Pro
Wolfgang Gaebel
Entstigmatisierung kann nur durch Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte auf das
gemeinsame Ziel gelingen - dieses ist nur mit breit angelegten und langfristigen Gesundheitsprogrammen,
„Antistigmaprogrammen”, zu bewältigen. Antistigmaprogramme sind nachweislich effektiv;
sie sind ein Muss für jede Gesellschaft, die sich der Ausgrenzung psychisch Erkrankter
nachhaltig entgegen stellt.
Jüngste Ergebnisse einer großen Bevölkerungsbefragung mit über 4500 Befragten in Deutschland
belegen die Effektivität von Antistigmaprogrammen: Nach drei Jahren Interventionen
in den Projektzentren Düsseldorf und München, die das Antistigmaprogramm „Open the
doors” im Rahmen des Kompetenznetz Schizophrenie durchgeführt haben, zeigt sich eine
signifikante, positive Entwicklung in einer Verbesserung des Wissensstandes über Schizophrenie,
einer Verringerung negativer Stereotype und einer Abnahme der sozialen Distanz der
Bevölkerung gegenüber schizophren Erkrankten in diesen Städten.
Diese Effekte sind kein Einzelfall: Neben dem Royal College of Psychiatrists in Großbritannien
[1] und den nationalen Projektzentren des globalen Antistigmaprogramms „Open the doors”
des Weltverbandes für Psychiatrie (WPA) berichten im aktuellen WHO Report „Mental
Health Promotion: Case Studies from Countries” weltweit über 30 Initiativen in 19
Ländern von der positiven Wirkung gezielter Aufklärungsmaßnahmen [2]. Dies ist eine Botschaft, die auch bei Betroffenen positiv gesehen wird und so zu
ihrer Entstigmatisierung beiträgt: Mit vereinten Kräften wird weltweit gegen das Stigma
vorgegangen, und auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird mehr und mehr die Notwendigkeit
des Abbaus von Stigma und Diskriminierung als eine prioritäre Aufgabe wahrgenommen
[3].
Das psychischen Erkrankungen anhaftende Stigma hat schwerwiegende negative Folgen
für die hiervon betroffenen Menschen. Wie kaum eine andere Erkrankungsgruppe unterliegen
psychische Erkrankungen und die hiervon betroffenen Menschen öffentlicher Abwertung
mit den Konsequenzen der Selbststigmatisierung, der sozialen Ausgrenzung und Benachteiligung.
Nicht zuletzt die Selbststigmatisierung kann zu einer mangelnden Inanspruchnahme professioneller
Hilfe führen und somit zu einer möglichen Beeinträchtigung des Erkrankungsverlaufs.
Gleiches gilt für die mit sozialer Ausgrenzung einhergehende Beeinträchtigung des
sozialen Netzwerkes der Betroffenen. Für jede Institution, Gruppe oder Einzelperson,
die sich eine Verbesserung der Lebensqualität psychisch erkrankter Individuen zum
Ziel gesetzt hat, muss es daher geradezu eine Pflicht sein, der Stigmatisierung psychischer
Erkrankungen entgegenzutreten.
Die Entstigmatisierung seelischer Erkrankungen zählt also zu den zentralen Aufgaben
der mit der psychiatrischen Versorgung befassten verschiedenen Berufsgruppen und Fachgesellschaften,
den Nonprofitorganisationen und Gesundheitsbehörden, deren Ziel die Aufrechterhaltung
und Verbesserung der seelischen Gesundheit ist. Der Weltverband für Psychiatrie setzt
hier Zeichen, nicht nur durch die Einführung und Leitung des weltweiten Antistigmaprogramms
Open the doors, das inzwischen Menschen in über 20 Ländern erreicht, sondern auch
durch dessen Institutionalisierung und das Einrichten einer neuen Section on Stigma
and Mental Health. Nur durch eine solche Positionierung der mit Gesundheitsthemen
befassten Weltorganisationen (WHO, WPA) und der nationalen Regierungen kann Antistigmaarbeit
den gesellschaftlichen Stellenwert erreichen, der für die Änderung in langer Sozialisation
erworbener negativer Vorurteile und ablehnender Verhaltensweisen gegenüber Menschen
mit psychischen Erkrankungen unabdingbar ist.
