Pro
Bernd Eikelmann, Dirk Richter, Thomas Reker
Gemeindenahe Psychiatrie und Sozialpsychiatrie fokussieren das Phänomen chronisch
psychischer Krankheiten und Kranker. Theoretisch ist die Entschlüsselung des Rätsels
kaum gelungen, denkt man etwa an die kaum verstandene Negativsymptomatik der Schizophrenie.
Die Praktiker waren jedoch in den letzten 30 Jahren sehr wohl erfolgreich und haben
ausgesprochen viel erreicht. Zehntausende Plätze im betreuten Wohnen, eine Vielzahl
von Selbsthilfe-, Zuverdienst- und Integrationsfirmen, Abteilungen für psychisch Kranke
in den Werkstätten für Behinderte, sozialpsychiatrische Dienste, Integrationsfachdienste,
Psychiatriereferenten und Gremien, Freizeitclubs, gemeindepsychiatrische Verbünde
und vieles andere mehr belegen dies. Es gelang der Übergang von der anstaltszentrierten
Versorgung chronisch Kranker zu einer dezentralen Form der Betreuung, die in ihren
vielen Facetten vor allem einer Zutat bedarf: der vertraglichen Verpflichtung zur
Kooperation und Koordination wie in den gemeindepsychiatrischen Verbünden vorgesehen.
Es gibt begründeten Anlass anzunehmen, dass die Zahl der institutionalisierten Personen
durch die Deinstitutionalisierung nicht geringer geworden ist [1]. Es hat eine „große” Migration aus der intensivsten, restriktivsten und teuersten
Form der Betreuung, der Langzeitunterbringung im Krankenhaus, in minder aufwändige
und restriktive Formen der Betreuung, also Heime, Wohnverbünde, Wohngruppen und Einzelwohnen
stattgefunden. So erfolgreich und unverzichtbar gemeindenahe Psychiatrie ist, werden
gleichwohl Misserfolge und bedeutende Nachteile sichtbar. Was früher in Konstrukten
wie Armut aufging, findet sich heute modern gefasst in sozialer Exklusion wieder.
So stehen Erwachsene mit psychischen Störungen (in Großbritannien) nur zu 24 % in
Arbeit. Sie tragen doppelt bis dreifach höhere Risiken für Jobverlust, erhebliche
Verschuldung, Scheidung, Mietrückstände oder Wohnungsverlust [2]. Vier von zehn Patienten, die in Kontakt mit gemeindepsychiatrischen Institutionen
stehen, haben demnach ausschließlich Kontakt zu anderen Patienten und Betreuern, ein
Viertel enthält sich fast jeglicher Aktivität in der Gemeinde, und über 80 % der Betroffenen
fühlen sich gleichzeitig isoliert, wobei die Situation junger Menschen aus ethnischen
Minderheiten besonders negativ ausfällt. Der Zugang zu Wohnungen, zum Sozial- und
Rechtssystem gilt als weitgehend verschlossen. Vor allem durch Stigmatisierung und
Diskriminierung zähle diese Gruppe zu den am meisten ausgeschlossenen Gruppen in der
Gesellschaft. Die jährlichen Kosten für Betreuung, ökonomische Einbußen und vorzeitigen
Tod werden auf über 100 Milliarden Euro geschätzt [3]. Aus Sicht der Betroffenen liegen die Defizite ebenfalls klar auf der Hand: es fehle
an geeigneter Arbeit, sozialen Kontakten und intimen Beziehungen [4]
[5]. Die Gemeindepsychiatrie hat die anfangs in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt.
Die dort Betreuten bleiben abhängig von Einrichtungen und Therapeuten, sie kommunizieren
und verkehren unter ihresgleichen und schaffen es selten oder nie, sich in „normale”
Biografien einzufügen. Das Leben bleibt blass, die Lebensqualität wird eingeschränkt
nicht zuletzt durch finanzielle Restriktionen, innere und äußere Distanz zu der „Gemeinschaft
der Gesunden”.
