Einleitung
Dass die Substitutionsbehandlung mit Methadon den Konsum illegaler Drogen reduziert,
das Risiko einer HIV-Infektionen verringert und sich positiv auf delinquentes Verhalten
auswirkt, gilt im Wesentlichen als gesichert und wird durch viele Studien belegt [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]. Im klinischen Alltag sind wir jedoch auch mit der subjektiven Unzufriedenheit und
mit objektiv unbefriedigenden Therapieverläufen von vielen Methadonpatient/Innen konfrontiert.
Belastende Nebenwirkungen und unbefriedigende Wirkung beeinträchtigen die Akzeptanz
und führen zu vorzeitigen Behandlungsbeendigungen [1]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]. Auch gibt es zunehmend Kritik an der Qualität vieler Evaluationsstudien. Neben
methodologischen Schwächen werden mitunter auch Zweifel an der Effektivität bzw. an
dem, was für effektiv angesehen wird, geäußert [12]. Selbst in Ländern mit breiten Angeboten an Methadonsubstitutionsbehandlungen ist
es bisher nicht gelungen, mehr als 50 - 60 % der Opiatabhängigen für diese Behandlung
zu gewinnen [13]. Die nach wie vor große Anzahl unbehandelter Drogenabhängiger und die damit verbundenen
Kosten für das öffentliche Gesundheits- und Sozialsystem [14] haben dazu geführt, dass weltweit nach alternativen pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten
gesucht wird. Dazu zählen die wissenschaftlichen Studien einer kontrollierten Heroinverschreibung
in mittlerweile einer Reihe von Ländern, aber auch die Etablierung von Buprenorphin
[13] als Substanz in der Substitutionsbehandlung. Eine einzigartige Situation haben wir
in Österreich mit der breiten Anwendung von retardierten Morphinen in der Substitutionsbehandlung.
Nachdem sich seit Ende der 80er-Jahre ein gut zugängliches Netz an Methadonbehandlungsmöglichkeiten
entwickelt hatte, wurden mit Ende der 90er-Jahre zunehmend retardierte Morphine in
die Behandlung eingeführt. Derzeit wird rund die Hälfte der österreichischen Substituierten
mit retardierten Morphinen behandelt und rund jeweils ein Viertel mit Methadon und
Buprenorphin [15].
Während die wissenschaftliche Auswertung der österreichischen Erfahrungen erst am
Beginn steht, hat die öffentliche Diskussion zu diesem Thema - wie in der Suchttherapie
seit jeher bekannt - einmal mehr den Charakter einer ideologischen Auseinandersetzung
erhalten; unterstützt auch dadurch, dass derzeit noch wenige valide wissenschaftliche
Daten für retardierte Morphine in dieser Indikation vorliegen.
Unsere Arbeit hat das Ziel, das Konsumverhalten Opiatabhängiger in Substitutionsbehandlung,
auf deren Verlauf wir keinerlei Einfluss hatten, unter den spezifischen österreichischen
Behandlungsbedingungen (Verfügbarkeit von Methadon-, Morphin- und Buprenorphinbehandlungen)
darzustellen. Darüber hinaus wird in dieser Arbeit eine unbehandelte Kontrollgruppe
(Nichtsubstituierte) mit sich in Behandlung befindlichen Patient/Innen verglichen.
Material und Methode
Im Jahr 2004 wurden 207 Patient/Innen an der Drogenentzugsstation des Psychiatrischen
Krankenhauses des Landes Tirol (Hall) aufgenommen. Für die Aufnahme stellen wir keine
Vorbedingungen (niedrigschwelliger Zugang) und bieten eine homologe Entgiftung mit
intensiver psychosozialer Begleitung während des 3 - 4-wöchigen Aufenthaltes an. Im
Rahmen des Aufnahmegespräches wurde der Substanzkonsum in den letzten 6 Monaten standardisiert
erhoben. Die hier vorgestellten Daten beziehen sich ausschließlich auf die selbst
berichteten Angaben von Patient/Innen. Mehrfachaufnahmen wurden nur dann in die Auswertung
aufgenommen, wenn zwischen den Aufenthalten mindestens 6 Monate lagen. Insgesamt konnten
die Angaben von 191 Patient/Innen herangezogen werden, um das selbst erinnerte Konsumverhalten
vor Beginn (Zeitraum 6 Monate) einer Drogenentzugsbehandlung zu untersuchen.
