung
des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels verursachten unnötige, hohe Kosten (entsprechend
einer Studie in den USA im Jahre 2000 über $ 2000) [153 ].
5 Morbus Menière
5 Morbus Menière
5.1 Differenzialdiagnostik und Therapieansätze
Die Auffassung, welche Erkrankung sich hinter der Bedeutung des Wortes „Morbus Menière”
verbirgt, hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend gewandelt. Die Bezeichnungen
„Morbus Menière” oder „menièriforme Erkrankung” stellten noch vor etwa 100 Jahren
eine Sammelbezeichnung für Krankheiten mit der Symptomtrias Schwindelbeschwerden-Tinnitus-Hörstörung
dar, die ätiologisch nicht eindeutig zuzuordnen waren. Im Laufe der Zeit trennte man
mehrere Differenzialdiagnosen ab, die heute klar vom Morbus Menière abgegrenzt werden
können. Auch heutzutage noch treten differenzialdiagnostische Schwierigkeiten auf,
wenn anfallsartige Schwindelbeschwerden, Hörstörungen und Ohrgeräusche simultan vorkommen.
Anfallsweise auftretende Schwindelattacken sind Leitsymptom des Morbus Menière und
stellen für den Patienten die größte Beeinträchtigung dar. Stoll beobachtete 15 Patienten
über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren und konnte anhand der Schwindelanfälle vier
Verlaufsarten herausarbeiten:
den regressiven Verlauf: Im Verlauf der Erkrankung werden Intensitäten und Häufigkeiten
der Anfälle geringer (20 %),
den wechselhaften Verlauf: Anfallshäufigkeit und Intensität wechseln in Intervallen
(13 %),
den progressiven Verlauf: monosymptomatischer Beginn, Zunahme der Anfallshäufigkeit,
danach Übergang zu schnellem oder langsamem Typ 1 (27 %) und
den pausenreichen Verlauf mit anfallsfreien Intervallen (40 %) [126 ].
Die klassische Trias war bei nur einem Fünftel der Fälle zu beobachten. Entsprechend
der unterschiedlichen Verläufe wurde auf hohe Variabilität des Krankheitsbildes hingewiesen.
Das stellt die nosologische Einheit der Erkrankung infrage. Es wurde deshalb vorgeschlagen,
den Begriff „Morbus Menière” durch die Bezeichnung „Menière-Syndrom” zu ersetzen [154 ].
Problematisch für eine Therapieentscheidung ist der phasenhafte Verlauf und die Tatsache,
dass eine prognostische Aussage über die weitere Entwicklung gerade im Frühstadium
der Erkrankung schwer gemacht werden kann [155 ]. Prinzipiell besteht bei einer einseitigen Lokalisation auch die Gefahr der späteren
Entwicklung einer bilateralen Erkrankung. Die Häufigkeit wird in der Literatur sehr
variabel zwischen 2 % und 47 % [119 ] bzw. mit 15 % bis 50 % [156 ] angegeben.
Rezidivierende Tieftonhörverluste sind nur in wenigen Fällen (3,7 %, n = 27; fünf
Jahre Nachbeobachtungszeit) erstes Zeichen eines Morbus Menière [157 ].
Immunologische Hypothesen über die Genese des Morbus Menière stellen einen Ansatz
für eine Therapie mit Glukokortikoiden dar [158 ]
[159 ]. Der Saccus endolymphaticus ist als Bestandteil des MALT-Systems zu einer immunologischen
Reaktion befähigt („Innenohrtonsille”) [159 ]
[160 ]
[161 ]. Auch vaskuläre Ursachen [162 ], eine virale Genese (Herpes simplex virus Typ 1) [163 ]
[164 ] und hereditäre Faktoren werden diskutiert [165 ].
Kürzlich konnte ein drucksensitiver kalziumabhängiger Kaliumkanal in vestibulären
Haarzellen nachgewiesen werden. Eine Änderung des hydrostatischen Drucks der Endolymphe,
wie beim endolymphatischen Hydrops, soll zu einer Erhöhung des Kaliumausstroms und
damit auch zu einer Erhöhung der Spikefrequenz des Nervus vestibularis der betroffenen
Seite führen, was auch den Reiznystagmus im akuten Anfall erklärt. Durch die Modulation
vorgeschalteter Kalziumeinwärtsströme wird die Stromdichte des drucksensitiven Kanals
beeinflusst [166 ]
[167 ]. Möglichkeiten im Sinne einer Anfallstherapie ergeben sich ggf. zukünftig mit Kalziumkanalantagonisten,
die für die Therapie von Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen zugelassen
sind (z. B. Flunarizin, Cinnarizin) [168 ].
Die Differenzialdiagnostik des Morbus Menière wird gegenwärtig durch neue radiologische
Methoden bereichert. Diese beeinflussen therapeutische Entscheidungen wesentlich [169 ]
[170 ]. So können heute seltene Störungen, wie beispielsweise eine neurovaskuläre Kompression
im Kleinhirnbrückenwinkelbereich (Vestibularisparoxysmie) diagnostiziert werden [171 ].
Richtlinie für eine Diagnosestellung und Beurteilung im Rahmen von Studienergebnissen
sollten die aktuellen Kriterien der American Academy of Otolaryngology - Head and
Neck Surgery (AAO-HNS) sein [172 ].
5.2 Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie des Morbus Menière umfasst die Therapie des Anfalls und
die Anfallsprophylaxe [173 ]
[174 ]. Eine kausale Therapie wird derzeit noch erforscht.
Die Anfallstherapie kann mit einem Antivertiginosum (z. B. Dimenhydrinat, oral oder auch als Suppositorium)
erfolgen. Falls anfallsartige Schwindelbeschwerden mit einer Aura vorliegen, besteht
die Möglichkeit einer Selbstbehandlung.
Kalziumantagonisten blockieren den spannungsabhängigen Kalziumeinwärtskanal der vestibulären
Haarzelle und verhindern damit wahrscheinlich den erhöhten Kaliumausstrom bei Repolarisation
im akuten Anfall [175 ]. In der Praxis hat sich ein Kombinationspräparat (Cinnarizin 20 mg mit Dimenhydrinat
40 mg) zur Behandlung eines Anfalls bewährt. Die fixe Kombination von Cinnarizin und
Dimenhydrinat stellt nach evidenzbasierten Kriterien eine sichere und effektive Behandlungsform
bei akuten Episoden des Morbus Menière dar [176 ].
Die Wirksamkeit des Betahistins (H1-Antihistaminikum) in der Prophylaxe weiterer Anfälle beruht auf dessen H1-Agonismus und einem H3-Antagonismus. H2-Rezeptoren gegenüber
ist es nahezu inaktiv. Die Wirkung beruht auf einer Steigerung der Mikrozirkulation
im Innenohr [177 ]. Auch Einflüsse auf zentrale vestibuläre Neuronen sind beschrieben [178 ]. Der positive Effekt von Betahistin auf die Frequenz der Schwindelanfälle und die
Intensität des Schwindels beim Morbus Menière ist belegt. Allerdings wird die Qualität
vieler Studien zu Recht kritisiert [179 ]. Von Vorteil ist die Tatsache, dass Betahistin ein geringes Nebenwirkungspotential
hat und die vestibuläre Kompensation sogar fördern soll [180 ]. Für die Dauermedikation kann Betahistin in der von den Herstellern angegebenen
Dosis (3 × 8 mg bis 3 × 16 mg) verordnet werden. Die Dosierung kann in begründeten
Einzelfällen nach unseren Erfahrungen bei unbefriedigendem Therapieerfolg erhöht werden
(Aufklärung des Patienten erforderlich, off label use, cave: Kontraindikation Asthma
bronchiale). Brandt et al. empfehlen 3 × 12 mg bis 3 × 24 mg Betahistin über einen
Zeitraum von 4 bis 12 Monaten. Beim Versagen dieser Maßnahmen kann ein Therapieversuch
mit Diuretika (Hydrochlorothiazid und Triamteren) indiziert sein [15 ]
[181 ]
[182 ]. Hydrochlorothiazid und Triamteren haben allerdings nur einen nachgewiesenen positiven
Einfluss auf das Symptom „Schwindel”, nicht aber auf die Hörminderung [181 ]. Tieftonschwerhörigkeiten mit einem erhöhten SP/AP-Quotienten sprechen nach Vollrath
besser auf eine Dehydratationstherapie (Mannitol und Acetacolamid) an, als auf eine
rheologische Behandlung. Unter Umständen ist auch nach erfolgloser vasoaktiver Therapie
mit der Dehydratation noch eine Hörschwellenverbesserung zu erreichen [183 ].
