Bösartige Erkrankungen im Kindesalter sind ein im Einzelfall schwer wiegendes, an
der Gesamtzahl der bösartigen Neubildungen über alle Lebensalter gemessen aber ein
seltenes Ereignis. Die oft unspezifischen Initialsymptome zum Beispiel einer Leukämie
(Blässe, Abgeschlagenheit, Infektanfälligkeit) führen in aller Regel zur Vorstellung
beim Kinderarzt und dann bei begründetem Verdacht auf eine bösartige Neubildung zur
Überweisung zu einem pädiatrischen Onkologen.
Bei eher organbezogenen Symptomen solider Tumoren (z.B. Schwellung und Schmerz bei
Knochentumoren oder Makrohämaturie bei Nierentumoren) werden die Kinder dagegen nicht
selten an einen nichtpädiatrischen Facharzt überwiesen - liegen zum Beispiel Knochentumoren
vor, ist dies oft der Orthopäde, bei Nierentumoren der Urologe. In dieser Situation
ist es insbesondere auch unter prognostischen Gesichtspunkten oft von entscheidender
Bedeutung, dass der in der Erwachsenenonkologie durchaus erfahrene Facharzt die Diagnose-
und Therapiemodalitäten der pädiatrischen Onkologie in ihren wesentlichen Inhalten
kennt und die weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte in enger Kooperation
mit einer in der pädiatrischen Onkologie erfahrenen Kinderklinik durchführt.
Vernetzte Strukturen führten zum Erfolg
Vernetzte Strukturen führten zum Erfolg
Noch vor gut 30 Jahren galt es als nahezu aussichtslos, Kinder mit bösartigen Erkrankungen
kurativen Therapieoptionen zuzuführen. Nur einige wenige Pioniere der pädiatrischen
Onkologie, dazu zählen unter anderem Riehm (Berlin), Konhuber (Frankfurt) oder Schellong
(Münster), haben damals solche Behandlungskonzepte auch in der onkologischen Pädiatrie
eingesetzt - teilweise unter erheblichen Anfeindungen. Heute dagegen gibt es für nahezu
jede bösartige Erkrankung im Kindesalter etablierte Therapiestrategien mit in der
Regel guten bis sehr guten Heilungschancen.
Diese „Erfolgsstory der pädiatrischen Onkologie” [2] war nur möglich durch den Auf- und Ausbau integrierter, kooperativer und vernetzter
Strukturen für Erfassung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge pädiatrisch-onkologischer
Erkrankungen unter dem Dach der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie
(GPOH). Wesentliche institutionelle Elemente der genannten kooperativen Struktur sind
insbesondere
-
das Deutsche Kinderkrebsregister am Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie
und Informatik (IMBEI) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
-
das Kompetenznetz Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (KPOH), Koordinationszentrale
an der Charité, Berlin
-
das Deutsche Kindertumorregister an der Universität Kiel
-
Therapieoptimierungsstudien der GPOH mit den jeweiligen diagnostischen und therapeutischen
Referenzzentren [Tab. 1]
-
das onkogenetische Labor für zyto- und molekulargenetische Leukämiediagnostik in Gießen
-
das pädiatrische Register für Stammzelltransplantation
-
Projekte zur Lebensqualität, zur psychosozialen Betreuung und ein Projekt zur Erfassung
von Spätfolgen
-
die Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Radioonkologie (APRO) der GPOH und DEGRO
(Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie).
Krebserkrankungen von Kindern und Jugendlichen zeichnen sich gegenüber denen von Erwachsenen
durch eine Reihe von Besonderheiten aus: Zum einen ist Krebs bei Kindern und Jugendlichen
selten, zum anderen handelt es sich dabei um Leukämien und Tumoren, die in den meisten
Fällen kurativ behandelt werden können. Zudem geht es bei der Behandlung nicht allein
darum, die maligne Erkrankung erfolgreich zu bekämpfen. Vielmehr muss das Therapiekonzept
von Anfang an darauf ausgerichtet sein, akute Nebenwirkungen und Spätfolgen auf ein
Mindestmaß zu limitieren.