Doch Vorurteile und Einstellungen zu ändern braucht Zeit und verschiedene, abgestimmte
Maßnahmen einschließlich deren Evaluation. In den Antistigmaprogrammen wird dies umgesetzt,
indem Wissen über psychische Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten vermittelt wird,
durch gebündelten Protest gegen diffamierende Darstellungen psychisch Erkrankter zum Beispiel in den Medien,
und durch das Kennenlernen und Erfahren subjektiven Erlebens und Bewältigens psychischer
Erkrankung im persönlichen Kontakt mit Betroffenen. Alle Maßnahmen sind dabei auf bestimmte Zielgruppen (z. B. Allgemeinbevölkerung,
Schüler, Lehrer, Journalisten u. a.) abgestimmt, um eine möglichst hohe Effektivität
zu erreichen. Eine weitere wichtige Grundlage für das Gelingen der Maßnahmen ist die
enge Kooperation von Experten, Betroffenen und Angehörigen.
Dabei können einzelne Interventionen zwar kurzfristig die Aufmerksamkeit für die Problematik
schärfen und in einem gewissen Ausmaß das Wissen über psychische Erkrankungen in einer
Zielgruppe verbessern, langfristige Effekte auf das tatsächliche diskriminierende
Verhalten können jedoch nur in kontinuierlichen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen
stattfindenden Bemühungen aller Beteiligten und Betroffenen erreicht werden. Insbesondere
kann dies nur gelingen, wenn die beteiligten Akteure gesundheitspolitischen Rückhalt
erfahren und das Thema in den akademischen Kanon Eingang findet. Vor diesem Hintergrund
ist die jüngste Initiative eines Nationalen Programms zur Entstigmatisierung seelischer
Erkrankungen in Deutschland unter Schirmherrschaft des BMGS und in Gründungsmitgliedschaft
von DGPPN und Open the doors einzuordnen.
Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen sind inakzeptabel, gleich aus welchem
Grund, und jeder Mensch hat das Recht, vor Ungleichbehandlung und Ausgrenzung aus
der Gemeinschaft geschützt zu werden. Die Bekämpfung von Vorurteilen und diskriminierenden
Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit seelischen Erkrankungen geht jeden Bürger
an. Sie ist eine gesellschaftliche und historische Aufgabe, die nur mit vereinten
Kräften, konsequent und mit langem Atem in einem langfristig angelegten Programm gelingen
wird.
Prof. Dr. Wolfgang Gaebel
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf
Rheinische Kliniken Düsseldorf
Bergische Landstraße 2
40629 Düsseldorf
E-mail: wolfgang.gaebel@uni-duesseldorf.de
Kontra
Stefan Priebe
Stigma kann die Versorgung und soziale Eingliederung psychisch Kranker behindern,
und dagegen sollte man etwas tun. So weit, so gut. Leider bedeutet die moralisch gute
Intention noch nicht, dass die jetzigen Antistigmakampagnen sinnvoll sind. Herkömmliche
Kampagnen - und nur um die geht es im Folgenden - beruhen auf der Annahme, die Öffentlichkeit
habe falsche Vorstellungen und unbegründete Vorurteile gegenüber psychisch Kranken
und deren Erkrankungen. Deshalb müsse die Öffentlichkeit aufgeklärt werden und mehr
Informationen über psychische Erkrankungen erhalten. Dies ist vorzugsweise mit der
Vermittlung eines medizinischen Krankheitsmodells verbunden, welches beinhaltet, dass
psychische Krankheiten zum großen Teil biologisch verursacht sind, sich qualitativ
nicht von anderen medizinischen Krankheiten unterscheiden und einer Behandlung bedürfen
[4]
[5]. Die so aufgeklärte Öffentlichkeit würde - so die Annahme - psychischen Erkrankungen
und psychiatrischen Behandlungen gegenüber eine positivere Haltung einnehmen.
Beruht dieser Ansatz auf wissenschaftlicher Evidenz, und entspricht er Prinzipien
vernünftiger Öffentlichkeitsarbeit?
Zunächst die Evidenz: Dem Ansatz der Kampagnen folgend, müsste die Akzeptanz eines
biologischen Krankheitsmodells zu einer positiveren Haltung gegenüber psychisch Kranken
führen. In der Tat hat die deutsche Bevölkerung zwischen 1990 und 2001 ein eher biologisches
Krankheitsmodell der Schizophrenie angenommen. Im gleichen Zeitraum hat der Wunsch
nach sozialer Distanz zu psychisch Kranken aber nicht ab-, sondern zugenommen [6])! Auch andere Evidenz spricht dafür, dass Antistigmakampagnen und biologische Krankheitserklärungen
ablehnendes Verhalten psychisch Kranken gegenüber fördern und vor allem die Vorstellung
verstärken, psychisch Kranke seien besonders gefährlich [7] - genau also jene Ideen, die die soziale Eingliederung psychisch Kranker mehr behindern
als alles andere [8]. Wahrscheinlich werden psychisch Kranke eher als andersartig und deshalb unberechenbar
eingeschätzt, wenn man sie für biologisch erkrankt hält [4]. Interessanterweise gibt es durchaus Hinweise, dass die Vermittlung nicht-medizinischer
alternativer Erklärungsmodelle, d. h. dass psychiatrische Störungen keine Erkrankungen,
sondern verständliche Reaktionen auf schwierige Lebensergeignisse darstellen, positivere
Einstellungen gegenüber psychisch Kranken auslösen [9]. Dies ist aber nicht das Prinzip gegenwärtig dominierender Kampagnen. Die Gründe,
warum die Kampagnen entgegen wissenschaftlicher Evidenz auf potenziell schädlichen
Strategien beharren, sind wahrscheinlich komplex und nicht das Thema dieser Stellungnahme.