Der dehydrierende Effekt, der beim Klockhoff-Test mit Glycerol eintritt, zeigt vor
allem eine positive Auswirkung auf das Hörvermögen. Acetacolamid kann als Monopräparat
verabreicht werden (20 - 25 mg/d) [182 ]. Kortikosteroide werden mit dem Hintergrund der immunologischen Genese des Morbus
Menière angewendet. Unterschiedliche Schemata der Verabreichung in absteigender Dosierung,
meist in Kombination mit anderen Medikamenten, stehen zur Verfügung [184 ]
[185 ]. Niedermeyer et al. empfehlen im Ergebnis einer Analyse des Kortisolspiegels in
der Perilymphe die intravenöse Applikation von 250 mg Prednisolon bei Innenohrstörungen,
so auch beim Morbus Menière [186 ].
Vasoaktive Substanzen sollen zur Verbesserung der cochleären Mikrozirkulation beitragen
[182 ]. Diätetische Maßnahmen (Salzrestriktion, Meidung von Koffein) können im Einzelfall
zu einer Besserung führen.
5.3 Intratympanale Applikation von Medikamenten
5.3.1 Aminoglykosidtherapie
Schwindelbeschwerden und vor allem auch Hörstörungen wurden unmittelbar nach der Entwicklung
des Streptomycins im Jahre 1944 als sehr störende und unerwünschte Nebenwirkungen
bei der Tuberkulosebehandlung beschrieben [187 ]. Die Idee, die unerwünschten Nebenwirkungen diese Aminoglykosidtherapie therapeutisch
nutzbar zu machen, reifte nach dem objektiven Nachweis, dass dieses Antibiotikum in
der Lage ist, eine strukturelle Labyrinthfunktionsstörung zu verursachen [188 ]
[189 ]. Fowler benutzte 1948 erstmals Streptomycin , das er systemisch verabreichte, um Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen
zu behandeln [190 ]. Im Jahre 1956 verwendete es Schuknecht zur Behandlung des Morbus Menière. Er applizierte
das Antibiotikum aber nicht intravenös sondern zweimal täglich intramuskulär. Ein
Jahr später beschrieb Schuknecht dann erstmals die intratympanale Anwendung von Streptomycinsulfat
[191 ]
[192 ]. Beide, die intravenöse und die intratympanale Anwendung führten jedoch nicht zu
einer gewünschten selektiven Vestibulotoxizität. Erst das 1963 entwickelte Gentamicin erwies sich als weniger cochleotoxisch [193 ]. Auch die folgenden Aminoglykoside Amicain und Netilmicin hatten ein geringeres
ototoxisches Potenzial [194 ]. Holz et al. konnten 1966 tierexperimentell nachweisen, dass bei der Streptomycingabe
mit der simultanen Gabe von Ozothin ein Schutz der cochleären Haarzellen möglich ist
[195 ]. Lange hat zwei Jahre später über eine selektive medikamentöse Ausschaltung des
Gleichgewichtsorganes mit Streptomycin in Kombination mit Ozothin berichtet [196 ]. Die intratympanale Gabe von Gentamicin wurde 1976 erstmals von Lange publiziert,
von ihm weiterentwickelt und von mehreren Autoren modifiziert [197 ]
[198 ]
[199 ]
[200 ]
[201 ]
[202 ]. Gentamicin kann durch unterschiedliche Techniken in die Pauke appliziert werden.
Katzke (1982) verwendete ein Paukenröhrchen und drückte das Gentamicin mit einem Politzerballon langsam vom Gehörgang aus in die Pauke [203 ]. Auch die Einlage von Schläuchen in das Mittelohr und die Applikation mit Hilfe von Infusionspumpen ist beschrieben [202 ]
[204 ]
[205 ]. Die Dauer des Kontaktes des Medikamentes mit den semipermeablen Mittelohrmembranen
ist bei dieser Art der transtympanalen Verabreichung unbekannt. Daher wird auch über
den Verschluss der runden Nische mit einem Bindegewebspfropf vor Gentamicingabe berichtet [206 ]
[207 ]. Damit wird die Diffusion in die Innenohrflüssigkeiten verzögert. In letzter Zeit
ist über assistierte Mikrodosierungen mit Mikrokathetern publiziert worden, die direkt in die Rundfensternische platziert werden können [208 ]. Jede Kathetereinlage oder andere Manipulation kann aber auch zu einer Schwellung
der Mittelohrschleimhaut und zur Bildung von Granulationsgewebe im Mittelohr führen.
Vor allem der zusätzliche Eingriff einer Tympanotomie soll nachteilig sein. Damit
wird der Übertritt des Antibiotikums in das Innenohr nicht mehr berechenbar. Lange
bevorzugt daher für die Applikation die auf Tjell zurückgehende Technik einer atraumatischen
einfachen Paukenpunktion im vorderen oberen Quadranten des Trommelfells. Während der
Behandlung (in Rückenlage) wird der Kopf um 45 Grad zur gesunden Seite gedreht, umso
eine maximale Anreicherung im Bereich der Innenohrfenster zu erreichen [209 ]
[210 ]
[211 ].
Gentamicin gelangt durch Diffusion über die Membranen der Pauke in die Innenohrflüssigkeiten,
hauptsächlich über das runde Fenster. Vermutlich spielen beim Transport auch Gefäßverbindungen
zwischen Mittelohrschleimhaut und Labyrinth eine Rolle. Da Aminoglykoside sehr gut
wasserlöslich sind, reichern sie sich in den Innenohrflüssigkeiten an und verteilen
sich dort. Ein weiterer Vorteil ist, dass sie die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren
können. Ort der Schädigung sind die dunklen vestibulären Zellen, welche vermutlich
für die Endolymphproduktion verantwortlich sind [212 ]
[213 ]
[214 ]
[215 ].
Das zum Innenohrschutz verabreichte Ozothinöl wurde in der Regel ca. 30 Minuten vor
der Aminoglykosidgabe verabreicht. Zusätzlich sollen neurotrope Vitamine, vasoaktive
Substanzen und Spurenelemente (Magnesium und Zink) einem cochleären Haarzellschaden
vorbeugen. Neben Magnesium zählt auch Kalzium zu den effektiven Kompetitoren der Aminoglykoside
[194 ]
[209 ].
Akute Cochleaschäden können in Gegenwart von Kalzium in geringen Dosierungen zu Beginn
der Applikation durch elektrostatische Bindung der Aminoglykoside an die äußere Haarzelle
reversibel sein [212 ]
[213 ]
[214 ]. Bei höheren, toxischen Dosen treten irreversible Schädigungen der äußeren Haarzelle
auf. Diese beruhen auf einer selektiven hohen Bindungsaffinität des Gentamicin für
PIP2 (Phosphatidylinositbiphosphat) [216 ]. Entscheidend ist es daher, in welcher zeitlichen Abfolge die Applikation des Gentamicin
zur Rehabilitation des Anfallschwindels erfolgt. Weiterhin sind der Ort und die applizierte
Dosis von Bedeutung, um eine irreversible Cochleaschädigung durch Kumulation oder
Überdosierung des Medikaments zu vermeiden. Dabei muss auch beachtet werden, dass
das Medikament renal eliminiert wird [194 ]. Bis heute lassen sich fünf Arten der intratympanalen Verabreichung unterscheiden
[217 ]:
die mehrfache tägliche Applikation (drei Dosen täglich für 4 Tage oder mehr) [218 ],
eine wöchentliche Applikation (maximal vier Dosen wöchentlich) [219 ]
[220 ],
die niedrig dosierte Verabreichung (eine bis zwei Gaben, nur bei Anfällen erneut)
[221 ],
eine kontinuierliche, mikrokatheterassistierte Verabreichung [208 ]
[222 ]
[223 ] und
die titrierte Applikation (tägliche oder wöchentlichen Gabe bis zum Einsetzen von
Spontannystagmus bzw. Schwindelbeschwerden oder Hörstörungen) [224 ].
Magnusson et al. konnten 1991 nachweisen, dass der ototoxische Effekt um Monate verspätet
einsetzt. Sie applizierten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen und setzten die Behandlung
dann aus. Alle Patienten entwickelten Schwindelbeschwerden innerhalb von drei bis
fünf Tagen, ohne dass Hörstörungen auftraten [225 ]. Ödkvist u. Mitarb. empfehlen eine Stufentherapie. Nach zwei Dosen an zwei aufeinander
folgenden Tagen wurde vier Wochen pausiert, wenn die ototoxischen Effekte innerhalb
von zehn bis vierzehn Tagen eintraten. Eine weitere Applikation wurde erst dann und
nur bei persistierenden Schwindelbeschwerden empfohlen, auch wenn die thermische Erregbarkeit
noch vorhanden war [226 ]. Lange et al. berichteten kürzlich über eine intratympanale Intervalltherapie, bei
der unter Verwendung niedriger Gentamicindosen nicht mehr mit Hörverlusten gerechnet
werden muss (titrierte Gabe). Am ersten Tag wurden 0,3 ml Gentamicinsulfat intratympanal
appliziert. Am achten Tag wurde die Injektion wiederholt, wenn noch keine Reaktionen
(Nystagmus oder Schwindelbeschwerden) auftraten. Bei subjektiven („Heilschwindel”)
und objektiven vestibulären Symptomen (Nystagmus) ist nicht weiter behandelt worden.