Ist dieser Ansatz an seine Grenzen gestoßen? Was kann folgen? Ein Blick auf die gesamte
Kulisse der Versorgung ist hier erforderlich. Psychiatrische Versorgungskliniken,
Tageskliniken, Institutsambulanzen und die oben genannten vielfältigen Dienste sind
im Schwerpunkt mit chronisch Kranken befasst. Einer Regel des italienischen Ökonomen
W. Pareto folgend erhält somit eine kleine Gruppe besonders betreuungsintensiver Patienten
einen Großteil der Ressourcen. Die Kosten werden teils von den Krankenversicherungen,
vielfach aber von der Sozialhilfe und den Betroffenen bzw. ihren Familien selbst aufgebracht.
Sie erhalten unschwer Zugang zu Behandlungseinrichtungen, zu den gemeindenahen Institutionen
und Diensten aber mit teils erheblicher Latenz und Mühe. Dort werden sie zum Teil
in Doppelbetreuung hier im Wohnen, da bei der Arbeit und wieder da in der Freizeit
zumeist mit sozialarbeiterischen und pädagogischen Konzepten angeleitet, unterstützt
und motiviert. Die Erfolge bestehen vermutlich häufig in der Vermeidung psychiatrischer
Hospitalisierungen und können sich sehen lassen, bedeuten jedoch vielfach einen Verbleib
in dieser Psychiatriegemeinde. Bleibt zu erwähnen, dass für wenige Patienten die Rehabilitationseinrichtungen
für psychisch Kranke (RPKs, [6]) offen stehen, viele chronisch psychisch Kranke werden dagegen gar nicht (z. B.
Wohnungslose) oder nicht psychiatrisch betreut (z. B. Seniorenzentren, Strafvollzug).
Daneben existiert eindrucksvoll die institutionelle psychiatrische und psychosomatische
Rehabilitationsmedizin, zumeist gemeindefern im deutschen Mittelgebirge oder in Erholungsgebieten,
die sich zunehmend als Ergänzung oder Alternative zu den konventionellen (teil-)stationären
Angeboten geriert. Allein die psychosomatische Rehabilitation umfasst 15 400 Betten, in denen im Jahr 2001 etwa 125 000 Patienten
mit im Schwerpunkt psychotherapeutischen Mitteln rehabilitiert wurden. Die mittlere
Verweildauer dafür betrug etwa 38 Tage. Es kamen noch etwa 11 400 Betten in der psychiatrischen Rehabilitation hinzu, in denen etwa 44 000 Suchtkranke in einer mittleren Liegezeit
von 84 Tagen entwöhnt wurden [7]. Während psychiatrische Versorgungskliniken ihre Bettenzahl erheblich reduzieren
konnten, ist es bei den psychosomatischen Rehabilitationsbetten zwischen 1991 und
2001 zu einem Anstieg von über 80 % gekommen. Diese sind mit den gemeindepsychiatrischen
Verbünden und Institutionen nicht vernetzt. Rehabilitation in der Psychiatrie und
Psychosomatik scheint in praxi dreierlei zu bedeuten: a) gemeindebasierte Betreuung
chronisch Kranker und b) klinische, psychotherapiezentrierte Rehabilitation (zur Wiederherstellung
der Erwerbsfähigkeit) von reisefähigen Patienten und c) Entwöhnung Suchtkranker außerhalb
der großen Zentren. Übergänge zwischen a), b) und c) fehlen ebenso wie Übergangsinstitutionen
in b).
Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Störungen haben zwischen 1997 und 2001 um
über 50 % zugenommen, Frühberentungen wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit sind seit
1983 sogar um 50 % bei Männern und 300 % bei Frauen angestiegen [8]. Sind die kleinen, von tausend verschiedenen Trägern betriebenen, gemeindenahen
Einrichtungen in der Lage, sich für diese Noch-nicht-chronisch-Kranken zu öffnen,
die gleichwohl an sich abzeichnenden Behinderungen leiden? Oder muss die große Rehabilitationspsychiatrie
und -psychosomatik sich dieser Menschen annehmen? Besteht der beste personenzentrierte
Ansatz nicht in einer Form der Betreuung, die auf Institutionsanbindung weitestgehend
verzichten kann? Als Beispiel gilt das supported employment (SE), dessen Rationale darauf basiert, dass Patienten in (Teil-)Remission mit Unterstützung
eines „job coaches” an einen kompetitiven und realistischen Arbeitsplatz vermittelt
werden. Dieses Modell künftiger Rehabilitation („first place then train”) profitiert
von naturalistischen Reha-Bedingungen und einer nicht allzu großen Nähe zu psychiatrischen
Institutionen [9]. Die wissenschaftliche Evidenz für den Erfolg des SE ist überwältigend [10]. Es liegt folglich nahe, für weitere Aufgaben der Rehabilitation einen „life coach” zu fordern, der assoziiert an eine psychiatrische Institution die Betreuung psychisch
Kranker übernimmt und sie dabei unterstützt, sich im familiären Umkreis oder im gesellschaftlichen
Umfeld, in der Partnerschaft, im Straßenverkehr zu bewähren. Ähnlichkeiten zum so
genannten Case manager sind rein zufällig, da es sich bei dem „Life coach” um einen im Umgang mit psychisch
Kranken erfahrenen und geschulten Sozialarbeiter o. ä. handeln sollte, der als unmittelbarer
Betreuer, als Vorbild und Vermittler intensiv, nahezu täglich zur Verfügung stehen
sollte. Es unterbliebe somit die Einbindung in psychiatrische Institutionen oder Gemeinschaften.
Stigmatisierung und Kostenproblematik ließen sich vermutlich enger eingrenzen. Kooperationen
der Träger wären hier denkbar, wenngleich der tägliche Umgang mit chronisch psychisch
Kranken bezüglich künftiger Chancen und Entwicklungen Demut und Bescheidenheit lehrt.
Prof. Dr. med. Bernd Eikelmann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Städtisches Klinikum Karlsruhe
Kaiserallee 10
76135 Karlsruhe
E-mail: bernd.eikelmann@klinikum-karlsruhe.com
Kontra
Peter Brieger
Das Ziel ist klar: Die Teilhabe von Menschen mit psychischen Störungen am gesellschaftlichen
Leben soll uneingeschränkt und selbstbestimmt ermöglicht werden. Hilfen werden gemeindenah
und bedarfsgerecht gestaltet, sie folgen den Prinzipien „ambulant vor stationär”,
der Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken, dem Normalisierungsprinzip
und dem Prinzip des „Empowerment” - der Stärkung von Selbstbestimmung. Das „rein biomedizinische
Modell”, das Defizite in Form von Störungen, Behinderungen und Beeinträchtigungen
als zentral erachtet hat, wurde durch eine „ressourcenorientierte Herangehensweise”
abgelöst: In der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung
und Gesundheit (ICF) der WHO werden die Fähigkeiten der Betroffenen in Vordergrund
gestellt [11]. Damit werden Behinderungen und gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen nicht als
statisch, sondern als dynamische Interaktionen mit der Umwelt verstanden [12].
Bedeutet das, dass Behinderung verschwindet, wenn wir diese Umwelt optimieren, indem
wir eigene Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen abschaffen? Wir lösen Wohnheime,
Tagesstätten, Kontaktstellen und Sozialpsychiatrische Dienste auf, stattdessen nutzen
psychisch kranke Menschen Volkshochschulen, Bürgervereine und Bibliotheken, schon
kann echte Normalisierung greifen: Psychiatrische Patienten werden wieder zu Bürgern
…. Hinter solchen Gedanken scheinen alt bekannte Mythen zu stehen, wie etwa dass psychische
Erkrankungen soziale Konstrukte seien [13] oder dass chronisch psychisch kranke Menschen eigentlich nur „echter” psychosozialer
Unterstützung bedürften, während medizinische Behandlung ihnen im Verlauf eher abträglich
wäre [14]. Unzweifelhaft führt das „real existierende” psychiatrische Versorgungssystem oft
ein Eigenleben jenseits der breiten Öffentlichkeit. Seine Hilfeangebote können den
Anspruch auf gesellschaftlicher Teilhabe nur begrenzt einlösen. Die fassbaren Mauern
der Anstalt sind unsichtbaren Mauern „komplementärer” Angebote gewichen: Isolierung,
Stigmatisierung und Bevormundung erleben Nutzer auch dort [15]. Die Gemeindepsychiatrie hat außerdem in den letzten zehn Jahren ein Anwachsen von
Heimplätzen und forensischen Betten erlebt [16], wohl auch aufgrund eines wachsenden Sicherheits- und Ordnungsbedürfnisses der Gesellschaft.