Akute Nebenwirkungen sind häufig und zum Teil gravierend. Eine konsequente Supportivtherapie
kann jedoch dazu beitragen, Nebenwirkungen zumindest in einem gewissen Umfang zu vermeiden
und zu begrenzen, sodass diese meist beherrschbar sind. Spätfolgen werden unter Umständen
erst nach Jahrzehnten manifest. Da die erfolgreiche Behandlung erst in den vergangenen
drei Jahrzehnten entwickelt werden konnte, sind sie noch nicht in ihrem gesamten Ausmaß
bekannt. Es ist aber eindeutig, dass die Inzidenz von therapieinduzierten Sekundärmalignomen
bei Überlebenden einer Krebserkrankung höher ist als die von primären Malignomen in
der Normalbevölkerung. Dies beeinflusst die Überlebenserwartung und die Lebensqualität
der Kinder also maßgeblich.
Etwa 1800 Kinder erkranken jährlich
Etwa 1800 Kinder erkranken jährlich
Im Deutschen Kinderkrebsregister wurden von 1980-2003 35367 Kinder unter 15 Jahren
mit Neuerkrankungen an bösartigen Neubildungen (definiert nach der „International
Classification of Childhood Cancer”, ICCC; 4) erfasst. Demnach erkranken in der Wohnbevölkerung
der Bundesrepublik Deutschland jährlich zirka 1800 Kinder unter 15 Jahren an einer
der im deutschen Kinderkrebsregister erfassten Erkrankungen. Dies entspricht einer
jährlichen Inzidenz von 14,2/ 100000 Kinder unter 15 Jahren und einer kumulativen
Inzidenz von 212/100000 (0,2 %). Anders ausgedrückt: Jedes 470. Kind wird im Laufe
seiner ersten 15 Lebensjahre an einer der genannten Neoplasien erkranken.
Bei Langzeitverläufen der Inzidenzen allgemein und von Inzidenzen einzelner Malignome
zeigen sich Schwankungen, die zum Beispiel durch unterschiedliches Meldeverhalten
(Tumoren des zentralen Nervensystems), geänderte Differenzialdiagnostik (Leukämien,
maligne Lymphome) oder spezielle Screeningprogramme (Neuroblastom) erklärt werden
können ([Abb. 1]; [6]). Eine generelle Zunahme der Inzidenz bösartiger Erkrankungen im Kindesalter in
Deutschland ist nicht nachgewiesen.
Vom ersten bis zum zehnten Lebensjahr zeigt die alterspezifische Inzidenz eine abnehmende
Tendenz. Sie erreicht dann zunächst ein stabiles Plateau, bevor bei Jugendlichen die
Inzidenz an malignen Erkrankungen bis ins Erwachsenenalter hinein kontinuierlich zunimmt.
Generell besteht - über alle Altersgruppen hinweg - bei Jungen eine gegenüber Mädchen
gering erhöhte Inzidenz. Regionale Unterschiede der Auftretenshäufigkeit bösartiger
Neubildungen im Kindesalter konnten im Verlauf der letzten 25 Jahre in Deutschland
nicht festgestellt werden.
Bei der Betrachtung der Häufigkeitsverteilung einzelner Tumorentitäten zeigt sich
gegenüber der von Erwachsenen ein deutlich differentes Bild ([Abb. 2], [3], [4]). Mit 45,6 % aller Neuerkrankungen überwiegen die Leukämien und malignen Lymphome,
gefolgt von 21,1 % Tumoren des Zentralnervensystems [Abb. 2]. Bezogen auf einzelne Neoplasien bilden die akuten lymphatischen Leukämien die mit
Abstand größte Gruppe - gefolgt von Astrozytomen (alle Grade), Neuroblastomen und
malignen Lymphomen [Abb. 3].
Oft mit guter Prognose
Oft mit guter Prognose
Verbesserungen der Diagnose- und Behandlungsstrategien im Laufe der Jahre haben die
Überlebensraten deutlich verbessert. Zwar war die Wahrscheinlichkeit des Fünf-Jahresüberlebens
bezogen auf die Gesamtheit der Malignome bereits im Zeitraum von 1984-1988 mit 72
% sehr hoch. Mit 81 % konnte sie in den Jahren von 1999-2003 nochmals gesteigert werden.