Waren am 15. Tag noch keine Innenohrsymptome vorhanden (etwa ein Viertel der Patienten),
ist letztmalig behandelt und anschließend für mindestens zwei bis drei Monate bis
zu einer erneuten Therapie abgewartet worden. Nach Lange kann die Indikation beim
Morbus Menière heute großzügiger gestellt werden. Eine Behandlung in frühen Stadien
der Erkrankung ist möglich [227 ]
[228 ]. Die Autoren würden nicht zögern, nach erfolgreicher einseitiger Therapie auch die
Gegenseite zu behandeln [227 ]
[228 ]. Es stellt sich allerdings die Frage, ob mit der Induktion einer bilateralen Vestibulopathie
für den betroffenen Patienten eine Verbesserung der Lebensqualität verbunden ist.
Es ist ratsam, bei Unsicherheiten über den Intoxikationsgrad des Innenohres eine Therapiepause
einzulegen und eine entsprechende audiologische und Vestibularisdiagnostik vorzunehmen.
Die Therapie muss am Erhalt eines rehabilitationsfähigen Gehörs ausgerichtet sein
[227 ]
[228 ]. Der Verlust der thermischen Erregbarkeit ist für den Therapieerfolg nicht notwendig.
Anfallsfreiheit kann durchaus auch bei noch nachweisbarer thermischer Erregbarkeit
eintreten [227 ]
[228 ]
[229 ]
[230 ]
[231 ].
Beim Vorliegen eines beiderseitigen Morbus Menière befürworten Jahnke und Arweiler
die intravenöse Gabe dann, wenn episodische Schwindelbeschwerden mit einem pancochleären
Hörverlust von mehr als 40 - 50 dB einhergeht, eine konservative Therapie nicht effektiv
ist und eine Saccotomie nicht mehr in Betracht kommt. Eine weitere Indikation kann
mit Einschränkungen bei einseitiger Erkrankung des letzthörenden Ohres indiziert sein.
Die verwendete tägliche intravenöse Dosis betrug 2 × 120 mg Gentamicin, gelöst in
500 ml Ringer-Lösung, titriert über zwei bis drei Stunden, über einen Zeitraum von
fünf bis sechs Tagen. Die Erfolgsquote war hoch. Fünf von sechs Patienten (Nachbeobachtungzeitraum
nach Therapieende ca. fünf Jahre) waren beschwerdefrei. Auch bei dieser Methode war
eine thermische Erregbarkeit nach Beendigung der Behandlung noch nachweisbar. Signifikante
Hörschäden konnten vermieden werden [206 ]
[207 ]. Auch bei thermisch nachweisbarer Restfunktion ist nach der Behandlung ein Training
zur Förderung der zentralen Kompensation erforderlich [226 ]
[227 ]
[228 ].
Die Erfolgsraten der intratympanalen Gentamicinapplikation sind hoch. Von Küppers
werden 89 % berichtet (n = 28). Bei über der Hälfte blieb eine thermisch nachweisbare
Erregbarkeit erhalten [204 ]
[205 ]. Lange et al. konnten mit der Intervalltherapie in über 95 % (n = 57) einen Therapieerfolg
erzielen [227 ]
[228 ]. In einer 2004 publizierten Metaanalyse der intratympanalen Gentamicintherapie (1978
- 2002, 27 Studien, n = 980) wurde eine durchschnittliche Erfolgsrate von 90,2 % ermittelt
[217 ]. Mit einer titrierten Gabe wurde das beste Rehabilitationsergebnis erreicht (96,3
%). Die Ergebnisse der anderen Therapiemethoden einschließlich der Prozentsätze der
Hörstörungen finden sich in Tab. [3 ].
Tab. 3 Erfolgsraten (Schwindelbeschwerden) mit unterschiedlichen Methoden der intratympanalen
Gentamicintherapie und Hörstörungen nach Therapie. Nach Chia et al. 2004 [217 ]
Art der Applikation
durchschnittliche Erfolgsrate (Schwindelbeschwerden) (%)
durchschnittliche Rate an Hörstörungen nach Behandlung (%)
mehrfach täglich
91,1
34,7
wöchentlich
89,3
13,1
niedrig dosiert
86,8
23,7
kontinuierlich
88,3
24,4
titriert
96,3
24,2
Blakley ermittelte in einer retrospektiven Analyse der intratympanalen Behandlung
des Morbus Menière eine Erfolgsrate zwischen 78 % und 100 % (13 Studien). Eine spezielle
Methode konnte im Ergebnis der Analyse nicht empfohlen werden. Sowohl über die Dosierung
als auch über die Applikationsmethodik besteht derzeit kein Konsens [230 ].
Auch andere Techniken in Kombination mit einer Aminoglykosidgabe finden im Schrifttum
Erwähnung. So führten Shea und Norris eine Fensterungsoperation des lateralen Bogengangs
(Labyrinthotomie) auf mastoidalem Wege durch und leiteten Streptomycin in die Perilymphe.
In einer Multizenterstudie konnten mit dieser Technik etwa 80 % der Patienten von
Schwindelbeschwerden geheilt werden. Bei 20 % war jedoch noch ein weiteres Verfahren
erforderlich. Immerhin 57 % verloren ihr Hörvermögen auf der behandelten Seite [200 ]
[201 ]
[232 ]
[233 ].
Wenige Untersuchungen gibt es über den Langzeitverlauf der Cristafunktion und Maculafunktion
anhand der thermischen Erregbarkeit und anderer Testmethoden nach Verabreichung von
Gentamicin. Tierexperimentelle Studien zeigten, dass eine Regeneration von vestibulären
Haarzellen bereits 24 Wochen nach Gentamicinapplikation eintreten kann [234 ]. Forge und Nevill bestätigten diese Ergebnisse anhand eigener Untersuchungen. Eine
Regeneration der cochleären Haarzellen konnte jedoch nicht gefunden werden [235 ].
De Waele et al. haben 22 Patienten mit einer intratympanalen Gentamicintherapie behandelt.
Bei etwa einem Drittel der Patienten wurde innerhalb von zwei Jahren eine Funktionswiederkehr
festgestellt. Schwindelbeschwerden traten nicht auf, wenn ein kompletter Verlust der
Bogengangsfunktion nach der Therapie verzeichnet worden ist [236 ]. Westhofen beobachtete mehrere Jahre nach einer Gentamicintherapie in mehreren Fällen
eine Wiederkehr der Otolithenfunktion [35 ]. Andere Autoren sind der Meinung, dass die Otolithenfunktion bei der Gentamicinbehandlung
vor der Cristafunktion erlischt [226 ].
Eine noch vorhandene Otolithenfunktion könnte eine Ursache für Therapieversager der
intratympanalen Therapie sein. Eine weitere mögliche Erklärung für mangelnde Erfolge
oder Misserfolge der Methode ist eine partielle oder vollständige Obstruktion der
runden Fensternische bei einem Teil der Patienten mit einem Morbus Menière [237 ]. Trotz dieser Argumente stellt die transtympanale Gentamicintherapie entsprechend
einem systematischem Review von Diamond et al. eine effektive Methode dar, um die
Symptomatik eines Morbus Menière zu beherrschen [238 ].
5.3.2 Labyrinthanästhesie
Die Labyrinthanästhesie stellt ein weiteres Therapieverfahren des Morbus Menière dar.
Sie beruht auf der Instillation von Lokalanästhetika (z. B. Lidocain, Xylocain) in
das Mittelohr [239 ]. Nach der Diffusion in das Innenohr sollen sich Lokalanästhetika in den Melanozyten
der Stria vascularis anreichern und zu einer Ausschaltung des Gleichgewichtsorganes
führen [240 ]. Das erklärt auch zeitweilige Schwindelzustände nach Eingriffen am Ohr in Lokalanästhesie
und mahnt zur Vorsicht beim Vorliegen von Trommelfelldefekten. Ristow berichtete 1968
über eine Erfolgsquote von 83,3 % (n = 12). Bei seinen Patienten wurde intratympanal
ein Gemisch von 0,7 cm3 zweiprozentiger Tetracaincain- oder 4 %iger Xylocainlösung mit Furfuryladenin (Kinetin)
instilliert. In 33 % der Fälle ist eine Verschlechterung oder wesentliche Verschlechterung
des Hörvermögens zwei Jahre nach der Behandlung registriert worden [241 ]. Fradis et al. konnten in ihrer Studie bei 82 % eine schnelle Besserung des anfallsartigen
Schwindels feststellen [242 ].
