Balint Journal 2005; 6(2): 55-57
DOI: 10.1055/s-2005-864171
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Balint Leadership Training Intensive

Santa Rosa, 10. - 13. März 2005E. R. Petzold1 , H. Otten2
  • 1Kusterdingen
  • 2Wienhausen
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Publication History

Publication Date:
29 June 2005 (online)

Zurück aus Santa Rosa, Kalifornien, berichten wir von dem Balint Leadership Training Intensive (10. - 13.3.05), das von Ritch Addison, dem Course Direktor und Präsidenten der Amerikanischen Balint Gesellschaft und einem starken Team, das man dort „Additional Faculty” nennt, ausgerichtet worden war in Zusammenarbeit der Amerikanischen Balint Gesellschaft mit dem Sutter Medical Center of Santa Rosa, Family Practice Residency Program, sowie dem Sonoma County Academic Foundation for Excellence in Medicine und den R Cassidy Seminars.

Frau Dr. Otten und ich waren als Vertreter der DBG eingeladen. Da auch John Salinsky aus UK und eine Kollegin, ein Kollege aus Australien dort waren, sowie Vladimir Vinocour aus St. Petersburg/Russland ergab sich eine vergleichbare internationale Atmosphäre wie bei der diesjährigen Januar Tagung der DBG und IBF auf Mallorca. Der internationale Austausch und die Aufgaben der Leiterausbildung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind ein hochinteressantes Studienobjekt. Das voneinander Lernen ist außerordentlich reizvoll.

Wie ergiebig können Kleingruppen sein, wenn sie von Anfängern geleitet werden?

Wohin führen Diskussionsgruppen, die durch schriftlich eingereichte Fragen der Teilnehmer vorstrukturiert sind?

How to introduce Balint? Whats the difference between a Balint group and a Support or Personal and Professional Development Group? What counts as evidence? Methodology to use? Can research be done by outsiders or by insiders? What are the effects on the group when it is beeing researched?”

Nicht jeder nahm zu allen Fragen Stellung, nicht jeder befasste sich mit speziellen Schwierigkeiten und Problemen während der Ausbildung, nicht jeder hatte Interesse an der Forschung.

Aber alle hatten eine gut vorbereitete Tagungsmappe mit organisatorischen Hinweisen für den Ablauf der Tagung und mit einer Übersicht über die Teilnehmer der vier Kleingruppen. Sie war angereichert mit mehr als 10 Kopien aktueller und früherer Publikationen, beispielsweise mit einer Übersicht über ‘Balint groups and the Balint Method’ von John Salinsky (2005); ‘Balint Work in England: Lesson for Amarican Family Medicine’ von Lee Scheingold (1987) und einem Forschungsbericht: ‘Balint Training makes GP’s thrive better in their Job’ von Dorte Kjelmand et al. aus Schweden (2004).

Eine Grundbedingung der scientific community - Forschung und Publikation und damit die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache - war pars pro toto eingelöst.

In den Kleingruppen kamen wir insgesamt neun Mal für je neunzig Minuten zusammen, um in einer ersten Hälfte einen Fall, genauer die Arzt-Patient-Beziehung zu besprechen, und in der zweiten Hälfte die Leitung. Die Standardfrage nach den Fallvorstellungen, wenn sie denn gestellt wird, ist auch dort: Wie kann ich mit dieser Beziehung besser umgehen? Besser meint dann meist, besser für den Patienten, aber auch für den vorstellenden Referenten. Besser meint auch ‘gut genug’ im Sinne von Winnicott. Oft aber wird auch auf eine strukturierende Frage nach dem Fallbericht verzichtet.

Es gab keine Großgruppen und auf Rückfrage wurde uns bestätigt aufgrund der Vulnerabilität der Anfänger, die nicht eingedacht waren, dass man bewusst darauf verzichten würde. Die Kontinuität der Kleingruppenarbeit hat neben dem Schutz für den Referenten höchste Priorität.

Und die Leitung, die ja das Leitthema dieses Intensiv Trainings war?

Darauf waren wir natürlich am meisten gespannt, denn schon im Vorfeld hatten wir gehört, dass es auch Anfänger ohne eigene Balintgruppenerfahrung wären, die lernen sollten, die Gruppen zu leiten, Kolleginnen und Kollegen, die in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung waren und selbst dann später vor Ort mit anderen Kolleginnen und Kollegen die eigene Weiterbildung verbessern wollten. Oder klinische Psychologen, die sehr viel stärker als bei uns in das Versorgungssystem integriert zu sein scheinen, auch wenn sie mit ähnlichen Entwertungen zu kämpfen haben, wie das die Vertreter der P-Fächer in Deutschland..