Am deutlichsten sind die Prognoseverbesserungen bei den nichtlymphatischen Leukämien
(von 40 nach 62 %) und den Neuroblastomen (von 57 nach 77 %) zu erkennen. Teilweise
ist dies dadurch bedingt, dass mithilfe des Neuroblastom-Screenings in den späten
1990er Jahren zusätzlich Patienten mit sehr guter Prognose diagnostiziert wurden.
Besonders beeindruckend ist die Tatsache, dass die genannten Überlebensraten auch
langfristig Bestand haben. Die 15-Jahresüberlebensrate für alle Neoplasien für den
Diagnosezeitraum 1989-1993 liegt bei 71 % (95 %-Konfidenzintervall: 70-72).
Am höchsten ist die Wahrscheinlichkeit eines ereignisfreien Überlebens („probability
of event free survival”, pEFS) für Kinder mit Hodgkin-Lymphom: In diesem Fall leben
nach 15 Jahren noch 84 % der Betroffenen ohne ein weiteres Lymphom zu entwickeln.
Eine deutlich schlechtere Prognose hingegen haben Kinder mit Knochentumoren (Ewingsarkom,
Osteosarkom), Weichteiltumoren und primitiv neuroektodermalen Tumoren (PNET): Hier
beträgt die Wahrscheinlichkeit eines ereignisfreien Überlebens nach 15 Jahren zwischen
53 und 40 %.
Ein ganzheitliches Konzept ist gefragt
Ein ganzheitliches Konzept ist gefragt
Die aufgezeigten Besonderheiten kindlicher Krebserkrankungen machen deutlich, dass
die Behandlung alle diese Aspekte berücksichtigen, also ganzheitlich ausgerichtet
sein muss. Bereits wenn der Verdacht auf eine Krebserkrankung besteht, müssen Kinder
in eine kinderonkologische Behandlungseinrichtung überwiesen werden, die eine fachkompetente
ärztliche, pflegerische und psychosoziale Versorgung und Betreuung gewährleisten kann.
Sowohl die Diagnostik als auch die Therapie müssen konsequent und nach einem entsprechend
ausgearbeiteten Behandlungskonzept erfolgen, um die zu Erkrankungsbeginn bestehenden
Heilungschancen des Betroffenen zu wahren und Nebenwirkungen zu begrenzen. Behandlungsverläufe
und -ergebnisse sind detailliert zu dokumentieren und auszuwerten, um aus den erhobenen
Daten Rückschlüsse auf die Qualität des Therapiekonzepts und seiner Verwirklichung
ziehen zu können. Nachfolgende Konzepte müssen mit dem Ziel der Therapieoptimierung
konsequent diese Erkenntnisse der klinischen Forschung mit parallel dazu erarbeiteten
Ergebnissen der Grundlagenforschung zusammenführen.
Diagnostik
Prinzipiell erfolgen sowohl die initiale als auch die Verlaufsdiagnostik in der pädiatrischen
Onkologie nach den gleichen Prinzipien wie in der Onkologie bei Erwachsenen. Bis auf
wenige Ausnahmen sind auch die diagnostischen Methoden die gleichen. So kann zum Beispiel
bei Säuglingen mit Verdacht auf Hirntumor die Verdachtsdiagnose oft schon mit einer
einfachen und wenig aufwändigen Ultraschalluntersuchung des Schädels durch die noch
offene Fontanelle abgeklärt werden. Dennoch wird auch hier im nächsten Schritt eine
Magnetresonanztomografie des Schädels erforderlich sein.