Im Jahre 2003 publizierten Adunka et al. eine retrospektive Analyse über Patienten
(n = 24) mit unilateraler Menière-Erkrankung, die mit 4 % Lidocain und Kinetin behandelt
worden sind. Bei 87,5 % der Patienten konnte eine Besserung der Schwindelsymptomatik
erreicht werden. 66 % waren frei von Attackenschwindel [243 ]. Auch Sakata u. Mitarb. empfahlen die Labyrinthanästhesie mit Lidocain aufgrund
der positiven Auswirkungen auf Schwindelbeschwerden [244 ].
5.3.3 Glukokortikoidtherapie
Der Entwicklung lokal wirksamer Medikamentenapplikationen gehört möglicherweise die
Zukunft bei der Behandlung des Morbus Menière aber auch anderer Erkrankungen des Labyrinths.
Hohe Erwartungen werden gegenwärtig in Glukokortikoide gesetzt. Eine exakte Dosierung
bereitet derzeit jedoch noch Probleme und ist Gegenstand intensiver Bemühungen [245 ]
[246 ]. Für die Applikation stehen spezielle Paukenröhrchen (MikroWick®) [247 ] oder auch Mikrokatheter (RWµCath®) zur Verfügung [208 ]
[222 ]
[223 ]
[248 ]
[249 ]. Ein Katheter kann in Lokalanästhesie im Rahmen einer Tympanotomie unter mikroskopischer
Sicht in die Region der Nische des runden Fensters platziert werden (cave: Kettenluxtion).
Mit einem Mikroendoskop lässt sich die runde Nische gut darstellen und die Beschaffenheit
der Membran beurteilen. Des Weiteren wird in der Literatur beschrieben, dass die transtympanale
Endoskopie eine korrekte Platzierung von Medikamentensystemen gestattet [250 ]. Mit Hilfe einer externen Pumpe kann eine exakte Dosierung vorgenommen werden.
Die Rundfenstermembran ist für unterschiedliche Substanzen durchlässig: Antibiotika,
Toxin, Albumin, Sauerstoff oder Glukokortikoide [251 ]. Die Glukokortikoide Dexamethason, Methylprednisolon und Hydrocortison entfalten
ihre Wirkung wahrscheinlich über im Innenohr nachgewiesene Rezeptoren [252 ]. Die Wirksamkeit von Glukokortikoiden bei einzelnen Schwindelerkrankungen („Neuritis
vestibularis”, Morbus Menière) ist belegt [57 ]
[253 ]
[254 ]
[255 ]. Für eine optimale Wirkstoffkonzentration in den Innenohrflüssigkeiten sind jedoch
hohe Dosen erforderlich, die nur über eine transtympanale Applikation erreicht werden
können [246 ]. Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass die lokale Verabreichung
hoher Glukokortikoiddosen über das runde Fenster tatsächlich zu einer hohen Konzentration
in der Perilymphe führt [256 ]. Bachmann konnte nach einer einmaligen Applikation ein Anfluten über drei Stunden
bis zu einer Konzentration von 1 g/l Perilymphe mit einer Wirkdauer von ca. 16 h nachweisen
[246 ]. Dodson et al. erreichten bei 54,2 % ihrer Patienten mit Morbus Menière mit intratympanal
appliziertem Methylprednisolon und Dexamethason in kurzer Zeit eine Besserung des
Schwindels [257 ]. Auch Barss et al. berichten über die erfolgreiche Anwendung von Dexamethason (4
mg/ml über vier Wochen) [258 ]. Plontke und Salt simulierten die Kortikoidsteroid-Pharmakokinetik und konnten nachweisen,
dass die im Innenohr nachweisbaren Medikamentenspiegel durch eine definierte Kontaktzeit
im Mittelohr kontrolliert werden könnten. Bereits geringe Unterschiede der virtuell
verabreichten Dosen verursachten große Differenzen der nachweisbaren Medikamentenspiegel
im Innenohr [259 ]. Unterschiede im anatomischen Bau der Mittelohrfenster spielen eine entscheidende
Rolle. So sollen Variationen im Aufbau der runden Nische bei etwa einem Drittel der
Patienten vorkommen [260 ].
5.3.4 „Osmotische Induktion”
Arslan forderte 1971 eine therapeutische Methode, die einfach durchführbar ist und
bei der größere operative Risiken vermieden werden. Die Wahl der Therapie sollte sich
nach dem Hörvermögen richten. Er berichtete über 95 Fälle, bei denen er die Nische
des runden Fensters nach einer Tympanotomie mit Natriumchloridkristallen auffüllte.
Er vermutete, dass dadurch ein osmotisches Ungleichgewicht zwischen Endo- und Perilymphe
induziert werden würde, was sich gleichsam auf den endolymphatischen Hydrops auswirke.
Wenige Sekunden nach der Applikation konnte ein Nystagmus in das behandelte Ohr festgestellt
werden. Nach 12 - 16 Stunden kehrte sich der Nystagmus um. Ein bis zwei Tage nach
der Operation waren keine Schwindelsensationen mehr vorhanden. Bei über 90 % der Patienten
konnte so eine Besserung der Schwindelsymptomatik erzielt werden [261 ]. Obwohl offenbar effektiv, ist die Methode heute nicht mehr in der klinischen Routine
gebräuchlich.
5.4 Beeinflussung von Mittelohrdruck, -mechanik und Hydrodynamik des Innenohres
Änderungen des Luftdruckes wirken sich unter normalen atmosphärischen Bedingungen
nicht auf das Innenohr aus, da die Ossikelgelenke einen Schutzmechanismus darstellen.
Handelt es sich aber um Entzündungen oder arthrotische Veränderungen der Ossikelgelenke,
kann ein behinderter Gleitmechanismus die Folge sein, so dass ein Schutzmechanismus
nicht mehr in vollem Umfang wirksam ist [262 ]. Im Experiment konnten unter solchen Bedingungen unphysiologische, verstärkte Bewegungen
der Steigbügelfußplatte induziert werden. Bei Änderungen des Umgebungsluftdruckes
waren an einem artefiziell versteiften Hammer-Amboss-Gelenk Änderungen der physiologischen,
normalen Ein- und Auswärtsbewegungen des Stapes (5 - 30 µm) auf ein Mehrfaches (100
µm) möglich [262 ]. Bei Patienten mit einer Pistonprothese nach Stapesplastik konnten tympanometrisch
Nystagmen registriert werden. Bei Erkrankten mit einem einseitigen Morbus Menière
waren bei schnellen Druckschwankungen (Wechseldrucke) signifikante vestibulospinale
Änderungen nachweisbar. So führen Veränderungen der Mittelohrmechanik auch druckabhängig
zu Schwindelbeschwerden [262 ]
[263 ]
[264 ]
[265 ].
Paukenröhrchen haben hinsichtlich ihrer Belüftungsfunktion eine Auswirkung auf den Mittelohrdruck.
In einer Reihe von Studien wird beschrieben, dass sich das Symptom „Schwindel” beim
Morbus Menière nach Einlage einer Paukendrainage gebessert hat [266 ]
[267 ]
[268 ]. Über Erfolgsraten bis zu 82 % wird berichtet [269 ]
[270 ]. Eine Tubenfunktionsstörung soll allerdings auch bei ca. einem Drittel aller Patienten
mit Morbus Menière vorkommen [271 ].
Die Tenotomie der Sehne des Musculus tensor tympani und des Musculus stapedius hatte sowohl einen
positiven Einfluss auf das Hörvermögen als auch auf die Schwindelattacken bei Patienten
mit einem Morbus Menière (n = 45). Bei vielen Patienten war intraoperativ eine Entzündungsreaktion
der Pauke zu beobachten [272 ].
Variierende Veränderungen des Luftdruckes (Wechseldruckapplikation) haben eine positive Auswirkung auf die Hydrodynamik des Labyrinths bei Patienten
mit einem endolymphatischen Hydrops. Schwindelsymptome aber auch Hörstörungen im Rahmen
der Erkrankung konnten durch kontrollierte Luftdruckveränderungen gebessert werden.
In Schweden wurde kürzlich eine Methode entwickelt, bei der Druckpulse mit maximal
12 cm Wassersäule in Kombination mit einem zuvor applizierten Paukenröhrchen im äußeren
Gehörgang appliziert wurden. Es wurde nachgewiesen, dass die Therapie zu einer deutlichen
Verminderung von Schwindelbeschwerden führt [273 ]
[274 ]
[275 ]
[276 ]
[277 ]
[278 ]
[279 ].