Eine vollständige Aufklärung der Bevölkerung durch Psychiater kann - logischerweise
- nicht mehr Wissen vermitteln, als Psychiater selbst haben. Wenn dieses Wissen mit
einer positiveren Haltung zu psychisch Kranken verbunden wäre, müssten Psychiater
selbst das Idealbild von Vorurteilsfreiheit und Stigmalosigkeit darstellen. Tatsächlich
sind Psychiater psychisch Kranken gegenüber im Schnitt etwas positiver eingestellt
als die Allgemeinbevölkerung, was als Selektionseffekt erklärt werden kann, denn ein
Mediziner mit besonders negativer Haltung zu psychisch Kranken wird sich kaum für
eine Karriere in der Psychiatrie entscheiden. In einigen Punkten zeigen Psychiater
aber nicht etwa positivere, sondern negativere Einstellungen als die Allgemeinbevölkerung.
Aussagen wie „Ein Mann (eine Frau) wäre dumm, eine(n) psychisch Kranke(n) zu heiraten,
selbst wenn diese(r) vollständig geheilt erscheint” und „Ich möchte nicht neben einem
psychisch Kranken wohnen” können als Zeichen von Stigma gewertet werden. Diese stigmatisierenden
Aussagen werden häufiger von der Bevölkerung „stark abgelehnt” als von Psychiatern
[10]. Selbst wenn Antistigmakampagnen es also schaffen würden, die gesamte Bevölkerung
so umfassend aufzuklären, dass alle den Wissenstand psychiatrischer Fachärzte erreichen,
wären Stigma und soziale Diskriminierung von psychisch Kranken nicht ausgeräumt, sondern
in manchen Aspekten vielleicht sogar verstärkt.
Nun zu den Prinzipien von Öffentlichkeitsarbeit: Die Tatsache, dass ein Teil der Kampagnen
von der Pharmaindustrie bezahlt wird, ist an sich zwar noch nicht ehrenrührig, sollte
aber doch zur Vorsicht mahnen. Geht es hier vielleicht eher darum, dass möglichst
vielen Menschen verständlich gemacht wird, sie sollten Pharmaka zur Behandlung ihrer
psychischen Störungen einnehmen, als um eine Überwindung von Stigma zur Förderung
der sozialen Integration? Antistigmakampagnen haben einen vorwürflichen Ausgangspunkt:
Die Bevölkerung hat stigmatisierende Vorurteile, und das ist falsch. Jeder Psychotherapeut
weiß, dass man mit Vorwürfen und Beschuldigungen selten Verhaltensänderungen erreicht.
Wie kommen wir als Psychiater eigentlich dazu, „die Bevölkerung als stigmatisierend
zu stigmatisieren” [11]? Warum beginnen wir mit einer Kritik und nicht mit einem bewundernden Lob für die
insgesamt positive Haltung psychisch Kranken gegenüber, die in der Bevölkerung immer
noch dominiert, oder für die zahlreichen Bürger- und Laienhelfer, die sich jeden Tag
in Deutschland unentgeltlich für psychisch Kranke einsetzen und einen Teil ihrer Freizeit
im Kontakt mit psychisch Kranken verbringen?
Wenn die gegenwärtigen Antistigmakampagnen also keinen Sinn machen, muss man dann
die Flinte ins Korn werfen und der weiteren Entwicklung gesellschaftlichen Stigmas
psychisch Kranker tatenlos zusehen? Überhaupt nicht! Aber anstatt Werbekampagnen zu
konzipieren, sollten sich Psychiater darauf konzentrieren, die Lage psychisch Kranker
und ihre soziale Integration in der täglichen Realität zu verbessern. Erforderlich
sind nicht Vorwürfe an die Bevölkerung, sie sei mit ihrer Stigmatisierung an der Ausgrenzung
psychisch Kranker Schuld, sondern effektivere Behandlungen, um Krankheitsverläufe
und soziale Integration psychisch Kranker tatsächlich zu verbessern.
Prof. Dr. Stefan Priebe
Academic Unit
Newham Centre for Mental Health
London E13 8SP, UK
E-mail: S.Priebe@qmul.ac.uk