Während ein Großteil der Untersuchungen im Rahmen des Stagings bei Erwachsenen zumeist
ambulant erfolgen kann, ist bei der Initialdiagnostik bei tumorerkrankten Kindern
in aller Regel ein stationärer Aufenthalt erforderlich. Dieser sollte ausnahmslos
in einer entsprechend erfahrenen pädiatrisch-onkologischen Abteilung erfolgen, denn
eine kritische Auswahl der Untersuchungsverfahren und vor allem die Interpretation
ihrer Ergebnisse ist angesichts der erheblichen Unterschiede der einzelnen diagnostischen
Aussagen die Voraussetzung für eine synoptische und spezifische Feststellung der Diagnose.
Die Zuweisung zu einzelnen spezialisierten und erfahrenen diagnostischen Einrichtungen
(z.B. MIBG-Szintigrafie [Meta-Iod123-Benzylguanidin] bei Neuroblastom) erfolgt ebenfalls durch den pädiatrischen Onkologen,
der sich als „Fallmanager” für die gesamte Behandlung versteht. Insbesondere aufwändigere,
stark kooperationsabhängige und/oder schmerzhafte Untersuchungen erfordern bei Kindern
eine adäquate Sedierung oder Narkose.
Eine gute Planung der Sequenz notwendiger diagnostischer Maßnahmen ist im Interesse
des Kindes unabdingbar. So kann bei guter lokaler Infrastruktur und entsprechender
Planung ein Großteil dieser Maßnahmen beispielsweise im Rahmen einer Narkose durchgeführt
werden (z.B. bei Verdacht auf abdominales Lymphom: Probebiopsie, Knochenmarkpunktion
und -biopsie, Liquoruntersuchung und intrathekale Chemotherapie, wenn erforderlich
Anlage eines zentralen Venenkatheters [Port, Broviak]).
Da bei bestimmten Tumoren des Kindesalters die Therapiestrategien entscheidend von
den Ergebnissen des Stagings abhängen, ist es wesentlich, die erhobenen Befunde von
einem pädiatrischen Onkologen mitbeurteilen und bewerten zu lassen. Zum Beispiel werden
Nephroblastome - die häufigsten Nierentumoren bei Kindern - nach radiologischer Diagnosestellung
im entsprechenden radiologischen Referenzzentrum nicht primär operiert, sondern ohne
histologische Sicherung der Diagnose zunächst chemotherapiert. Bei den meisten Hirntumoren
hingegen ist eine primär möglichst weit gehende operative Tumorentfernung entscheidend
für die weitere Prognose.
Eine unvollständige Initialdiagnostik (z.B. das Fehlen einer Knochenmarkdiagnostik
oder MIBG-Szintigrafie bei durch Probebiopsie gesichertem Neuroblastom) kann zum einen
zur falschen Therapiestrategie führen (potenzielle Untertherapie) und zum anderen
die Chance vergeben, das Therapieansprechen vollständig zu evaluieren.
Therapie
Generell erfolgt die onkologische Therapie bei Kindern multimodal und risikoadaptiert.
Eine onkologische Primärtherapie außerhalb der etablierten und in Therapieoptimierungsstudien
[Tab. 1] (weiter)entwickelten Behandlungsstrategien ist strikt abzulehnen, denn schon geringfügige
Änderungen können möglicherweise die erreichbaren günstigen Ergebnisse gefährden.
Dabei kann eine Behandlung im Rahmen von Therapiestudien eine insbesondere auch im
Umgang mit kritischen Situationen notwendige klinische Erfahrung nicht ersetzen. In
diagnostisch oder therapeutisch unklaren Situationen sind die genannten Referenzeinrichtungen
bzw. Studienzentralen dringend mit einzubeziehen.
Chemotherapie
Bei den systemischen lokalen Chemotherapien werden weit gehend „altbewährte” und auch
in der Behandlung Erwachsener etablierte Zytostatika in unterschiedlicher Abfolge
und Kombination eingesetzt. Da die in den meisten Fällen beachtlichen und ermutigenden
Behandlungserfolge auf dieser Basis erreicht wurden, erfolgt der Einsatz neuerer Zytostatika
in der Front-line-Therapie kindlicher Malignome ausschließlich im Rahmen kontrollierter
Prüfungen in entsprechenden klinischen Studienprotokollen mit Kindern (z.B. Topotecan
beim Neuroblastom; 5). Die Dosierung erfolgt in der Regel bezogen auf die Körperoberfläche,
wobei zum Beispiel bei Kindern unter 10 kg Körpergewicht eine Dosisanpassung bzw.