Da es sich um eine explorative Studie handelt, wird ausschließlich mit deskriptiven
statistischen Verfahren gearbeitet.
Ergebnisse
Insgesamt wurden n = 191 Patient/Innen nach ihrem Konsum während der letzten 6 Monate
vor der Aufnahme in die Entzugsbehandlung befragt. Knapp zwei Drittel der Befragten
waren männlich (64,4 %). Das Durchschnittsalter der Gesamtstichprobe war knapp 28
Jahre (M = 27,9, SD = 7,2), wobei die Patientinnen im Schnitt etwa um 2 Jahre jünger
waren als die Patienten. Der weitaus größte Teil aller Patient/Innen (87,8 %) befand
sich vor der Aufnahme der Drogenentzugsbehandlung in ambulanter Substitutionsbehandlung.
Einen Überblick über die Charakteristika der Stichprobe, insbesondere die Anteile
der verwendeten Substitutionsmedikamente und deren durchschnittliche Dosierung, bietet
Tab. [1].
Tab. 1 Charakteristika der Stichprobe
Merkmal |
männlich |
weiblich |
gesamt |
|
n (%)
|
n (%)
|
n (%)
|
Geschlecht |
123 (64,4) |
68 (35,6) |
191 (100,0) |
Substitutionsbehandlung |
|
|
|
ja |
108 (87,8) |
61 (89,7) |
169 (88,5) |
nein |
15 (12,2) |
7 (10,3) |
22 (11,5) |
Substitutionsmedikament |
|
|
|
kein Medikament |
15 (12,2) |
7 (10,3) |
22 (11,5) |
Methadon |
18 (14,6) |
19 (27,9) |
37 (19,4) |
Morphin |
78 (63,4) |
38 (55,9) |
116 (60,7) |
Buprenorphin |
11 (8,9) |
3 (4,4) |
14 (7,3) |
Codein |
1 (0,8) |
1 (1,5) |
2 (1,0) |
|
M (SD)
|
M (SD)
|
M (SD)
|
mittlere Dosis (mg) |
|
|
|
kein Medikament |
- |
- |
- |
Methadon |
72,78 (32,37) |
54,74 (20,98) |
63,5 (28,25) |
Morphin |
489,36 (156,69) |
486,05 (191,57) |
488,2 (168,07) |
Buprenorphin |
13,09 (5,47) |
5,33 (2,31) |
11,4 (5,89) |
Codein |
480,00 (-,-) |
600,00 (-,-) |
540,0 (-,-) |
Alter |
28,8 (7,3) |
26,4 (6,7) |
27,9 (7,2) |
Geschlechtsspezifische Differenzen lassen sich hinsichtlich des Substitutionsstatus
nicht beobachten. Auffallend ist hingegen der fast doppelt so hohe Anteil mit Methadon
substituierter Patientinnen (27,9 %) im Vergleich zu den männlichen Befragten (14,6
%). Ebenso ist eine deutlich niedrigere durchschnittliche Dosierung von Methadon bei
Frauen erkennbar. Wegen der geringen Fallzahlen werden die Ergebnisse der mit Buprenorphin
substituierten Patient/Innen in den Tabellen aufgeführt, jedoch werden diese nicht
weiter kommentiert werden. Die Angaben zu Codein entfallen in den weiteren Tabellen.
Unterscheidet man Patient/Innen danach, ob sie sich vor Aufnahme der Entzugsbehandlung
in Substitutionsbehandlung befinden oder nicht, so lässt sich festhalten, dass der
Konsum von Heroin und Kokain in der Gruppe der Nichtsubstituierten häufiger ausfiel
als in der Gruppe der Substituierten, egal welches Substitutionsmedikament verabreicht
wurde. Es ist zusätzlich zu beobachten, dass Substituierte deutlich seltener einen
täglichen oder mehrmals wöchentlichen Konsum von Heroin und Kokain angeben.
