Eine bisher vielfach beklagte Schwäche des deutschen Gesundheitssystems war es, dass
es den Leistungserbringern (z.B. Ärzten, Pflegenden, Institutionen) aufgrund der strengen
sektoralen Gliederung des Gesundheitswesens fast unmöglich gemacht wurde, sektorenübergreifende
und multiprofessionell zusammengesetzte Strukturen zu entwickeln und anzubieten. Dies
war bzw. ist sehr bedauerlich, da solche Strukturen im Allgemeinen und besonders im
Hinblick auf eine optimale Palliativversorgung der Bevölkerung als höchst sinnvoll
angesehen und dringend benötigt werden [10].
Mit seiner Gesundheitsreform des Jahres 2000 hatte das Bundesministerium für Gesundheit
und Soziale Sicherung (BMGS) erstmals versucht, Elemente der so genannten „integrierten
Versorgung” in das Sozialgesetzbuch einzuführen (§ 140 SGB V), um eine bessere Vernetzung
der ambulanten und stationären Versorgung zu ermöglichen. Dieser Versuch scheiterte
jedoch. Die Konstruktion des damaligen § 140 war sehr kompliziert und so blieben Modelle
der integrierten Versorgung eine Rarität.
Unter „integrierter Versorgung” im Sinne des Sozialgesetzbuches V versteht der Gesetzgeber
primär eine sektorenübergreifende Versorgungsform, die es ermöglichen soll, die strukturell
bedingte strenge Abschottung der beiden Sektoren „ambulant” und „stationär” zu überwinden.
In diesem Sinne wird der Begriff auch hier verwendet.
Unabhängig davon sei allerdings darauf hingewiesen, dass unter der Überschrift „Integration”
auch die vielfältigsten Bemühungen im Gesundheitswesen für eine bessere Vernetzung
der bestehenden Angebote innerhalb eines Sektors zusammengefasst werden können. Insbesondere
kommt den Versuchen, die Palliativmedizin in die bestehenden Strukturen des Gesundheitswesens
einzubinden, ohne dafür völlig neue Strukturen zu schaffen, hier eine ganz besondere
Bedeutung zu [8]
[9].
Durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz des Jahres 2004 (GMG) wurde der § 140 in
mehreren Punkten entschlackt und vom Gesetzgeber zu einem der wesentlichen Elemente
der neuen Gesundheitsreform erklärt. Der neue § 140 SGB V sei sogar „das Herzstück
der Gesundheitsreform” [12], wie Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder vom BMGS bei der Eröffnung des 1. Jahreskongresses
der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung (DGIV) am 29. Oktober 2004 in
Berlin noch einmal ausdrücklich betonte. Auch die Deutsche Ärzteschaft hatte sich
wiederholt sehr deutlich für die Etablierung integrierter Versorgungsformen ausgesprochen
- gerade auch im Zusammenhang mit der palliativmedizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Auf dem 106. Deutschen Ärztetag 2003 in Köln hieß es in einem vom Ärztetag einstimmig
angenommenen Leitantrag des Vorstands der Bundesärztekammer zum Schwerpunktthema Palliativmedizin
unter der Überschrift „Integrierte Versorgung” [4]: „Menschen mit schweren und unheilbaren Erkrankungen benötigen eine möglichst reibungslose
Versorgungskette mit einer optimalen interdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenarbeit.
Deshalb muss die starre Trennung zwischen stationärer und ambulanter Behandlung in
der Regelversorgung aufgelöst werden.”
Große Hoffnungen wurden enttäuscht
Große Hoffnungen wurden enttäuscht
Anfang des Jahres 2004 war somit die Hoffnung groß, dass die - jetzt erstmals im Rahmen
des § 140 a-d SGB V - zur Verfügung gestellten Mittel auch sektorenübergreifende palliativmedizinische
Angebotsstrukturen ermöglichen könnten. Staatssekretär Schröder hatte beim DGIV-Kongress
daran erinnert, dass ein Prozent der ärztlichen Gesamtvergütung und ein Prozent der
Krankenhausbudgets von den Kostenträgern für Angebote der integrierten Versorgung
zur Verfügung gestellt werden sollen. Dies entspricht deutschlandweit immerhin einer
Summe von 680 Millionen Euro. Mit Zufriedenheit hatte er hinzugefügt, dass „der §
140 SGB V einer der wenigen Paragrafen ist, wo es uns gelungen ist, zu deregulieren”
[12].
Tatsächlich macht der neue § 140 vieles möglich und hat in den ersten Monaten des
Jahres 2004 deshalb zu einer Fülle von Anträgen bei den Kostenträgern geführt. Diese
sehen sich mitunter kaum in der Lage, die vielen Anträge zu bearbeiten. Andererseits
weisen sie aber auch zunehmend darauf hin, dass viele Konzepte zur integrierten Versorgung
abgelehnt werden, weil sie nichts anderes seien als eine „alte Leistung im neuen Gewand”,
wie die Ärzte-Zeitung am 26.10.2004 berichtete und aus der bisherigen Entwicklung
das Fazit zog [1]: „Offenbar fällt es den Akteuren unter den Leistungserbringern immer noch schwer,
die Grundidee der Integrationsversorgung, nämlich die Überwindung der sektoralen Versorgung,
zu begreifen und in Konzepte umzusetzen.”