-reduktion erfolgen muss.
Operation
Da der Zeitpunkt der Operation oft entscheidend von der Verdachtsdiagnose abhängt
und in vielen Fällen eine initiale Biopsie ausreicht, ist auch die Planung einer Operation
unter Federführung eines pädiatrischen Onkologen zu betreiben. Der Operateur muss
in der pädiatrischen Tumorchirurgie ausreichend erfahren sein. Aufgrund der Seltenheit
von Tumoren im Kindes- und Jugendalter ist deshalb zur Operation nicht selten eine
Verlegung (auch aus universitären Einrichtungen!) in ein entsprechend erfahrenes kinderchirurgisches
Zentrum erforderlich. Auch hier geben bei unklaren Entscheidungen Referenzeinrichtungen
der jeweiligen Studien konsiliarisch Hilfestellung.
Neben der persönlichen Erfahrung des Operateurs ist ein logistischer Minimalstandard
unabdingbar. So ist für die meisten Tumorentitäten inzwischen auch eine molekulargenetische
Begleituntersuchung am Tumormaterial zur Risikoadaptation der Therapie erforderlich.
Hierzu stehen im Rahmen der Kompetenznetzstruktur entsprechende „Tumorboxen” und Biomaterialbanken
zur Verfügung. In speziell dafür ausgerüsteten Behältnissen können Gewebe- und/oder
Blutproben bei unterschiedlichen Temperaturen (schockgefroren in Stickstoff bis Raumtemperatur)
an die betreffenden zentralen Referenzeinrichtungen gesandt werden. Damit diese oft
sehr störanfällige Logistik zum gewünschten (diagnostischen) Erfolg führt, ist die
Anwesenheit des pädiatrischen Onkologen bei dem Eingriff meist unabdingbar.
Strahlentherapie
Die Strahlentherapie ist ein unverzichtbarer Bestandteil des multimodalen Therapiekonzepts
kindlicher Hämoblastosen und solider Malignome - ob im Rahmen einer kurativ oder einer
palliativ ausgerichteten Therapie. Als Prophylaxe erfolgt sie beispielsweise bei Kindern
mit akuten Leukämien bei definierten Risikokonstellationen in Form einer Hirnschädelbestrahlung.
Hierdurch kann die Rate von Rezidiven im zentralen Nervensystem entscheidend gesenkt
werden.
Ebenso wie bei den anderen Therapieformen sollte auch die Radiotherapie von Kindern
nur in Kliniken erfolgen, die über entsprechende Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen.
Indikationsstellungen und Festlegungen der zu bestrahlenden Region sowie der Dosierungen
und der Fraktionierungen werden für die unterschiedlichen Tumorarten in der Arbeitsgemeinschaft
für Pädiatrische Radioonkologie (APRO) beraten. Sie werden für die einzelnen Therapieprotokolle
mit der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie unter Berücksichtigung
der weiteren bei den verschiedenen Tumoren eingesetzten Therapiemodalitäten, des Alters
der Patienten und histologischer Kriterien abgestimmt.
Bei der Indikationsstellung zur Radiotherapie ist in besonderer Weise die für den
Erhalt einer Heilungschance erforderliche Radikalität der Primärtherapie gegenüber
möglichen chronischen Behandlungsfolgen abzuwägen. Das ist für die Strahlentherapie
von besonderer Bedeutung, da sich die betroffenen Kinder in aller Regeln noch in der
Wachstums- und Entwicklungsphase befinden. Denn die Bestrahlungsbehandlung kann zur
Kuration beitragen, aber eben auch dosisabhängige chronische unerwünschte Behandlungsfolgen,
wie zum Beispiel Wachstumsstörungen, induzieren. Zusätzliche Chemotherapeutika können
diese unerwünschten Folgen noch verstärken, die in erster Linie von der Entwicklungsphase
der zu bestrahlenden Organe bzw. Körperregion und daher vom Alter des Kindes abhängen.