Ein Vergleich jener substituierten Patient/Innen, welche die zwei am häufigsten in
der Substitution eingesetzten Substanzen einnahmen (Methadon und retardierte Morphine),
zeigt bei den mit Methadon substituierten Patient/Innen einen höherem Beikonsum von
Heroin, Kokain und Benzodiazepinen. Der Anteil des Morphinbeikonsums bei mit Methadon
Substituierten lag dabei um etwa 20 % höher als bei Patient/Innen, welche mit Morphin
substituiert wurden. Umgekehrt ließ sich jedoch kein Beikonsum von Methadon in der
Gruppe der mit retardierten Morphinen Substituierten nachweisen (Tab. [2]).
Tab. 2 Substitutionsstatus und Intensität des Beikonsums von Substanzen innerhalb der letzten
6 Monate
Substitutionsstatus |
(Bei) Konsum[1]
|
|
|
|
kein Konsum letzte 6 Monate |
täglich/ mehrmals pro Woche |
mehrmals pro Monat |
|
n (%) |
|
n (%) |
n (%) |
n (%) |
keine Substitutionsbehandlung |
22 (11,5) |
Methadon |
18 (81,8) |
1 (4,5) |
3 (13,6) |
|
|
Morphin |
8 (36,4) |
10 (45,5) |
4 (18,2) |
|
|
Buprenorphin |
21 (95,5) |
1 (4,5) |
0 (0,0) |
|
|
Codein |
19 (86,4) |
2 (9,1) |
1 (4,5) |
|
|
Tramal |
20 (90,9) |
2 (9,1) |
0 (0,0) |
|
|
Heroin |
7 (31,8) |
11 (50,0) |
4 (18,2) |
|
|
Benzodiazepine |
7 (31,8) |
13 (59,1) |
2 (9,1) |
|
|
Kokain |
8 (36,4) |
11 (50,0) |
3 (13,6) |
|
|
Cannabis |
7 (31,8) |
11 (50,0) |
4 (18,2) |
|
|
Alkohol |
12 (54,5) |
6 (27,3) |
4 (18,2) |
|
|
Amphetamine/XTC |
17 (77,3) |
3 (13,6) |
2 (9,1) |
Methadon |
37 (19,4) |
Methadon |
36 (97,3) |
1 (2,7) |
0 (0,0) |
|
|
Morphin |
13 (35,1) |
19 (51,4) |
5 (13,5) |
|
|
Buprenorphin |
37 (100,0) |
0 (0,0) |
0 (0,0) |
|
|
Codein |
32 (86,5) |
4 (10,8) |
1 (2,7) |
|
|
Tramal |
36 (97,3) |
1 (2,7) |
0 (0,0) |
|
|
Heroin |
24 (64,9) |
4 (10,8) |
9 (24,3) |
|
|
Benzodiazepine |
4 (11,1) |
31 (86,1) |
1 (2,8) |
|
|
Kokain |
15 (41,7) |
13 (36,1) |
8 (22,2) |
|
|
Cannabis |
11 (29,7) |
23 (62,2) |
3 (8,1) |
|
|
Alkohol |
21 (58,3) |
12 (33,3) |
3 (8,3) |
|
|
Amphetamine/XTC |
31 (86,1) |
1 (2,7) |
4 (11,1) |
Morphin |
116 (60,7) |
Methadon |
115 (99,1) |
0 (0,0) |
1 (0,9) |
|
|
Morphin |
66 (56,9) |
46 (39,7) |
4 (3,4) |
|
|
Buprenorphin |
116 (100,0) |
0 (0,0) |
0 (0,0) |
|
|
Codein |
105 (90,5) |
2 (1,7) |
9 (7,8) |
|
|
Tramal |
115 (99,1) |
0 (0,0) |
1 (0,9) |
|
|
Heroin |
90 (77,6) |
8 (6,9) |
18 (15,5) |
|
|
Benzodiazepine |
30 (25,9) |
71 (61,2) |
15 (12,9) |
|
|
Kokain |
68 (59,1) |
13 (11,3) |
34 (29,6) |
|
|
Cannabis |
38 (33,0) |