Das Durcheinander um die integrierte Versorgung - „Wer schließt mit wem welchen Vertrag,
zu welchen Bedingungen, und wer zahlt am Ende?” [2] - ist die eine Erfahrung, die in den ersten zehn Monaten des Jahres 2004 gemacht
werden konnte und die wohl dazu gehört, wenn sich Dinge neu ordnen. Als zweite wesentliche
Erkenntnis schälte sich im Laufe des Jahres aber auch immer mehr das eigentliche Motiv
für die Reform des § 140 SGB V heraus.
Ulrich Orlowski, Abteilungsleiter im BMGS, hatte es auf einer Fachtagung des Bundesverbands
Managed Care (BMC) Anfang des Jahres so formuliert: „Das Ministerium hofft, das durch
die Neuregelung der Wettbewerb der Krankenkassen intensiviert wird mit dem Ziel, Effizienz
und Qualität der Versorgung zu verbessern.” „Im Wettbewerb”, so wiederum Schröder
auf dem DGIV-Jahreskongress, „müssen Vorteile gegenüber anderen Versorgungsformen
bestehen ... Patienten können sich dann dorthin begeben, wo eine optimale Versorgung
sichergestellt ist” [12].
Darüber, wie Konzept-Entwürfe für integrierte Versorgungsmodelle im Einzelnen aussehen
sollten, um Erfolg zu haben, ist im letzten Jahr viel geschrieben worden. Ausführliche
Checklisten und umfangreiche Kriterienkataloge zu diesem Thema stehen unter anderem
als Download auf den Internetseiten des Bundesverbandes Managed Care (www.bmcev.de) und der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung (www.dgiv.org) zur Verfügung.
Als wesentliche Strukturelemente eines integrierten Versorgungskonzeptes fordert die
DGIV in ihrem Kriterienkatalog beispielsweise Aussagen zu folgenden Bereichen:
-
Patientennutzen (Zielsetzung und Bewertung)
-
Qualitätsmanagement (ärztlich/ pflegerisch)
-
Einsparvolumen der Krankenkasse
-
Schnittstellenmanagement
-
haftungsrechtliche Absicherung
-
definierte Behandlungspfade.
In der Praxis wurden bis Ende Oktober, verschiedenen Zeitungsberichten sowie den Informationen
auf dem DGIV-Kongress zufolge, bundesweit rund 200 Versorgungsverträge im Sinne der
integrierten Versorgung nach § 140 SGB V von den Kostenträgern abgeschlossen. Diese
machen bisher erst einen geringen Teil des zur Verfügung gestellten Budgetrahmens
aus. Bislang beziehen sich die meisten Verträge auf elektive operative Eingriffe,
bei denen klare Behandlungspfade und Garantieleistungen der Leistungserbringer möglich
sind (z.B. endoprothetische Versorgung von Gelenken).
Palliativmedizin in der integrierten Versorgung
Palliativmedizin in der integrierten Versorgung
Vor dem geschilderten Hintergrund sind an mehreren Standorten in Deutschland (z.B.
in Bottrop, Brandenburg, Greifswald, Saarbrücken, Tübingen und in Nordrhein-Westfalen)
Konzepte entwickelt worden, wie eine sektorenübergreifende palliativmedizinische Versorgungsstruktur
ausgestaltet sein könnte. Während Aussagen zum Nutzen für die Patienten, zum Qualitätsmanagement
und zum Schnittstellenmanagement in diesen Plänen relativ leicht zu formulieren waren,
waren Angaben zum Einsparvolumen der Krankenkassen schon sehr viel schwerer vorauszusehen
- unter anderem auch deshalb, weil es den Kostenträgern in der Regel nicht möglich
war, gezielte Anfragen in dieser Richtung zu beantworten.
So ist es schwer, ein Einsparvolumen nachzuweisen, wenn die Kosten der konventionellen
Versorgung nur sehr eingeschränkt zu erheben sind. Kostendaten über die Versorgung
schwer kranker Tumorpatienten, die am Lebensende in Krankenhäuser eingewiesen werden,
um dort zu sterben - etwas, was durch eine gute palliativmedizinische Versorgungsstruktur
möglichst vermieden werden soll - konnten die Kostenträger in der Regel nicht zur
Verfügung stellen.
Auch über den haftungsrechtlichen Hintergrund ließen sich nur sehr unbefriedigende
Aussagen treffen, da die Vorgaben der „Richtlinien zur Verordnung häuslicher Krankenpflege”
einige von den in der palliativmedizinischen Versorgung wichtigen Tätigkeiten (z.B.
Infusionen mit Medikamenten, Punktion von Port-Systemen) Pflegepersonen praktisch
untersagen [11]. Gleichwohl spielen palliativpflegerisch geschulte Fachpflegekräfte in den vorliegenden
Konzepten eine bedeutsame Rolle.