Die angesprochenen Therapieprotokolle berücksichtigen alle diese Aspekte. So wird
einerseits bei Säuglingen und Kleinstkindern die Indikation zur Radiotherapie nur
bei Hochrisikokonstellationen gestellt. Andererseits werden die Fraktionierungen und
die zu applizierenden Gesamtdosen dem Alter der Kinder, der zu bestrahlenden Region
und der Therapieintention (palliativ, kurativ, adjuvant) angepasst.
Weitere Therapieverfahren
Auch in der pädiatrischen Onkologie gelangen „modernere” als die bislang beschriebenen
Therapiestrategien zur Anwendung. Tumorvakzine oder Antikörper werden bisher jedoch
nahezu ausschließlich in Rezidivsituationen (und auch hier nur im Rahmen von Studien)
erprobt.
Ein einfaches Therapieprinzip, die Therapieintensität zu steigern, ist weit gehend
ausgereizt. Wesentliche Verbesserungen der Heilungsraten werden sich auf diese Weise
nicht mehr erreichen lassen. Andererseits gibt es neue Erkenntnisse über den Metabolismus
von Medikamenten, woraus sich Konsequenzen für eine Individualisierung der Behandlung
ergeben könnten. Hierfür müssen pharmakogenetische Untersuchungen durchgeführt werden.
Es ist ebenso notwendig, individuelle Therapieverläufe zu analysieren, um konkrete
Hinweise auf Toxizitäten zu erhalten.
Darüber hinaus wird durch zunehmend verbesserte molekulargenetische Untersuchungen
von Tumoren die Entwicklung genspezifischer Medikamente („gene targeted therapy”)
möglich. Auch bei Kindern werden solche Medikamente in bestimmten Situationen bereits
klinisch eingesetzt - beispielsweise der Kinaseinhibitor STI571 bei Leukämien mit
Nachweis der Translokation (9; 22).
Kasuistik
Kasuistik
Ein bei stationärer Aufnahme drei Jahre und acht Monate altes Mädchen hat seit einigen
Monaten vermehrt zervikale Lymphknotenschwellungen, welche zunächst als Lymphadenitis
behandelt werden. Wenige Wochen vor der stationären Aufnahme war eine deutliche Leistungsminderung
mit vor allem belastungsabhängigen Knochenschmerzen zu verzeichnen. Einige Tage vor
der Aufnahme fielen den Eltern kleine rötlich-livide Pünktchen (Petechien) an den
Beinen auf. Schwangerschafts- und Geburtsanamnese sind unauffällig.
Bei Aufnahme sehen wir ein sehr blasses kreislaufstabiles Kind in deutlich reduziertem
Allgemeinzustand mit diffus verteilten Petechien und unterschiedlich alten Hämatomen.
Es bestehen eine tastbare Hepatosplenomegalie sowie eine generalisierte Lymphadenopathie
(nicht schmerzhaft). Bereits im peripheren Blut konnte bei einem Hämoglobinwert von
5,8 g/dl, einer Thrombozytenzahl von 9000/μl und 20000 Leukozyten/μl eine akute lymphatische
Leukämie (ALL) mit L1-Morphologie (80 % Blasten) diagnostiziert und im Knochenmark
bestätigt werden. Immunologisch handelte es sich um eine common-ALL.
Nach Aufklärung der Eltern und Komplettierung der Initialdiagnostik erfolgte eine
Therapie nach dem Therapieprotokoll ALL-BFM 2000. Am Tag acht nach Therapiebeginn
hatte das Mädchen im peripheren Blutausstrich noch 2900/μl Leukozyten mit 39 % Blasten,
was als „Prednison-poor-response” (mehr als 1000 Blasten) gewertet wurde. In der Kontroll-Knochenmarkpunktion
am Tag 33 zeigte sich eine Erstremission (M1-Mark). Aufgrund des Prednison-poor-response
wurde die weitere Therapie im Hochrisikozweig fortgeführt. Nach Ende der intensiven
Chemotherapie erfolgte eine prophylaktische Hirnschädelbestrahlung (initial kein ZNS-Befall)
mit 12 Gy (nur bei Hochrisiko und/oder ZNS-Befall erforderlich). Parallel wurde mit
einer oralen Dauertherapie (6-Mercaptopurin und Methotrexat) begonnen, die bis zu
einer Gesamttherapiedauer von zwei Jahren (nach Erstdiagnose) fortgeführt wurde.