58 (50,4) |
19 (16,5) |
|
|
Alkohol |
70 (60,9) |
26 (22,6) |
19 (16,5) |
|
|
Amphetamine/XTC |
102 (87,9) |
4 (3,4) |
10 (8,6) |
Buprenorphin |
14 (7,3) |
Methadon |
13 (92,9) |
0 (0,0) |
1 (7,1) |
|
|
Morphin |
9 (64,3) |
4 (28,6) |
1 (7,1) |
|
|
Buprenorphin |
13 (92,9) |
1 (7,1) |
0 (0,0) |
|
|
Codein |
14 (100,0) |
0 (0,0) |
0 (0,0) |
|
|
Tramal |
14 (100,0) |
0 (0,0) |
0 (0,0) |
|
|
Heroin |
11 (78,6) |
1 (7,1) |
2 (14,3) |
|
|
Benzodiazepine |
1 (7,1) |
9 (64,3) |
4 (28,6) |
|
|
Kokain |
7 (50,0) |
4 (28,6) |
3 (21,4) |
|
|
Cannabis |
6 (42,9) |
7 (50,0) |
1 (7,1) |
|
|
Alkohol |
6 (42,9) |
6 (42,9) |
2 (14,3) |
|
|
Amphetamine/XTC |
13 (92,9) |
1 (7,1) |
0 (0,0) |
1Bei fehlenden Angaben werden die gültigen Prozente angegeben.
|
Ebenso erhöht ist die intravenöse Applikationsform für Heroin und Kokain in der Gruppe
der Nichtsubstituierten, dies insbesondere im Verhältnis zu den mit Morphin substituierten
Patient/Innen. Darüber hinaus berichten aber auch mit Methadon Substituierte im Vergleich
zu mit Morphin substituierten Patient/Innen höhere Raten intravenöser Applikationsformen
bei Heroin und insbesondere bei Kokain.
Es zeigt sich jedoch auch, dass intravenöse Konsumformen in der Gruppe der mit Morphin
Substituierten weit verbreitet sind: Mehr als die Hälfte der mit Morphin substituierten
Patient/Innen gaben an, ihr Substitutionsmedikament intravenös zu applizieren (Tab.
[3]).
Tab. 3 Intravenöse Applikation von Substanzen
|
i. v. Applikation andere Substanzen (Beikonsum)[1]
|
|
|
|
ja |
nein |
keine Substitutionsbehandlung |
22 (11,5) |
Morphin |
9 (40,9) |
13 (59,1) |
|
|
Heroin |
11 (50,0) |
11 (50,0) |
|
|
Kokain[2]
|
8 (40,0) |
12 (60,0) |
Methadon |
37 (19,4) |
Morphin |
22 (59,5) |
15 (40,5) |
|
|
Heroin |
11 (29,7) |
26 (70,3) |
|
|
Kokain |
11 (37,9) |
11 (62,1) |
Morphin |
116 (60,7) |
Morphin |
42 (36,2) |
74 (63,8) |
|
|
Heroin |
24 (20,7) |
92 (79,3) |
|
|
Kokain |
18 (19,1) |
76 (80,9) |
Buprenorphin |
14 (7,3) |
Morphin |
2 (14,3) |
12 (85,7) |
|
|
Heroin |
2 (14,3) |
12 (85,7) |
|
|
Kokain |
3 (25,0) |
9 (75,0) |
|
|
i. v. Applikation des Substitutionsmedikaments |
Methadon |
37 (19,4) |
|
0 (0,0) |
37 (100,0) |
Morphin |
116 (60,7) |
|
64 (55,7) |
51 (44,3) |
Buprenorphin |
14 (7,3) |
|
1 (7,1) |
13 (92,9) |
1Bei fehlenden Angaben werden die gültigen Prozente angegeben. Andere Substanzen als
die aufgeführten wurden nicht oder sehr selten intravenös konsumiert.