Auch die Behandlung von Patienten mit Morbus Menière in einer Unterdruckkammer zeigte, dass die Schwindelbeschwerden druckabhängig beeinflusst werden konnten. Sie
besserten sich in ca. 30 % der Fälle [279 ].
5.5 Chirurgische Therapie
5.5.1 Funktionserhaltende Labyrinthchirurgie
5.5.1.1 Saccotomie
Die operative Therapie des Morbus Menière umfasst funktionserhaltende und destruierende
Eingriffe. Die Saccotomie gehört zu den funktionserhaltenden Verfahren der operativen
Behandlung des Morbus Menière. In der erstmals von Gruber 1895 postulierten Hydropstheorie
des Morbus Menière wird davon ausgegangen, dass Abflussstörungen der Endolymphe in
den Saccus endolymphaticus zu einer Endolymphüberproduktion führen [281 ]. Zuvor sprach man auch vom „Glaukom des Innenohres” [282 ]. Portmann nahm an, dass der Saccus endolymphaticus in die Druckregulation der Endolymphe
eingebunden ist. Nach erfolgreichen tierexperimentellen Untersuchungen Anfang der
1920er-Jahre führte er wenige Jahre später die erste Saccotomie erfolgreich beim Menschen
durch [283 ]
[284 ]
[285 ]. Ziel dieser Methode ist eine endolymphatische Dekompression. Diese gelingt entweder
durch eine Dekompression ohne Inzision, durch die Ableitung der Endolymphe nach mastoidal
oder die Eröffnung des Saccus nach subarachnoidal (Einlage von Shuntventilen). Des
Weiteren soll nach der Eröffnung und Einlage eines Silikonstreifens eine größere Resorptionsfläche
geschaffen werden (Bildung eines Neosaccus) [286 ]
[287 ]
[288 ]
[289 ] (Abb. [6 ]). House und hierzulande Plester haben die Saccotomie und Saccusdekompression modifiziert
und ihr zum praktischen Durchbruch verholfen [290 ]
[291 ].
Abb. 6 Einlage einer Silikonfolie in den Saccus endolymphaticus (gelber Pfeil) im Rahmen
einer Saccotomie. Intraoperativer Situs.
Auf transmastoidalem Wege gelangt man zum Saccus, indem man die Kontur des lateralen
Bogengangs, den Sinus sigmoideus und den hinteren Bogengang identifiziert und darstellt.
Der Saccus endolymphaticus findet sich medial und dorsal des hinteren Bogengangs als
Duraduplikatur der hinteren Schädelgrube. Vor der Inzision des Endolymphsackes sind
die Gabe eines Antibiotikums und eine einmalige Kortikosteroidapplikation empfehlenswert
[292 ].
Bei den Diskussionen um das Für und Wider unterschiedlicher chirurgischer Methoden
zur Behandlung des Morbus Menière ist in den 1980er-Jahren ein heftiger und zum Teil
emotional geführter Streit um diese Methode entbrannt. In der initialen Analyse, einer
plazebokontrollierten Doppelblindstudie, wurde eine Patientengruppe untersucht, von
denen sich je 15 einer Saccotomie sowie einer Mastoidektomie unterzogen. Etwa 70 %
der Patienten in beiden Gruppen gaben hinsichtlich des Schwindels eine Besserung an.
Der Operationserfolg wurde als unspezifisch gewertet und von den Verfassern als „Plazeboeffekt”
bezeichnet. Als Methode der Wahl für die operative Therapie beim Morbus Menière wurde
die Neurektomie des Nervus vestibularis vorgeschlagen [293 ]
[294 ]
[295 ]
[296 ]. Heftige Diskussionen reichen bis in die heutige Zeit [297 ]
[298 ]
[299 ]
[300 ]. Brandt et al. schätzen derzeit ein, dass für eine operative Therapie gegenwärtig
nur noch eins bis drei Prozent der Patienten in Betracht kommen würden [15 ]. Kerr et al. führten vor der Durchführung einer Neurektomie eine einfache Mastoidektomie
durch und erreichten bei nur 57 % aller Fälle Beschwerdefreiheit [301 ]. Silverstein et al. verglichen Patienten nach endolymphatischer Shuntoperation (subarachnoidale
Shuntanlage) und nach Neurektomie mit dem natürlichen Verlauf eines Morbus Menière
(n = 83). Zwei Jahre nach Saccusoperation waren 40 % und nach 8,7 Jahren 70 % beschwerdefrei.
In der Gruppe ohne Operation (n = 50) zeigten 57 % nach 2 Jahren und 71 % nach 8,3
Jahren keine Schwindelbeschwerden mehr. 4,4 Jahre nach Neurektomie waren demgegenüber
sogar 93 % beschwerdefrei. Der Langzeitverlauf der Erkrankung wird nach Meinung der
Autoren durch endolymphatische Shuntoperation nicht beeinflusst [302 ].
Fibrotische Umwandlungen im Bereich des Saccus endolymphaticus (Saccusfibrose) beim
Morbus Menière sind im Zusammenhang mit unterschiedlichen Erfolgsquoten beschrieben
[303 ]
[304 ]. Ußmüller et al. haben die Frage aufgegriffen, ob entwicklungsbedingte Anomalien
des Saccus nachzuweisen sind und 46 Felsenbeinpräparate der Hamburger Wittmaack-Sammlung
untersucht. Sie konnten feststellen, dass sich im Bereich des Saccus endolymphaticus
im Verlaufe des Lebens ein Alterungsprozess mit zunehmender Stenosierung des Lumens
auch bei ohrgesunden Personen vollzieht. Die Autoren fordern deshalb eine kritische
Indikationsstellung für die Operation nach Vollendung des fünften Dezenniums. Der
Therapieerfolg der Saccotomie ist vom Vorhandensein eines weiten, normal konfigurierten
Saccus endolymphaticus abhängig [305 ].
Eine Reevaluierung der Effektivität der Methode der Saccotomie erfolgte im Jahre 2000
von Welling und Nagaraja [306 ] anhand der seinerzeit von Bretlau und Thomsen [293 ]
[294 ]
[295 ]
[296 ] veröffentlichten Daten. Sie konnten daraufhin die Vorstellung der Plazebo-Operation
„Saccotomie” widerlegen. Auch in einer nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin
durchgeführten Analyse von 96 Saccotomien zeigte sich eine Besserung der Schwindelbeschwerden
in 68 % bis 92 % der Fälle [307 ].
Kato et al. konnten in einer retrospektiven Analyse von mittels endolymphatischer
Shuntoperation operierten Patienten mit einem Morbus Menière (n = 159), bei denen
eine medikamentöse Therapie nicht erfolgreich war, feststellen, dass sich die Lebensqualität
bei 87 % der Befragten nach Saccotomie besserte, bei 9 % schlechter war und nur bei
3 % unveränderte Beschwerden bestanden [308 ]. Huang schätzt die Methode nach seiner Erfahrung mit über 3000 Saccotomien für den
in dieser Technik geübten Mikrochirurgen als risikoarm, hocheffektiv und sicher ein
[309 ]. Die Saccotomie soll in einem frühen Stadium der Erkrankung auf längere Sicht einen
besseren Erfolg hinsichtlich des Symptoms „Schwindel” erzielen als in einem späteren
Stadium [301 ]
[311 ]. Ein intraoperatives Elektrocochleographie-Monitoring während einer Saccusdekompression
vermag die Dekompression eines Endolymphhydrops und damit den Erfolg der Operation
intraoperativ zu bestätigen [312 ]. Reserven für höhere Erfolgsraten der Methode werden unter anderem in einer Vermeidung
einer intraoperativen Traumatisierung des Saccus endolymphaticus gesehen [313 ]. Die Methode der Saccotomie hat nach Yin et al. in Bezug auf Schwindelbeschwerden
einen Langzeiteffekt (n = 6, endolymphatische Dekompression und mastoidale Shuntanlage,
Follow-up durchschnittlich 10 Jahre) [314 ].
Auch eine kombinierte Therapie mit Medikamentengaben wurde beschrieben. So ist z.
B. zusätzlich im Rahmen einer Saccotomie eine Steroidinstillation in den Saccus durchgeführt
worden [315 ]. Andere Autoren benutzten Mitomycin C und ein Antibiotikum (Cephalosporin). Die
guten Kurzzeitresultate (< 3 Jahre, n = 103) sprachen für die Methode. Rezidive konnten
nicht beobachtet werden [316 ].
Welling beschrieb 1996 ein Verfahren, bei dem der extraossäre Saccus endolymphaticus
entfernt wurde. Im Vergleich zur Mastoid-Shunt-Operation wurden keine Unterschiede
gesehen [316 ].