Mit Ausnahme weniger komplikationslos verlaufender Infektionen hat das Mädchen die
Therapie gut vertragen und ist nun vier Jahre nach Diagnosestellung in anhaltender
Erstremission. Ihre statomotorische und mentale Entwicklung verlief bislang ohne negative
Auffälligkeiten.
Die pädiatrisch-onkologische Nachbetreuung findet derzeit in dreimonatlichen Abständen
mit körperlichen Untersuchungen, Blutbilduntersuchungen und in längeren Intervallen
weiteren apparativen Untersuchungen (Ultraschall, Herzecho, Nierenfunktion) statt.
Eine Nachbetreuung über zehn Jahre nach Diagnosestellung zur Erfassung von therapiebedingten
Spätfolgen ist notwendig.
Der zweite Teil dieses Beitrags aus unserer Fortbildungsserie „Onkologie”, der in
der nächsten Ausgabe des klinikarzt erscheinen wird, widmet sich nach den Grundlagen der speziellen pädiatrischen Onkologie.
Darin informieren die Autoren über einige, für Kinder spezifische Besonderheiten von
bedeutsamen und in dieser Form im Erwachsenenalter eher seltenen Tumorgruppen.
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Tab. 1 Aktive Therapieoptimierungsstudien der GPOH für die Primärtherapie (keine Rezidive)
Therapie-optimierungsstudie (Kurzname)
|
Erkrankung
|
jährlich registrierte Patienten
[*]
|
SIOP 2003/GPOH |
Nephroblastom (Wilmstumor) |
100 |
COSS 96 |
Osteosarkom |
45 |
EURO-E.W.I.N.G.-99 |
Ewingsarkom |
140 |
CWS-2002P |
Weichteilsarkom |
40 |
HB 99 |
Hepatoblastom |
35 |
SIOP CNS GCT 96 |
Keimzelltumoren (ZNS) |
70 |
MAKEI 96 |
Keimzelltumoren (non-ZNS) |
90 |
NB 2004 |
Neuroblastom |
50 |
HIT 2000 |
Medulloblastom und PNET |
120 |
HIT GBM C |
Glioblastom |
30 |
HIT-LGGS |
niedrigmaligne ZNS-Tumoren |
150 |
GPOH-HD 2003 |
Morbus Hodgkin |
200 |
AML-BFM 2003 |
akute myeloische Leukämie |
100 |
ALL-BFM 2000 |
akute lymphoblastische Leukämie |
400 |
COALL-06-97 |
akute lymphoblastische Leukämie |
120 |
B-NHL-BFM 04 |
Non-Hodgkin-Lymphom |
85 |
EURO-LB 02 |
Non-Hodgkin-Lymphom |
42 |
ALCL 99 |
Non-Hodgkin-Lymphom |
20 |
CML-päd 95/96 |
chronische myeloische Leukämie |
20 |
EWOG-MDS 98 |
myelodysplastisches Syndrom |
40 |
MET 97 |
maligne endokrine Tumoren |
35 |
SAA 94 |
schwere aplastische Anämie |
25 |
NPC-2003-GPOH |
Nasopharynxkarzinom |
10 |
HIT-ENDO |
Kraniopharyngeom |
24 |
ZNS = zentrales Nervensystem, PNET = primitiver neuroektodermaler Tumor |
1 Die Gesamtzahl der jährlich rekrutierten Patienten ist größer als die Gesamtzahl
der im Deutschen Kinderkrebsregister erfassten Patienten (bis zum 15. Lebensjahr),
da die genannten Rekrutierungsraten in der Regel alle Patienten bis zum 18. Lebensjahr
einschließen