2Die Gesamtzahl gültiger Antworten bei Kokain beläuft sich auf n = 157.
|
Die Einschätzung eines höheren Beikonsums bei Nichtsubstituierten und mit Methadon
Substituierten im Vergleich zu Patient/Innen, welche mit Morphinen substituiert wurden,
wird ebenfalls durch die durchschnittliche Anzahl zu irgendeinem Zeitpunkt konsumierter
unterschiedlicher Substanzen während der letzten 6 Monate bestätigt. Patienten in
Morphin-Substitution wiesen den niedrigsten Mittelwert des Konsums unterschiedlicher
Substanzen während der letzten 6 Monate auf. Das gleiche Ergebnis zeigte sich für
den täglichen bzw. mehrmals wöchentlichen Beikonsum während der letzten 6 Monate.
Während der tägliche Beikonsum unterschiedlicher Substanzen bei mit Morphin in der
Substitution behandelten Patient/Innen deutlich sinkt, bleibt er bei Methadonapplikation
in der Substitution so gut wie unverändert (Tab. [4]).
Tab. 4 Substitutionsstatus und mittlere Anzahl konsumierter unterschiedlicher Substanzen
innerhalb der letzten 6 Monate[1]
Substitutionsstatus |
überhaupt konsumiert |
täglicher bzw. mehrmals wöchentlicher Konsum |
|
n |
M (SD) |
M (SD) |
keine Substitutionsbehandlung |
22 |
4,45 (1,74) |
3,23 (1,31) |
Methadon |
37 |
4,00 (1,43) |
3,92 (1,28) |
Morphin |
116 |
3,68 (1,50) |
2,57 (1,07) |
Buprenorphin |
14 |
4,29 (1,07) |
3,29 (1,44) |
1Bei Patienten/Innen, welche sich in Substitution befanden, wurde das Substitutionsmedikament
in die Gesamtzahl unterschiedlicher konsumierter Substanzen nur dann eingerechnet,
wenn das Substitutionsmedikament nicht auch zusätzlich konsumiert wurde, da sich die
Anzahl unterschiedlicher konsumierter Substanzen durch Doppelkonsum der gleichen Substanz
nicht erhöht. Das heißt, wenn eine Person mit Morphin substituiert wurde und gleichzeitig
angab, auch Morphin zusätzlich zur verordneten Menge zu konsumieren, so wurde die
Substanz Morphin nur einmal gezählt. Wurde z. B. Morphin als Substitutionsmedikament
konsumiert, jedoch nicht noch zusätzlich, dann wurde Morphin ebenfalls einmal als
Substanz gezählt. Gleiches gilt für den Fall, dass z. B. Morphin nur im Beikonsum
angegeben wurde.
|
Diskussion
Nach Angaben des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheit (ÖBIG) waren 2003
rund 70 % der Opiatabhängigen in keiner Behandlung [15]. In der untersuchten Gruppe (alle Aufnahmen zu einer körperlichen Entgiftung im
Jahre 2004) waren lediglich 11 % im letzten halben Jahr vor Beginn der Entzugsbehandlung
nicht substituiert. Daraus könnte man ableiten, dass Substituierte eine höhere Bereitschaft
zeigen, einen Abstinenzversuch zu wagen. Allerdings lässt das Konsumverhalten der
Patient/Innen vor ihrer stationären Aufnahme nicht auf eine in Richtung Abstinenz
orientierte Reduktion des Konsums schließen. Vergleicht man unser Ergebnis mit Untersuchungen
des Konsumverhaltens von Patient/Innen in Substitution, die keine Entzugsbehandlung
geplant haben, so findet sich kein wesentlicher Unterschied, im Gegenteil zeigen unsere
Patient/Innen teilweise sogar ein exzessiveres Konsumverhalten [5]
[16]
[17]. Dies wird auch im direkten Vergleich von Substitutionspatient/Innen aus derselben
geografischen Region bestätigt [18]. Gerra et al. fanden, dass Patient/Innen, die bereits mehrfach eine stationäre Behandlung
aufsuchten, in Methadonsubstitutionsbehandlungen einen höheren Beikonsum aufweisen
[19]. Möglicherweise ist gerade dieser problematische Konsum für Patient/Innen die auslösende
Motivation, sich zu einer (niedrigschwelligen) Entzugsbehandlung zu entschließen.