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nach Saccotomie kommt es durch Ausbleiben
von Anfällen zur Ausbildung einer stabilen vestibulären Kompensation. Zur Beschleunigung
und Unterstützung von Kompensationsmechanismen ist auch hier eine Trainingstherapie
indiziert [318 ].
Häufig kann es infolge einer Saccotomie zu einer Normalisierung der Labyrinthfunktion
kommen (Erhaltung der Funktion). Die Schwindelbeschwerden der Patienten allein, die
als Kriterium für eine Bewertung in anderen Studien benutzt werden, erlauben kein
hinreichendes Urteil über den Operationserfolg. Die Dokumentation der vestibulären
Funktionen, insbesondere die Prüfung der thermischen Erregbarkeit ist für die Einschätzung
des Operationserfolges hinsichtlich des Schwindels notwendig [318 ].
Schwager et al. untersuchten retrospektiv 29 Patienten nach Revisionssaccotomie. Nach
20 Monaten waren 62 % beschwerdefrei. 14 % gaben eine Besserung der Symptome an. 7
% waren nur temporär für 18 Monate schwindelfrei. 17 % gaben keine Besserung an. Die
Autoren fanden Knochenneubildungen im Bereich der Shuntoperation als eine Ursache
für das Versagen der Therapie. Sie empfehlen aber die Revisions-Saccotomie als eine
Methode der Wahl, bevor andere Therapieverfahren, wie die Neurektomie, indiziert werden
[319 ].
Bei einem bilateralen Morbus Menière kann die Saccotomie die chirurgische Methode
der ersten Wahl sein [320 ].
5.5.1.2 Cochleosacculotomie
Die Cochleosacculotomie ist auf dem amerikanischen Kontinent verbreiteter als in Europa.
Ziel dieser Methode ist die Herstellung eines persistierenden endo-perilymphatischen
Shunts zur Vermeidung eines endolymphatischen Hydrops [323 ]. Das Verfahren kann in Lokalanästhesie durchgeführt werden. Ein scharfes, rechteckig
gebogenes Häkchen (2 - 3 mm) wird dabei so in die Rundfenstermembran eingeführt, dass
die Spitze in die Mitte der Fußplatte zeigt. Der Haken wird anschließend etwas nach
rechts und nach links bewegt. Dadurch wird eine Fraktur der Lamina spiralis ossea
und des Ductus cochlearis provoziert. Danach wird die Prozedur wiederholt und das
Fenster bindegewebig verschlossen. Einige Patienten nehmen intraoperativ ein clickartiges
Geräusch wahr, wenn der Haken in das runde Fenster eingeführt wird, jedoch keine Schwindelsensationen
[321 ]
[322 ]. Die Langzeiterfolge liegen zwischen 82 % und 89 % [322 ]. Jedoch sind die Auswirkungen auf das Hörvermögen nicht unbedeutend. Schuknecht
berichtet bei 60 Patienten über eine Rate von immerhin 25 % Hörverschlechterungen
[323 ]. Viele Autoren sehen daher eine Indikation im fortgeschrittenen Alter oder bei fehlender
Narkosefähigkeit [324 ]
[325 ]
[326 ]
[327 ]. Wegen des hohen Prozentsatzes an nachfolgenden Hörminderungen ist die Methode aus
eigener Anschauung ausschließlich bei Patienten mit hochgradiger Hörstörung oder Hörverlust
indiziert.
5.5.2 Ausschaltung der Labyrinthfunktion
5.5.2.1 Neurektomie des Nervus vestibularis
Die unilaterale, selektive Durchtrennung des Nervus vestibularis (Vestibularisneurektomie)
zählt zu den destruierenden und sehr effektiven Verfahren bei der chirurgischen Behandlung
des Morbus Menière. Die Durchschneidung des Nerven kann auf unterschiedlichem Wege
erfolgen. Die Neurektomie, speziell beim Morbus Menière, geht zurück auf Dandy [328 ]. Er berichtete über Erfolgsraten von über 90 %. Dandy wählte den Zugang über die
hintere Schädelgrube [329 ]. McKenzie entwickelte die Vestibularisneurektomie über einen subokzipitalen Zugang
[330 ]. House und Fisch modifizierten die Methode weiter. Sie erreichten den Nervus vestibularis
über die mittlere Schädelgrube transtemporal [331 ]
[332 ]. Bei funktionellem Restgehör wird nach Fehlschlagen funktionserhaltender Verfahren
der erweiterte transtemporale oder subokzipitale Zugang empfohlen [277 ]
[333 ]. Besteht eine funktionelle Ertaubung, ist eine Neurektomie auch auf transmeatalem
bzw. translabyrinthärem Wege möglich [334 ]
[335 ].
Die hohe Effizienz der Methode der Neurektomie wird in mehreren Studien belegt: Molony
(95 %, n = 27), Thomsen et al. (88 %, n = 42), Hillman (95 %, n = 39) [336 ]
[337 ]
[338 ]. Damit ist die Neurektomie des Nervus vestibularis das Therapieverfahren mit der
höchsten Erfolgsrate beim Morbus Menière.
Rosenberg et al. fanden bei neurektomierten Patienten einen niedrigeren Prozentsatz
der Entwicklung eines bilateralen Morbus Menière, als bei ausschließlich medikamentös
behandelten Erkrankten (17 % versus 0 %, 6,3 Jahre Nachbeobachtung) [339 ].
Weniger als 10 % der Patienten sollen nicht von einer Neurektomie profitieren. Die
Methode hat keinen Einfluss auf den Pathomechanismus des Morbus Menière, „schützt”
also nicht vor fluktuierenden Hörstörungen infolge eines weiterhin bestehenden endolymphatischen
Hydrops („cochleäre Menière-Anfälle”). In der amerikanischen Literatur wird derzeit
diskutiert, inwieweit die Saccotomie als erster Schritt der Stufentherapie beim Morbus
Menière geeignet ist, der bei Versagen durch die Neurektomie ergänzt wird. In einer
Studie führten 36 % der Otochirurgen die endolymphatische Shuntoperation zuerst durch,
24 % hingegen wählen die Neurektomie als ersten Schritt [340 ]
[341 ]. Der postoperative Zustand nach Neurektomie entspricht dem eines einseitigen Vestibularisausfalls.
Daher müssen die dort erwähnten medikamentösen und physikalischen Therapiemethoden
bis zur optimalen vestibulären Kompensation auch nach Vestibularisneurektomie angewendet
werden. Die postoperativen Beschwerden sind bei geringer Restfunktion des Labyrinths
vor der Operation für den Patienten kaum spürbar.
5.5.2.2 Labyrinthektomie
Die Methode des Labyrinthektomie wurde von Schuknecht und Cawthorne erstmals auf transmeatalem
Wege durchgeführt. Hierbei erfolgt eine vollständige Destruktion des Labyrinths und
Entfernung des Neuroepithels der Maculae und Cristae [342 ]
[343 ]. Die Indikationen zur Labyrinthektomie bei Gleichgewichtsstörungen kann gestellt
werden, wenn das Labyrinth weitestgehend ausgefallen ist, die Lebensqualität durch
wiederkehrende oder permanente Schwindelzustände wesentlich eingeschränkt ist und
dem Patienten eine Allgemeinnarkose für eine Neurektomie des Nervus vestibularis nicht
zugemutet werden kann [344 ].
Eine inkomplette Entfernung der membranösen sensorischen Strukturen kann zu einem
Persistieren von Schwindelbeschwerden führen. Häufig lässt sich das Ergebnis einer
inkompletten Labyrinthektomie dann postoperativ nicht von einer unvollständigen vestibulären
Kompensation unterscheiden [345 ]. Silverstein hat die Labyrinthektomie mit einer transmeatalen cochleovestibulären
Neurektomie kombiniert und gute Resultate (89 %) erzielt [334 ]. Modifikationen der Labyrinthdestruktion durch eine Kombination von Operation mit
Entfernung des Neuroepithels und mit zusätzlicher Alkoholinstillation oder Elektrokoagulation
wurden aufgrund der negativen Auswirkungen auf den Nervus facialis wieder verlassen
[346 ]
[347 ]
[348 ]. Die chirurgische Labyrinthektomie, auch in Kombination mit ototoxischen Medikamenten
schaltet das Labyrinth nicht so zuverlässig aus, wie die Neurektomie [344 ].
5.6 Zusammenfassende Bemerkungen
Die vollständige Klärung der Ätiologie des Morbus Menière steht bis heute aus. Für
die Behandlung des Schwindels beim Morbus Menière sind eine Vielzahl an konservativen,
funktionserhaltenden und destruktiven operativen Therapiemethoden entwickelt worden.
Vor Beginn der Behandlung des Morbus Menière ist eine subtile Differenzialdiagnostik
erforderlich.