Schließlich war es aufgrund der hochgradig individualisierten Situation palliativmedizinisch
zu versorgender Patienten am Lebensende nicht möglich, definierte Behandlungspfade
zu formulieren. Diese gibt es, bezogen auf die palliativmedizinische Versorgung, in
Deutschland noch nicht. Selbst in der Weltliteratur sind diesbezügliche Veröffentlichungen
noch eine Seltenheit [6].
Die bisherigen Erfahrungen im Kontakt mit Leistungserbringern und Kostenträgern beim
Versuch, Palliativmedizin im Rahmen integrierter Versorgungskonzepte nach § 140 SGB
V anzubieten, waren vor diesem Hintergrund eher ernüchternd. Zwar ernten die entsprechenden
Konzepte überall (unverbindliche) Zustimmung: Auf der „1. Deutschen Messe für Neue
Versorgungsstrukturen” am 18. September 2004 in Bochum gewann Iris Ketteler aus Bottrop
sogar einen Preis und sehr viel Zustimmung für ihr Poster „Palliativmedizin ist integrierte
Versorgung”. Auch alle Entscheidungsträger „sind sehr für die Palliativmedizin - aber
wenn es ans Finanzieren geht, ist Schluss”, so Prof. Dietrich Kettler, Vizepräsident
der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Wettbewerb und Palliativ-medizin - geht das?
Wettbewerb und Palliativ-medizin - geht das?
Die mit dem § 140 SGB V verbundenen Hoffnungen der palliativmedizinisch engagierten
Akteure im stationären und ambulanten Sektor wurden im Laufe des Jahres also erheblich
gedämpft. Denn die Konzepte der Palliativversorgung sind auch mit der jetzigen Konstruktion
des § 140 SGB V nur schwer zu realisieren.
Hinterfragt man, warum die vorliegenden Entwürfe für eine integrierte palliativmedizinische
Versorgung bei den Kostenträgern bisher erfolglos und im Wesentlichen ohne Resonanz
geblieben sind, kommt neben den Hinweisen auf die inhaltlichen Probleme schnell eine
weitere Frage auf: Passen der „Wettbewerb der Krankenkassen” und eine möglichst gute,
umfassende und flächendeckende palliativmedizinische Versorgung zusammen? Zweifel
sind erlaubt.
Prof. Fritz Beske, Leiter des Instituts für Gesundheitssystemforschung in Kiel, äußerte
sich hierzu - ohne jedoch direkt auf die Palliativmedizin Bezug zu nehmen: „Irreal
ist es zu fordern, dass sich jeder Patient überregional oder sogar bundesweit an konkurrierenden
Versorgungsmöglichkeiten orientiert. Eine wohnortnahe Versorgung ist die Methode der
Wahl ... Wir benötigen keinen qualitätsorientierten Wettbewerb mit Insellösungen.
Was wir benötigen, ist eine flächendeckende Qualität in der Gesundheitsversorgung”
[3]. Und Hagen Kühn, Leiter der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum
Berlin, gibt zu bedenken: „Investitionen in die öffentliche Imagebildung und attraktive
Leistungen für attraktive Kunden können wettbewerblich effektiver sein als die oft
enorm aufwändigen Leistungen für die Minorität schwer kranker Patienten” [7].
Diesen Grundtenor bestätigten die Vertreter der Kostenträger auf dem DGIV-Kongress
Ende Oktober 2004 in Berlin mit ihren Einlassungen. Bei dem Versuch, zahlungskräftige
Kunden langfristig an sich zu binden, sei das Werben mit (einer besseren Versorgung
bei) schwerer Krankheit, Sterben und Tod für die Kostenträger eher kontraproduktiv.
Sowohl der Vertreter der Barmer Ersatzkasse als auch der einer großen Betriebskrankenkasse
(BKK) im Raum Berlin räumten freimütig ein, dass der § 140 als Marketinginstrument
im Wettbewerb der Krankenkassen um eine langfristige Kundenbindung ein wesentlicher
Faktor sei. Ob Wettbewerb und Palliativmedizin kompatibel sind, scheint also eine
berechtigte Frage zu sein.
Da sich die Organisation einer multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit
mit palliativmedizinischem Fokus auch im Rahmen von Versorgungskonzepten außerhalb
des § 140 SGB V als ein erhebliches Problem erweist, sind neue Ideen sehr erwünscht,
wie hier eine von allen gewünschte Entwicklung in der Praxis realisiert werden könnte.
Die Bemühungen um eine bessere Vernetzung der ambulanten und stationären Palliativversorgung
werden in jedem Fall an vielen Standorten fortgesetzt. Eine Hilfestellung könnten
möglicherweise drei aktuelle Publikationen bieten, welche die Weltgesundheitsorganisation
bzw. das Ministerkomitee des Europarats im letzten Jahr veröffentlicht haben und auf
der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) als Download
zur Verfügung stehen. In allen drei Veröffentlichungen stehen Überlegungen „zur Strukturierung
der palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung” im Mittelpunkt [5]
[13]
[14].