Am Rande ging es auch hier um die Fragen der Arbeitsbedingungen: Wie kann man z. B. in den Kliniken oder Praxen Bedingungen schaffen, dass Balintarbeit in ungestörtem Rahmen über 45 Minuten überhaupt erst möglich wird? Auch in Amerika weicht man dann auch schon Mal auf die Frühstücks- oder Mittagsessenzeiten aus. Die sog. Arbeitsessen sind im Land der unbegrenzten Möglichkeiten noch viel üblicher als bei uns.

Zurück zur Beschreibung der Leiterausbildung, an der wir partizipierten. Die erste Gruppe leitete Ritch Addison, ein klinischer Psychologe, und derzeit Präsident der Amerikanischen Balint-Gesellschaft zusammen mit Janet Walker, einer Sanitätsärztin und ebenfalls erfahrenen Balint-Gruppenleiterin. Bevor sie begannen, sagten sie klar und deutlich, dass sie dann nur noch die letzte Gruppe leiten wollten, alle anderen Gruppenteilnehmer also auch die Chance und Möglichkeiten hätten, mindestens einmal die Gruppe zu leiten oder Co-Leiter zu sein. Und selbstverständlich hätte jeder der Teilnehmer die Möglichkeit, eine Arzt-Patient-Beziehung vorzustellen.

Und diese Möglichkeiten wurden dann auch genutzt. Wir begannen beispielsweise mit dem Bericht über einen Patienten, bei dem der referierende Arzt, ein Allgemeinmediziner - eher zufällig oder weil er die körperliche Untersuchung sehr ernst nahm und systematisch vorging - ein Bauchaortenaneurysma diagnostiziert hatte. Die Risiken der anstehenden Operation, von dem Patienten selbst eher negiert, von seinen Angehörigen durchaus verstanden, verknüpften sich für den Kollegen vorbewußt mit den schweren Erfahrungen und Verdrängungen anlässlich der Erkrankung und des Sterbens seines eigenen Vaters, von dem er keinen Abschied hatte nehmen können, also mit der eigenen verdrängten Trauer, für die sich hier erstmals (?) ein angemessener Raum öffnete. Was macht der Leiter, wenn Gefühle den Referenten übermannen? Das teilnehmende Schweigen, die anteilnehmende Handbewegung sind Hilfsmittel des erfahrenen Leiters. Die Hilfsmittel sind deswegen hilfreich, weil viele von uns sie schon im Kindesalter kennen gelernt haben, dann aber oft wieder verlernt - nicht zuletzt auf dem Boden einer falsch verstandenen Abstinenzregel der Psychoanalyse.

Was aber macht nun ein Leiter, der noch gar keine Balint-Gruppenerfahrung hat? Und was macht der Co-Leiter, der ja in einer ähnlichen Situation ist? Die Antwort: Sie hören zu und intervenieren sparsam! Es gibt kaum eine bessere Möglichkeit, das Zuhören zu lernen, wenn man gleichzeitig verantwortlich und unerfahren ist. Durch das Zuhören lernt man sehr gut, was der andere einem mitteilen will und was die einzelnen Gruppenmitglieder zu sagen haben. Minimiert wird das Artifizielle, das die Balint-Arbeit den Außenstehenden oft verdächtig erscheinen lässt. Minimiert wird auch das hierarchische Prinzip einer Leiter orientierten Gruppe. Eine Leiterorientierung mag ja durchaus sowohl für die Gruppe wie für den Leiter selbst verführerisch sein, z. B. das gesammelte Wissen weiterzugeben und zu empfangen. Dies aber ist nicht immer im Sinne der Aufklärung aus der selbst gewählten Unmündigkeit, um den klassischen Wahlspruch der Aufklärung I. Kants zu zitieren. Es ist auch nicht im Sinne M. Balints. Man kann sich mit dem Verzicht auf die Leiterorientierung still und leise von allen Omnipotenzphantasien verabschieden.

Die Gruppe muss arbeiten (Laurel Milberg, 2005). Der Leiter hat keineswegs immer die Lösung für das Problem, um das hier gerungen wird. Und damit wird die Gefahr vergleichbarer Gruppen minimiert, dass Ratschläge für das Prozedere erteilt werden, die nicht in Auftrag gegeben wurden - trotz der verführerischen Frage: Wie kann ich denn mit diesem und jenem besser umgehen?

