Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55(6): 281-282
DOI: 10.1055/s-2005-866901
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Palliative Versorgung - ein von der psychosozialen Forschung in Deutschland vernachlässigtes Thema

Palliative Care - A Neglected Issue in Psychosocial Research in GermanyUwe  Koch1 , Anja  Mehnert1
  • 1Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
09 June 2005 (online)

Palliative Versorgung wird im internationalen Konsens als die Versorgung derjenigen Patienten mit einer nicht heilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung definiert, die auf eine kurative Therapie nicht mehr anspricht. Ihr Ziel ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen. Sowohl in der Phase der Erkrankung als auch in der Phase des Verlusts und der Trauer soll die palliative Versorgung den körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Erwartungen und Bedürfnissen nachkommen und dabei gleichzeitig den persönlichen, kulturellen, und religiösen Werten und Überzeugungen einfühlsam begegnen. Diese Definition entspricht einem modernen Verständnis der Aufgabenstellungen in der Behandlung schwer- und terminal kranker Patienten. Während traditionelle Konzeptionen eine klare Zweiteilung der medizinischen Versorgung in eine kurative und eine palliative Versorgung vorsahen, die sich überwiegend auf die Linderung von Schmerzen und anderen körperlichen Symptomen konzentrierte, zeichnen sich neue Sichtweisen orientiert an einem biopsychosozialen Medizinverständnis durch einen fließenden Übergang zwischen einer aktiv und einer palliativ intendierten Behandlung aus, die sich auf den Patienten und seine Angehörigen konzentriert.

Das Erleben vieler Schwerstkranker und Sterbender ist geprägt durch Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, durch Ängste vor körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Atemnot und Siechtum, Ängsten vor Autonomieverlust und sozialer Isolation und Befürchtungen, eine Belastung für andere, vor allem Angehörige, darzustellen. Das häufige gemeinsame Auftreten multipler körperlicher und psychischer Symptome und Syndrome ist damit kennzeichnend für die Situation von terminal Kranken. Die inzwischen international verfügbaren epidemiologischen Studien zeigen dementsprechend, dass ein erheblicher Anteil palliativ behandelter Patienten mit einer fortgeschrittenen Erkrankung Angststörungen, depressive Störungen, Suizidgedanken und kognitive Störungen wie Delir aufweist (vgl. [1]). Es gibt auch Hinweise darauf, dass diese Störungen häufig nicht erkannt und behandelt werden. Neben fehlender fachlicher Kompetenz und verfügbaren Ressourcen liegt dies auch in Schwierigkeiten begründet, die psychischen Symptome vor dem Hintergrund der dominierenden körperlichen Symptome zu identifizieren. Die beschriebenen Problemstellungen erfordern von professionellen Behandlern einen Ausbau ihrer Fertigkeiten und ihres Könnens, um psychische Symptome und psychosoziale Probleme im palliativen Setting mit einem ebenso hohen Standard wie körperliche Beschwerden behandeln zu können. Neben den bei einem Teil der Patienten indizierten psychopharmakologischen Therapien kann inzwischen, wie internationale Studien zeigen, ein breites Spektrum psychotherapeutischer Interventionen erfolgreich zur Behandlung und Mitbehandlung psychischer und auch körperlicher Beschwerden bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Erkrankung eingesetzt werden. Oft handelt es sich dabei um situationsangepasste supportive Interventionen kombiniert mit kognitiv-behavioralen Angeboten. Weiterhin werden narrative Psychotherapie und Ansätze, die auf den Lebensrückblick fokussieren, sinnzentrierte und existenzielle Psychotherapie sowie Trauerarbeit beschrieben.

Die psychologischen Aufgabenstellungen in der Palliativmedizin beschränken sich aber keineswegs auf die Behandlung psychischer Symptome („Symptommanagement”). Die Mitgestaltung kommunikativer Prozesse stellt ein weiteres wichtiges Anforderungsmerkmal des psychologischen Spezialisten in diesem Feld dar. Zu nennen sind hier u. a. das Überwinden (oder auch Akzeptieren) von Kommunikationsbarrieren, die Fertigkeit zum Überbringen schlechter Nachrichten oder die Berücksichtigung der die sprachliche Kommunikation einschränkenden Besonderheiten terminal Kranker. Erforderlich sind weiterhin psychologische Kompetenzen für die Gespräche mit den Patienten, den Angehörigen und den anderen Teammitgliedern, z. B. wenn es darum geht, bei den regelhaft auftretenden schwierigen Entscheidungen im Krankheitsverlauf gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Letzteres berührt auch Fragen im Zusammenhang mit einer Patientenverfügung, Betreuungsverfügung oder einer Vorsorgevollmacht wie auch Fragen nach passiver oder gar aktiver Sterbehilfe. Wesentliche Leitprinzipien der Gestaltung der Kommunikation sind persönliche Wertschätzung des Patienten, Bewahrung größtmöglicher Autonomie in den Entscheidungsprozessen und Reflektion dessen, was die betroffenen Patienten als würdevollen Umgang erleben.

Stärker als in anderen Bereichen der medizinischen Versorgung ist in palliativen Versorgungssettings eine hohe interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Berufsgruppen (Medizin, Pflege, Psychologie, Sozialarbeit, Seelsorge) einerseits und den ehrenamtlichen Helfern, den Angehörigen und dem sozialen Umfeld des Patienten andererseits erforderlich. Die Gestaltung und Förderung dieser Zusammenarbeit kann deshalb als weitere wesentliche Aufgabe des psychosozialen Spezialisten gesehen werden.

Betrachtet man die gegenwärtige Versorgungssituation von terminal Kranken in Deutschland, so stellt sich die Situation bezüglich der verfügbaren psychosozialen Kompetenz je nach Versorgungsbereich sehr unterschiedlich dar. Während die Hospize in der Regel über psychologische Spezialisten verfügen, ist dies für die Palliativstationen nicht durchgängig gesichert. Hier zeigt sich zum Teil noch eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Nutzung und den Erfolgen der Techniken einer modernen Hochleistungsmedizin einerseits und den Bedürfnissen vieler Patienten und Angehörigen nach psychologischer und psychosozialer Unterstützung andererseits. Eine Möglichkeit, die beschriebene Differenz zu verringern, könnte in einer intensiveren wissenschaftlichen Befassung mit den psychischen und sozialen Problemlagen von Palliativpatienten und die Umsetzung dieser gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen von innovativen palliativen Versorgungsmodellen liegen. Hier fällt auf, dass in Deutschland im Gegensatz zum angloamerikanischen Raum die Psychosomatik, die Medizinische Psychologie und die Medizinische Soziologie das Thema unter wissenschaftlicher Perspektive eher vernachlässigen.

PPmP greift in diesem Heft die Thematik auf. Wichtige Teilaspekte werden in drei empirischen Beiträgen behandelt, die alle auf einem im Rahmen des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Modellvorhabens „Patienten als Partner - Tumorpatienten und ihr Mitwirken bei medizinischen Entscheidungen” basieren. Behandelt werden die Vorstellungen und Wünsche von terminal kranken Tumorpatienten bezüglich des eigenen Sterbens, die Einstellungen und Mitsprachemöglichkeiten von Angehörigen aus der Sicht von Angehörigen und Ärzten palliativ behandelter Patienten sowie die Beurteilung der letzten Lebenszeit der Patienten aus der Perspektive von Hinterbliebenen.

Literatur

  • 1 Chochinov H M, Breitbart W (eds). Handbook of Psychiatry in Palliative Medicine. New York; Oxford University Press 2000

Prof. Dr. Dr. Uwe Koch

Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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