Die praktische Erfahrung zeigt, dass bei der Erkrankung bereits frühzeitig psychische
Folgen entstehen können. Der Morbus Menière wird heute zu oft diagnostiziert und zu
selten in seiner oft wechselseitigen Bedingtheit der organischen und seelischen Faktoren
beachtet. Die Angst vor den Schwindelbeschwerden kann so groß werden, dass sie selbst
als Unsicherheit und „Schwindel” empfunden wird. Psychogene Schwindelbeschwerden können
sich auch dann manifestieren, wenn das Gleichgewichtsorgan seine Funktion längst verloren
hat [4 ]
[6 ].
Besteht die Erkrankung mit einer hohen Anfallsfrequenz längere Zeit fort, ist eine
länger dauernde Arbeitsunfähigkeit nicht selten oder es drohen Berufsunfähigkeit oder
gar Invalidität. Ziel muss es sein, den Patienten frühzeitig, funktionserhaltend,
effektiv und möglichst ohne die potenzielle Gefahr gravierender Komplikationen (wie
eine Ertaubung) von seinen Beschwerden zu befreien. Der unregelmäßige Verlauf, die
hohe Variabilität und die Schwierigkeit der Abschätzung einer Prognose tragen dazu
bei, dass derzeit keine Methode in der Lage ist, allen Forderungen gerecht zu werden.
Wesentliche Faktoren für die Wahl der Therapie sind der Zustand des Patienten, die
Dauer der Erkrankung, die Erfolge einer konservativen (medikamentösen) Therapie, das
Hörvermögen und die Seitenlokalisation sowie der Grad der Otolithenfunktionsstörung.
Wir führen an der Aachener HNO-Universitätsklinik ein abgestuftes otomikrochirurgisches
Therapiekonzept durch. Indikationen für eine chirurgische Therapie beim Morbus Menière
sind dabei gegeben, wenn
Patienten nicht oder nicht ausreichend auf konservative Therapie (ca. 6 - 12 Monate) ansprechen,
eine Beeinträchtigung durch eine progrediente Verschlechterung der cochleären Funktion
vorliegt,
die Lebensqualität und/oder die berufliche Aktivität durch eine erhöhte Anfallsfrequenz
(< 2 pro Woche) stark beeinträchtigt sind (relative Indikation).
Die ein- oder beiderseitige Einlage eines Paukenröhrchens erfolgt bei Patienten mit nachgewiesener temporärer Störung der Otolithenfunktion,
wenn sich in der Impedanzaudiometrie reproduzierbar (zu mindestens zwei Untersuchungszeitpunkten)
eine Verschiebung der maximalen Compliance von mehr als 50 daPa oder Einschränkungen
der Tubenfunktion nachweisbar und objektivierbar sind. Sowohl bei der endo- als auch
bei der perilymphatischen Hypertension werden die Otolithenorgane aufgrund ihrer zentralen
Lage bevorzugt erreicht und in Mitleidenschaft gezogen. Dagegen sehen wir keine Operationsindikation
für eine Paukendrainage bei alleinigen Bogengangsfunktionsstörungen. Durch die Belüftung
der Pauke kann ggf. in Ergänzung weiterer Therapiemaßnahmen eine deutliche Verbesserung
der Beschwerden erzielt werden. Im Falle eines therapierefraktären endolymphatischen
Hydrops empfehlen wir eine funktionserhaltende endolymphatische Shuntoperation . Dafür ist zumindest eine Restfunktion der Makula und/oder Crista Voraussetzung.
Die Druckentlastung erfolgt nach Schlitzung des Saccus auf transmastoidalem Wege.
Die Einlage eines dünnen, keilförmigen, tannenbaumartig zugeschnittenen Silikonstreifens
in den Saccus bietet nach unserer Auffassung eine höhere Sicherheit im Vergleich zur
einfachen Saccusdekompression. Sie führt nach unseren Beobachtungen zur Bildung eines
Neosaccus. Während Saccusrevisionen fand sich eine um die Silikonfolie reichende,
extrem vergrößerte Pars lateralis des Saccus endolymphaticus.
Eine Ausschaltung der Labyrinthfunktion ist indiziert, wenn konservative Rehabilitation und funktionserhaltende Maßnahmen
nicht zu einem gewünschten Rehabilitationsergebnis führen. Die Indikation zur Neurektomie des Nervus vestibularis wird bei erhaltenem sozialen Gehör gestellt. Dabei stellt
auch eine bilaterale Erkrankung keine Kontraindikation dar. Liegt primär kein verwertbares
Hörvermögen vor, sind labyrinthdestruierende Eingriffe als operative Primärtherapie indiziert. Eine Cochleosacculotomie empfehlen wir bei normalem kontralateralem aber nicht mehr vorhandenem sozialen Hörvermögen
ipsilateral [35 ].
Ein physiotherapeutisches Training zur Förderung der Kompensation ist in Analogie zum akuten isolierten Vestibularisausfall
bei akuten einseitigen Funktionsstörungen mit Verminderung der thermischen Erregbarkeit
die Methode der Wahl beim Morbus Menière.
6 Funktionsstörungen der Otolithenorgane
6 Funktionsstörungen der Otolithenorgane
Isolierte Otolithenfunktionsstörungen oder eine Otolithenbeteiligung liegen bei etwa
50 % der Patienten mit labyrinthären Schwindelbeschwerden vor. Erkrankungen der Otolithenorgane
kommen sowohl als alleinige Ursache für Schwindelbeschwerden vor, können jedoch auch
in Kombination mit Funktionsstörungen der Cochlea und/oder der Bogengänge auftreten
[35 ]. Allein ein Viertel aller Patienten, die sich wegen Schwindelbeschwerden in unserer
Klinik vorstellen, beklagen Beschwerden, wie Liftschwindel oder ein Kippen bei bestimmten
Körperlagen oder unspezifische Beschwerden, die sich als Otolithenfunktionsstörungen
herausstellen. Maculafunktionsstörungen können heute mit Screening-Verfahren qualitativ
erfasst oder mit zeitaufwändigeren apparativen Methoden quantifiziert werden [35 ]
[366 ]. Eine noch nicht vollständig erforschte Möglichkeit der Otolithendiagnostik (Utriculus)
ist die thermische Prüfung in Pro- und Supinationslage. Die vestibulär evozierten
myogenen Potenziale (VEMP) stellen Antworten auf eine Sacculusreizung dar [369 ].
Eine spezifische operative Therapie der selektiven Ausschaltung der Otolithenorgane
befindet sich derzeit auf der Stufe tierexperimenteller Studien [349 ]
[350 ]. Für die Therapie isolierter Störungen des Otolithenapparates bietet sich die Laserchirurgie
an. Mit einem Argon-Laser ist eine Destruktion der Otolithenorgane bei Meerschweinchen
nach Applikation durch die intakte Fußplatte nachgewiesen worden, ohne dass Hörschäden
nachweisbar waren [349 ]. Auch eine Laserbestrahlung im Tierexperiment mit temporärer Entfernung der Fußplatte
wird beschrieben [350 ]. Dieses als „selektive Labyrinthektomie” bezeichnete Verfahren ist bisher nur einmal
erfolgreich bei einer Patientin angewendet worden [351 ]
[352 ]. Ähnlich wie beim Ausfall eines Bogengangs kommt es bei isolierten einseitigen Otolithenstörungen
zu einer Kompensation. Das Kompensationszeitintervall beträgt aber etwa nur drei Tage
[349 ]. Artefizielle Ausschaltungen der Otolithenorgane auf einer Seite führen gleichzeitig
zu einer Reduktion der Bogengangsantwort, da die Otolithenorgane in der Lage sind,
die Quantität der Bogengangsantwort zu modulieren [353 ]
[354 ].
7 Bilaterale Vestibulopathie
7 Bilaterale Vestibulopathie
Neben beiderseitigen labyrinthären Ursachen (Fehlbildungen, Schädelbasisfrakturen
mit Einbeziehung des Labyrinths, Labyrinthitis, Morbus Menière) kommen für das relativ
seltene Krankheitsbild der beiderseitigen Vestibularisstörung auch zentralnervöse
Störungen (Meningitis) oder Stoffwechselerkrankungen (Vitamin-B6- und -B12-Mangel)
infrage [355 ]. In einer eigenen Untersuchung bei 64 Patienten fanden wir als häufigste bekannte
Ursachen eine vestibulotoxische Medikation (12 %) und eine Meningitis (8 %). In den
meisten Fällen (62 %) blieb die Ätiologie jedoch unklar. Rinne et al. konnten bei
39 % eine zentralnervöse Ursache, bei 17 % eine ototoxische Antibiotikagabe und bei
9 % eine Autoimmunerkrankung ermitteln (n = 53). In etwa einem Fünftel (21 %) fand sich keine Ursache [356 ]. Die Schädigung beider Labyrinthe kann akut eintreten oder sich langsam fortschreitend
manifestieren. Beide Vestibularorgane können simultan oder sequenziell befallen werden.