Und dann ist da noch die Zeitfrage: Wer beginnt, wer beschließt die Gruppe? Ich war wirklich sehr überrascht, als bei einer Gruppensitzung für mich eher plötzlich und unvermittelt die Co-Leiterin sagte, dass der Referent wieder in die Gruppe kommen könne und dass die Sitzung zuende sei. Überrascht war ich auch, als wir die Frage diskutierten, ob der Leiter seinerseits einen Fall vortragen könnte, wenn z. B. niemand anderes einen solchen hätte. Es gab eine große Übereinstimmung, dass dies besser nur geschehen solle, wenn es einen Co-Leiter gäbe, der dann die Leitungsfunktion übernehmen könnte. Ausdrücklich betont wurde die offene Ankündigung, der Wert und die Notwendigkeit den Rollenwechsel zu deklarieren. Die Rollenvermischung gilt auch jenseits des Atlantiks als Sakrileg.

Gab es Höhepunkte? Gab es Schwachpunkte? Worüber wurde gesprochen? Worüber nicht? In der Feedbackrunde beispielsweise am Ende der Zeit wurde der interessanten Frage nachgegangen, welche Themen in den Tagen der Zusammenarbeit aufgetaucht waren, es wurde nicht noch einmal auf das Leiter- und Co-Leiterverhalten eingegangen, - Beweis für die These, dass es die Gruppe ist und nicht der Leiter, die hier die Arbeit macht? Möglicherweise, vielleicht aber ist das Versäumnis auch nur der Zeit geschuldet, in der man nicht alles erledigen kann.

Natürlich gab es Höhepunkte - z. B. war da die Videographie einer Gruppensitzung, Eine Videographie, die ein Spezialist vorzüglich aufgenommen hatte, auf der jeder, der sprach, gut zu verstehen war. Alle acht Teilnehmer und die beiden Leiter waren auch gut zu sehen. Das Video spielt übrigens auch sonst in der Supervision der Allgemeinmediziner eine große Rolle und ist den Teilnehmern von daher durchaus vertraut. Sie schicken ihre Bänder den Ausbildern oder Supervisoren und bekommen das Feedback, das sie brauchen, um sicher zu werden in diesen schwierigen Feldern. Der nächste Höhepunkt war die anschließende Gruppendiskussion anhand des Videos. Hier zeigten sich überzeugend die Möglichkeiten, die sich aus dem Playback einer Sitzung ergeben können, wie ein Gruppenmitglied den Ball, genauer den Gedanken eines anderen aufnimmt oder verwirft und wie sich die Spirale des Ablaufs des Gespräches und des Gruppenprozesses bewegt, welchen Anteil Leiter und Co-Leiter daran haben - und um es vorweg zu nehmen: Jede Gruppe ist anders und jede entwickelt ihre eigene Kultur und das ist spezifisch für die Balint-Arbeit.

Am meisten bewegte mich die eigene Fallvorstellung in einem fremden Land mit einer fremden Sprache und mit einer anderer Kultur und das tiefe emotionale Angenommen Werden in einem Bereich, in den kaum noch Worte vordringen können. Michael Balint hatte sicher recht, als er dies mit ‘primary love’ umschrieb, einer ‘Urform der Liebe’, die ihresgleichen sucht.

Ich schließe meinen Teil des Berichtes mit fünf Hypothesen:

Die Ausbildung der Leiter von Balint-Gruppen in den USA ist spezifisch amerikanisch und pragmatisch. Sie folgt einem klugen Kalkül und scheint offener für die nachwachsende Generation als das möglicherweise bei einem langfristigerem Vorlauf wie bei uns der Fall zu sein scheint. Mindesten 105 Stunden eigener Balint-Gruppenerfahrung (!). Sie unterscheidet sich von anderen Formen der Balint-Leiterausbildung durch die stärkere Mitbeteiligung von klinischen Psychologen und Allgemeinmedizinern, die noch in der Weiterbildung sind und wird von einer vergleichbaren Fokussierung auf die Arzt-Client/Patient-Beziehung getragen, wie aber auch durch den Respekt vor der Individualität jedes einzelnen und durch das, was ich eben das ‘Urvertrauen’ genannt habe. Balint-Arbeit ist Übersetzungsarbeit, die an die Übersetzungsarbeit des Psychosomatikers erinnert: In dem körperlichen Symptom das seelische Problem, den sozialen Konflikt verstehen lernen, aber auch umgekehrt: Dem Körper zu geben, was der Körper braucht. Balint-Arbeit ist voller Paradoxien: Anfänger und Leiter, Allgemeinmedizin und Psychoanalyse, Verhaltensmedizin und Familientherapie, Aktion und Reflektion, Übertragung und Gegenübertragung, Aktivität und Passivität, Macht und Ohnmacht. All das reicht weit in den Gruppenprozess hinein, gelegentlich bis zur Übernahme der berichteten Symptomatik durch einzelne Gruppenteilnehmer. Die Auflösung der meisten Paradoxien geschieht erfahrungsgemäß durch die detaillierteste Beschreibung dessen, was wir beobachten und dadurch wahrnehmen können. Besonders wirkungsvoll aber scheint die Paradoxie einer Leiterausbildung für klinische Psychologen und Allgemeinmediziner zu sein, die noch am Anfang ihrer Weiterbildung stehen. Ihnen sollten wir in Zukunft einen wesentlich größeren Raum und wesentlich mehr Zeit als in der Vergangenheit zubilligen. Dies entspräche dem Wunsch eines Teilnehmers am Ende dieses Intensivtrainings: Teach this material at the beginning of medical training.

