Balint Journal 2005; 6(2): 33-40
DOI: 10.1055/s-2005-864167
Medizin und Kultur
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Medizinstudent im Widerstand

Das Passionsmotiv bei Hans Scholl (1918 - 1943)M. Bormuth1
  • 1Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen
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Publication Date:
29 June 2005 (online)

Zusammenfassung

Hans Scholl (1918 - 1943) war die zentrale Gestalt der Medizinstudenten, die unter dem Namen „Weiße Rose” aktiv Widerstand gegen Hitler leisteten. Anders als im Fall seiner jüngeren Schwester Sophie, die sich ebenfalls an ihren Flugblättern beteiligte, hat bislang niemand seine Person eingehender betrachtet, obwohl die edierten Briefe und Aufzeichnungen dies ermöglichen. Der Aufsatz zeichnet ein intellektuelles Portrait von Hans Scholl, das die Bedeutung der christlich-humanistischen Kultur für sein persönliches Weltbild und den politischen Widerstand zu skizzieren versucht. Neben der abendländischen Bildungstradition und Lesekultur geben die besonderen Bedingungen der Moderne der Untersuchung ihren Rahmen. Speziell die literaturhistorische Perspektive, aus der Erich Auerbach die antiken Begriffen Passion und Pathos im Anschluss an die christliche Tradition untersucht, erlaubt, die tieferen Motive von Hans Scholl zu erkennen.

Abstract

Hans Scholl (1918 - 1943) was the central figure of the medical students who resisted Hitler by the name „White Rose”. Differently as in the case of his younger sister Sophie which also took part in their leafletting campaign nobody has been looking at his person closer, whether his edited letters and notes do allow this. Therefore the essay draws the intellectual portrait of Hans Scholl trying to clear up the meaning of the christian and humanistic culture for his personal view of life and his political resistance. Next to the occidental tradition of culture and reading their special conditions in modern times provide the appropriate setting for the interpretation. In particular the literal point of view which is drawn by Erich Auerbach in the historical dimension of the ancient terms passion and pathos enables to clear up the deeper motivation of Hans Scholl.

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1 Der Aufsatz geht auf ein Blockseminar zurück, das im Wintersemester 2002/03 mit Studenten der Medizin und Philosophie am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Tübingen abgehalten wurde. Inge Jens, die die Edition der schriftlichen Zeugnisse von Hans und Sophie Scholl sowie Willi Graf besorgte, dankt der Verfasser herzlich für die Zeit, die sie sich während der Veranstaltung für unsere Fragen nahm.

2 Über die Biographien der Mitglieder der „Weißen Rose” unterrichten zuletzt in dichter Form, zumal unter Hinzuziehung der Verhörprotokolle, die Portraits, die Ulrich Chaussy von Hans Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Sophie Scholl, Willi Graf und Kurt Huber für den Band „Sophie Scholl. Die letzten Tage” schrieb. Vgl. [3, S. 85-134].

3 Soziologisch gehen sie auf die Einsichten Max Webers zurück, die Jaspers philosophisch umdeutete. [33]

4 Das Zitat verdanke ich der Arbeit von Inge Jens.

5 Hans Scholl besaß die auszugsweise Übersetzung Stefan Georges, erschienen 1925 beim Leipziger Insel-Verlag. Vgl. den Kommentar von Inge Jens in [5], S. 255.

6 [5] S. 68. Im „Inferno” lautet die Inschrift über der Höllenpforte nach Abschnitt III, 9: „Lasciate ogni speranza”; nach der Übersetzung Georges: „Laßt alle Hoffnung fahren.”

Dr. Matthias Bormuth

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin

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