Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73: 88-91
DOI: 10.1055/s-2005-915588
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychosen aus systemischer Sicht

A Systemic View on PsychosisMichael  Lehofer1 , Arnold  Retzer2
  • 1Psychiatrie I, Sigmund-Freud-Klinik Graz, Österreich
  • 2Systemisches Institut Heidelberg, Heidelberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. November 2005 (online)

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Zusammenfassung

Das Zeiterleben verändert sich im Lebenslauf systematisch. Vergeht die Zeit in der Jugend im Längsschnitt recht langsam und im Querschnitt rasch, sieht sich der ältere Mensch der inversen Situation gegenüber. Doch bezüglich des Erlebens der eigenen Zeit gibt es auch intra- und interindividuelle Unterschiede. Das Zeiterleben als zentraler Aspekt der eigenen Identität ist hoch sensibel bezüglich Veränderungen des Selbsterlebens, wie es bei psychischen Störungen der Fall ist. Bei Psychosen zerfallen dementsprechend die zeitliche Identität und der gelebte Synchronismus, die Gewissheit sich mit den Mitmenschen im gleichen Zeitraum zu befinden. Es kommt zur Auflösung der Kontinuität von Zeit, einer Art Zeitkompression, bei der es kein Vorher und Nachher gibt. Das Zeiterleben des depressiven Menschen gleicht in vielem dem des alten Menschen (Erstarrung im Querschnittserleben), jenes des Manikers dem des Kindes (entsprechend Beschleunigung). Zeitliche Dissoziation ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis von Psychosen aus systemischer Sicht. Dabei wird synchrone Dissoziation von diachroner Dissoziation unterschieden. Bei ersterer „lösen” sich die Konflikte durch extreme Gleichzeitigkeit. Durch Unterschreitung des minimalen Zeitintervalls werden Unterscheidungen und dadurch Gegensätzlichkeiten nicht mehr möglich. Bei zweiterer ist durch die Überschreitung des maximalen Zeitintervalls eine Gegensätzlichkeit nicht mehr möglich, da die Integration der widersprüchlichen Aspekte nicht mehr möglich ist. Ein Konflikt braucht eine polare Bezogenheit; diese ist in diesem Falle nicht mehr gegeben. Beide Formen von Dissoziation führen zur Pseudoharmonisierung von zwischenmenschlichen Systemen, und das trotz Vorhandenseins von Konfliktpotenzial. Man findet synchrone Dissoziation in primären Gemeinschaften mit schizophrenen Patienten, während diachrone Dissoziationsformen Familien mit Mitgliedern, die eine affektive Störung aufweisen, typischerweise vorbehalten sind. In Familien mit Patienten, die schizoaffektive Störungen aufweisen, findet man synchrone als auch diachrone Dissoziation. In den Übergängen fehlt die dissoziative Deeskalation, da kommt es regelmäßig zur Konflikteskalation.

Abstract

The experience of time changes during life. In the youth time changes slowly from the longitudinal point of view, looking cross on life very fast. In older ages regularly it is the opposite matter, although there are throughout all ages significant intra- and interindividually differences. Experience of time is highly sensitive towards changes of one's self-experience, which can be well observed in psychiatric disorders. In case of psychosis identity of time and experienced synchronism (as certainty to be in the time with others) will be destroyed. There is a kind of breaking up time, a compression of time, where there is no before nor after. In depressed people time experience is similar to elder people, accordingly manic patients feel something like children in this sense. Dissociation of time has got a key role for understanding psychosis from the systemic point of view. Synchrone dissociation is distinguished from diachrone dissociation. In the first case conflicts will be “solved” through excessive simultaneity, undercutting the minimal time interval. The possibilities of differences are made impossible. Secondly the maximum of the time interval is exceeded; therefore the integration of opposite aspects is impossible. Equally no conflict will be possible. Both kinds of dissociation lead to “pseudo-harmony” of interrelational systems, despite of potency for conflicts. In family systems with schizophrenic members synchrone dissociation is typical, whereas diachrone dissociation is common in those with affective disorders. Both of them will be found in communicative systems with patients suffering from schizoaffective disorders. In between occur fierce arguments, when “protection” of dissociation is not granted.

Literatur

Michael Lehofer

Psychiatrie I, Sigmund-Freud-Klinik Graz

Wagner-Jauregg-Platz 1

8053 Graz

Österreich

eMail: michael.lehofer@lsf-graz.at