E.R. Petzold/ Aachen, Kusterdingen

Ich, H.O. möchte aus meinem Erleben hinzufügen, dass mich die herzliche Aufnahme, die wir dort am anderen Ende der Welt erfuhren, besonders beeindruckt hat. Mit Geduld und Freundlichkeit hat man uns zugehört, Sprachbarrieren gemeistert, Brücken gebaut. Dieser einfühlsame Umgang miteinander war in unserer Gruppe spürbar und im Gesamtablauf des Seminars. Ist es die Balintarbeit, die Toleranz, Geduld und das Zuhören lehrt oder waren dort Menschen zusammengekommen, die mit diesen Eigenschaften ausgestattet sind?

Zu dieser Erfahrung zählte, dass das Gewähren in der Gruppenarbeit selbst am Anfang der Ausbildung und bei unerfahrenen Leitern eine größere Rolle spielte als das Strukturieren. Übergänge waren fließend. So wurde der Vorsteller fast unmerklich in den Kreis zurückgewinkt, konnte sich wieder als aktiv teilnehmendes Gruppenmitglied fühlen, musste jedoch nicht Auskunft geben, konnte weiter stumm zuhören oder seinem Befinden Ausdruck geben, Einfälle und Nachträge hinzufügen. Leiter und CoLeiter praktizierten eine partnerschaftliche Aufgabenteilung. Es gab keine spezifische Zuordnung („du achtest auf den Gruppenprozess, auf die Zeit” etc.) Beide waren für alle Aufgaben zuständig, somit konnte auch der Co-Leiter den Referenten in den Kreis zurückholen oder die Sitzung beenden. Beide haben sich gegenseitig unterstützt ohne miteinander in Konkurrenz zu geraten und den Gruppenprozess dadurch zu stören.

Und dies gelang offenbar um so besser und zum Wohle und Schutz des Referenten und der Gruppe, wenn die Autoritäten, die ausgebildeten und ausbildenden Leiter Halt gebend als Mitglieder in der Gruppe sitzen. Und hierin bestand ein wesentlicher Unterschied zu unserer Leiterausbildung: die Supervisoren saßen nicht außerhalb der arbeitenden Gruppe, sondern wurden zu Gruppenmitgliedern. Dies ergab in unserer Gruppe Sicherheit und eine dichte, einfühlsame und wohlwollende Atmosphäre. Das Gefühl, beobachtet, zensiert, beurteilt zu werden, blieb aus. Dabei spielte sicher die Persönlichkeit unseres Gruppenleiters eine große Rolle, der durchaus in der Lage war, sich zurück zu nehmen und Beiträge eines Mitglieds zu machen, nicht heimlicher Leiter zu sein, und trotzdem Halt zu geben. Gleichzeitig hatte er einen unmittelbaren Zugang zu dem Geschehen in der Gruppe unter verschiedener Leitung, nicht als Aussenbeobachter, sondern als Betroffener. Und immer war für mich die Motivation spürbar: „wir wollen Euch helfen, gute Balint-Gruppenleiter zu werden, denn Balint-Arbeit ist eine gute Sache, macht unsere Arbeit reicher und es lohnt sich, sich dafür einzusetzen.”

H. Otten/Wienhausen

Prof. Dr. med. E. R. Petzold

Goethestraße 5

72127 Kusterdingen

Email: erpetzold@gmx.de

Email: heideotten@balintgesellschaft.de

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