Bei langsam fortschreitenden, wechselseitigen vestibulären Funktionsverlusten mit
zwischenzeitlicher vestibulärer Kompensation kann das Bechterew-Phänomen beobachtet
werden [355 ]
[357 ]
[358 ]. Bei erworbenen Störungen besteht eine Gangunsicherheit (Ataxie) mit visuellen Wahrnehmungsstörungen
(Oszillopsien). Dieses von Dandy beschriebene Symptom wurde erstmals nach doppelseitiger
Durchtrennung des Nervus vestibularis beobachtet [359 ].
Die thermische Erregbarkeit des lateralen Bogengangs muss nicht vollständig „erloschen”
sein. Auch eine Resterregbarkeit führt zur typischen Symptomatik einer bilateralen
Vestibulopathie [360 ]. Bei einem von uns in zwei Fällen zufällig entdeckten beiderseitigen Verlust der
thermischen Erregbarkeit waren die Patienten erstaunlicherweise völlig symptomlos
(angeborene Form einer bilateralen Vestibulopathie).
Während der Gabe von ototoxischen Arzneimitteln, vor allem Aminoglykosiden, muss heute
ein Monitoring (Plasmaspiegelkontrolle) gefordert werden. Risikofaktoren stellen ein
hohes Alter, eine Niereninsuffizienz und die zusätzliche Gabe von Diuretika (Furosemid)
oder Salizylaten (Kumulation) dar [361 ].
Beim Cogan-Syndrom werden hohe Kortisongaben (1 g Urbason über fünf Tage) und unter
bestimmten Voraussetzungen von wenigen Autoren Azathioprin oder Cyclophosphamid empfohlen
[15 ]
[355 ]
[362 ].
Bei einem nachgewiesenen partiellen oder kompletten Verlust der thermischen Erregbarkeit
ist eine physikalische Therapie sinnvoll. Eine vestibuläre Trainingstherapie erleichtert
die Anpassung an die Funktionsstörung. Brandt spricht von visueller und somatosensorischer
Substitution [15 ]. Nach Herdmann soll sich die Balanceleistung trainierter im Vergleich zu nicht behandelten
Probanden aber nicht signifikant unterscheiden [363 ]. Der Begriff der „Gewöhnung” ersetzt im Fall des kompletten Verlustes der Funktion
beider Gleichgewichtsorgane den Begriff der Kompensation.
8 Gestörtes Gleichgewicht im Alter
8 Gestörtes Gleichgewicht im Alter
Schwindelartige Beschwerden nehmen im Alter eine besondere Stellung ein. In der Altersgruppe
über 65 Jahre sind Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen mit deutlichem
Abstand der häufigste Grund für einen Arztbesuch. Mehr als die Hälfte von über 75-jährigen
Krankenhauspatienten beklagen Schwindelbeschwerden. Kürzliche Untersuchungen haben
gezeigt, dass die Lebensqualität dadurch erheblich eingeschränkt ist. In einer Anwendungsbeobachtung
wurden acht Wochen lang eine bis zwei Retardtabletten Dimenhydrinat pro Tag verabreicht.
Ein Teil der Patienten erhielt zusätzlich eine Krankengymnastik. Die Ergebnisse zeigten,
dass sich das Wohlbefinden der medikamentös behandelten Patienten in verschiedenen
Lebenssituationen deutlich verbesserte. Die Verträglichkeit des Medikaments wurde
in 95 % der Fälle als sehr gut eingeschätzt. Eine zusätzliche Krankengymnastik vermochte
einen noch besseren Lebensqualitätsscore herbeizuführen [364 ].
Mit körperlichem Training im Alter kann man nicht nur kardiovaskulären Risikofaktoren
vorbeugen. Kontinuierliche Gleichgewichtsübungen tragen auch zur Verbesserung von
neuromuskulären Leistungskomponenten, wie Koordination und Beweglichkeit, bei. Die
Auffassung, dass das Zentralnervensystem ein statisches Organ ist, musste revidiert
werden. Es ist heute bekannt, dass es auch im Alter über eine ungeahnte Plastizität
verfügt, die durch Training genutzt werden kann [365 ]
[366 ].
Taumeligkeit und Gangunsicherheit bei älteren Patienten bedingen nicht selten auch
Stürze. Patienten mit Schwindelbeschwerden stürzen zehnmal häufiger als Patienten
ohne diese. Durch ein regelmäßiges Gleichgewichtstraining lassen sich etwa 50 % der
Stürze im Alter vermeiden, was mit erheblichen Kosteneinsparungen verbunden ist.
Die sinnvolle Verordnung von Medikamenten, die Schwindelbeschwerden verursachen, trägt
zur Prävention von Stürzen bei [367 ]. Gleichgewichtsprothesen könnten in Zukunft bei unvollständiger Kompensation Stürze
verhindern helfen („Cochlea Implant für das Gleichgewichtsorgan”) [368 ].
9 Kinetosen
9 Kinetosen
Kinetosen entstehen durch optisch-vestibuläre Diskrepanzen z. B. bei Auto-, Bahn-
und Flugreisen, die „Seekrankheit” bei Schiffsreisen durch Linear- und Winkelbeschleunigungen
einer niedrigen Frequenz (< 1 Hz). Für die Entstehung der so genannten Simulatorkrankheit
sind optokinetische Reizeinflüsse verantwortlich [14 ]
[15 ].
Die Kinetosesyndrome lassen sich in zwei Schweregrade unterteilen. Beim „Sopite-Syndrom”
kommt es zu zwanghaftem Gähnen, Unlust, Abgeschlagenheit und Müdigkeit, das „Nausea-Syndrom”
umfasst Übelkeit und Erbrechen.
Prinzipiell kann jeder Mensch eine Kinetose entwickeln (Coriolis Effekt) [14 ]
[369 ]. Die interindividuelle Empfindlichkeit ist jedoch unterschiedlich. Seitendifferente
Otolithenmassen, vor allem des Utriculus, sollen eine Rolle spielen [370 ]
[371 ]. In der Schwerelosigkeit nennt man die Kinetose space-motion-sickness oder space-adaption-syndrome
[369 ]
[372 ].
Die Therapie kann medikamentös erfolgen. Eine sehr praktische und einfache Behandlungsform
ist die Verwendung von transdermal applizierten Parasympatholytica (Scopolamin). An
der Stelle der besten Hautpermeabilität hinter dem Ohr beträgt die Wirkdauer ca. 72
Stunden. Für die optimale Wirkung ist ein Beginn der Applikation ca. sechs Stunden
vor dem Reiseantritt erforderlich. Eine Vielzahl weiterer Medikamente findet sich
in (Tab. [4 ]). Bei den meisten Antivertiginosa tritt der Effekt aber schon eher ein (ca. 30 Minuten
nach Verabreichung).
Tab. 4 Medikamente zur Prophylaxe und Therapie der Reisekrankheit (Quelle: Rote Liste 2004)
Stoffgruppe
Medikament
Beispiel
Dosierung
Zeitdauer der Gabe vor Reisebeginn (in Stunden)
Wirkdauer in Stunden
H1-Antihistaminika
Dimenhydrinat
Reisetabletten ratiopharm®
50 mg per os
0,5
8
Meclozin
Peremesin® N
25 mg per os
0,5
12
Scopolamin
Scopoderm TTS®
1,5 mg transdermal retroaurikulär
6
72
Serotonin-(5-HT3)-Antagonisten
Tropisetron
Navoban®
5 mg per os
direkt vor Exposition
24
pflanzliche Antiemetika
Ingwerwurzelstock
Citona®
500 mg per os
0,5
4
Homöopathika
Cocculus
Hervertigon SL Tabletten®
250 mg per os
0,2
0,25 - 6
Neuroleptika (nur als Kombinationspräparat)
Promethazin
Atosil®
25 mg per os
direkt vor Exposition
6 - 8
Vor dem Antritt von Reisen ist die Einnahme von leichten, geringen Speisemengen empfehlenswert.
Milchprodukte sollten gemieden werden. Während der Reise ist es ratsam, den Horizont
oder ein Objekt zu fixieren und in Fahrtrichtung zu blicken (visuelle Kontrolle).
Möglicherweise klagen die Personen, welche ein Fahrzeug steuern, deshalb weitaus seltener
über Kinetosen [369 ]
[372 ]. Kinetosebeschwerden klingen bis zu 24 Stunden nach Beendigung der Reizexposition
ab [15 ].
Mit einem kinetoseinduzierendem Training (wiederholte Reizexposition) kann die Schwelle
der Entstehung einer Kinetose verschoben werden [15 ].