DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2005; 3(04): 1
DOI: 10.1055/s-2005-922416
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Im Namen A.T. Stills

N. N.
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Publication Date:
06 December 2006 (online)

 

    Vor einigen Monaten polemisierte eine Osteopathieschule im Newsletter ihrer Studentenwebsite gegen den amerikanischen Osteopathen Kenneth Lossing D.O. Dieser hatte im Rahmen der Convocation der American Academy of Osteopathy, AAO, einen Kurs über Thermodiagnostik gehalten. Das Ziel des Kurses, Funktionsstörungen am Menschen über Wärmeabstrahlungen zu diagnostizieren ohne die Haut-oberfläche zu berühren, wurde als absurd und Scharlatanerie bewertet. In der folgenden Ausgabe des Newsletters wurden Viola Fryman D.O. FAAO Quacksalbereitechniken nachgesagt. Sie habe mit nur einer kranialen Behandlung bei einem Kind einen fehlenden Radius und eine fehlende Gehirnhälfte „zurückgezaubert”. Die Schule fühlte sich verpflichtet, sich von solchen Praktiken zu distanzieren. Sie wolle die Osteopathie rein halten und zitierte dazu Dr. Andrew Tailor Still: „Keep it pure guys, keep it pure.”

    Diese Veröffentlichungen fallen zwar ein wenig extrem aus, sind im Prinzip aber absolut kein Einzelfall. In der Osteopathie beruft sich heute jeder auf A.T. Still, so wie in zweiter Linie auf W.G. Sutherland und andere osteopathische Urväter. Aber vor allem immer wieder Still! Still ist das moralische Fundament auf dem wir stehen, und jeder behauptet von sich, dass er in dessen ungebrochener Tradition stehe. So wie der Schulgründer, der die noch einzig wahre Linie der Osteopathie vertritt, die sich alleine auf Still und Littlejohn stützt, dabei aber verschweigt, dass Littlejohn sich mit Still überworfen hat (oder umgekehrt?), da er neben der Anatomie auf die Physiologie als Fundament baute. Nicht, dass er sich selbst weiter in der Tradition Stills sieht, ist das Problem, sondern der Ausschließlichkeitsanspruch, den er auf seine Lehre erhebt.

    Was wollte Still wirklich? Muss man seine Bücher gelesen haben, um das zuverlässig zu wissen? Soll man diese dann wörtlich auslegen oder muss man sie erst einer Sprachanalyse unterziehen? Sind dann Stills Faszien wirklich dasselbe wie unsere Faszien, und was meinen wir eigentlich, wenn wir heute von Faszien sprechen? Was hat Still mit Triune Man gemeint? Muss man Pietist sein, um das zu verstehen? Lassen sich Begriffe wie Triune Man eigentlich in die heutige Medizin übertragen? Welchen Stellenwert haben Übersetzungen für das Verständnis von bestimmten Textpassagen? Ist Sekundärliteratur über Still zulässig oder nicht? Wenn ja, wer entscheidet darüber, wie verlässlich die anderen Autoren sind? All diese Fragen sind wichtig (abgesehen von der zweiten) und müssen diskutiert werden. Sie werden zur Zeit auch lebhaft erörtert, und das ist gut so. Aber letztlich wird und kann es keine abschließenden Antworten geben. Und so wird es auch in Zukunft möglich sein, zu sagen: „Ich alleine stehe in der ungebrochenen Tradition A.T. Stills.” Oder: „Unsere Schule alleine hält die Lehre rein.”

    Es ist so wie mit der Bibel. Unter Berufung auf ihre Autorität führten ihre Anhänger erbitterte Glaubenskriege gegeneinander. Jeder im Bewusstsein des eigenen, „richtigen” Glaubens. Ist das die Zukunft der Osteopathie? Im Namen Stills?

    Die Herausgeber


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