Solche (Fehl?)Entwicklungen können grundlegende Erfolge einer modernen Gemeindepsychiatrie
aber nicht infrage stellen [17]. Die WHO [18] empfiehlt wohlhabenden Staaten eine abgestimmte Differenzierung ihrer gemeindepsychiatrischen
Hilfen. Sie sieht diesen Prozess - nach Aufstieg und Fall der psychiatrischen Anstalten
- als dritte Periode in der Geschichte psychiatrischer Versorgung. Ein Abschaffen
der gestuften Versorgungsangebote für psychisch kranke Menschen empfiehlt sie nicht.
Es ist vielmehr darauf hinzuwirken, dass die Angebote weiter an den Bedarf der psychisch
Kranken angepasst werden. Es gibt nämlich heute ausreichende Evidenz dafür, dass differenzierte
sozialpsychiatrische Versorgungsangebote den Betroffenen helfen [19]. Kann auch die Volkshochschule dem chronisch psychotisch kranken Mann ein seinen
Bedürfnissen angemessenes Angebot machen? Wahrscheinlich öfter als wir „Profis” denken.
Jedoch wird absehbar ein relevanter Teil der Betroffenen dort nicht die vollständige
Hilfe finden, die sie sich wünschen und die sie benötigen. Gut gestaltete psychosoziale
Hilfen für psychisch kranke Menschen gewähren dagegen einen Begegnungsraum, der Hilfen
vorhält oder vermittelt, die bedarfsgerecht sind und bei denen die Qualität stimmt
- der aber auch Schutz und Rückzugsmöglichkeit bietet, indem die Angebote den Fähigkeiten
der Betroffenen angepasst sind.
Im Gesundheits- und Sozialsystem werden gerade in letzter Zeit Leistungskürzungen
mit Etiketten wie Autonomie oder Qualität verschleiert. Wohlgemeinte sozialpsychiatrische
Ideen laufen dann Gefahr, als trojanisches Pferd für Sparmaßnahmen missbraucht zu
werden, obwohl gute Gemeindepsychiatrie nicht viel kostengünstiger ist als die „alte
Anstaltspychiatrie” [18]. Die Kritik an der „Psychiatriegemeinde” kann dann als Aufforderung missverstanden
werden, die Gemeindepsychiatrie zurückzubauen. Gesellt sich dazu noch eine utilitaristische
Theorie der sozialen Gerechtigkeit [20], die eine breit angelegte psychiatrische Basisversorgung für die Gesamtbevölkerung
auf Kosten des Ausbaus der Spezialversorgung besonders benachteiligter Gruppen (z.
B. chronisch psychisch Kranker) fordert, dann ist ein versorgungspolitisches „Roll-back”
absehbar. Man denke an das Beispiel USA: Dort wies der „Surgeon General” darauf hin,
dass es unter anderem durch Einsparungen bei öffentlichen Gesundheits- und Sozialleistungen
zu einem überproportionalen, Besorgnis erregenden Abbau in der psychiatrischen Versorgung
gekommen ist. Stehen dafür in Deutschland nicht auch schon manche Kostenträger in
den Startlöchern?
Trotz mancher Fehlentwicklungen sind die Errungenschaften der Gemeindepsychiatrie
groß. Ihre unsichtbaren Mauern weiter abzubauen ist wichtig - hier muss sich manches
ändern: Das bestehende Versorgungskonzept deswegen grundsätzlich infrage zu stellen,
ist nicht nur unangemessen, es scheint auch politisch unklug.
Danksagung
Dr. H.-J. Kirschenbauer (Frankfurt/Main) für Hinweise und Diskussion.
Priv.-Doz. Dr. med. Peter Brieger
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
06097 Halle/Saale
E-mail: peter.brieger@medizin.uni-halle.de