Wesentliches Ziel der Substitutionsbehandlung ist es, den unkontrollierten und riskanten
Konsum von illegalem Heroin zu reduzieren und es Patient/Innen damit zu ermöglichen,
Abstand vom „Szenenleben” und den damit zwangläufig verbundenen Aktivitäten zu gewinnen
[20]. Dass dieses Ziel mit der Substitution erreicht wird, konnte in vielen Studien nachgewiesen
werden [4]
[5] und wird auch durch unsere Ergebnisse bestätigt. 75 % der Substituierten hatten
im letzten halben Jahr keinen Kontakt zu Heroin, lediglich 8 % konsumierten Heroin
täglich. Mattick berichtet im Cochrane Review von 16 % bis 29 % Heroinkonsumenten
in Methadonbehandlungen und Dobler-Mikola fand nach einjähriger Methadonsubstitution
in der Schweiz immer noch in 82 % Heroinkonsum (16 % täglich) [5]
[16]. Allerdings gibt fast die Hälfte der substituierten österreichischen Befragten einen
zusätzlichen, nicht verordneten Konsum von retardierten Morphinen an. Dieses Ausmaß
an Morphinkonsumenten ist nur in Österreich bekannt und es finden sich dazu keine
vergleichbaren Erfahrungen.
Die hohe Konsumrate von Kokain in unseren Substitutionsbehandlungen entspricht internationalen
Erfahrungen. Leri gibt den Anteil der Kokainkonsumenten mit 50 % bis 60 % an, Dobler-Mikola
spricht von 57 % Kokainkonsumenten in der Schweiz [16]
[17].
Alle hier zitierten Vergleiche des Heroin- und Kokainkonsums in anderen Ländern beziehen
sich auf Methadonsubstitutionsbehandlungen. Geringer sind die Angaben über den Zusatzkonsum
bei den österreichischen Morphinsubstituierten. Noch weniger Konsum findet sich nur
in Studien mit Heroin Behandelten [16]
Das Phänomen des polytoxikomanen Konsumverhaltens ist insgesamt noch nicht ausreichend
untersucht. Als gesichert kann angenommen werden, dass Unterdosierungen in Substitutionsbehandlungen
den Beikonsum fördern. Für Methadon ist dies gut belegt, Dosierungen zwischen 80 mg
bis 100 mg haben sich gegenüber niedrigeren in den meisten Studien als effektiver
erwiesen [17]
[19]
[21]
[22]
[23]. Studien über den Vergleich von unterschiedlichen Dosierungen bei den retardierten
Morphinen liegen noch kaum vor, Erfahrungswerte geben 600 - 800 mg Tagesdosen als
adäquat an [24]. Im Vergleich zu diesen Angaben liegen die von uns erhobenen Durchschnittsdosen
für Methadon und retardierte Morphine im unteren Bereich. Wir gehen nicht davon aus,
dass diese niedrigen Dosierungen in Zusammenhang mit der bevorstehenden Entzugsbehandlung
zu sehen sind, da sich unser Untersuchungszeitraum auf das halbe Jahr davor bezieht.
Zudem werden diese Dosierungen auch in anderen österreichischen Untersuchungen berichtet
[25]. Diese suboptimale Dosierung könnte durchaus für den hohen Beigebrauch in unserer
Untersuchungsgruppe mitverantwortlich sein. Leri et al. geben einen Überblick von
Arbeiten zum Kokainkonsum bei Opiatabhängigen und kommen zum Schluss, dass ein möglicher
Grund der zusätzlichen Kokaineinnahme in der fehlenden (zu geringen) euphorisierenden
Wirkung von Methadon und Buprenorphin zu finden ist [17]. Dementsprechend konnten auch die Untersuchungen zur heroingestützten Behandlung
in der Schweiz zeigen, dass mit Heroin der Kokaingebrauch deutlicher reduziert werden
konnte als mit Methadon [16]. Wenn sich unsere Ergebnisse bestätigen, könnte dies in ähnlicher Weise auch mit
retardierten Morphinen erreicht werden.
Unberücksichtigt bleibt in unserer Untersuchung, dass die von uns befragten Patient/Innen
durch unterschiedliche Ambulanzen und niedergelassene Ärzte und Ärztinnen vorbehandelt
wurden, mit unterschiedlichen Angeboten an psychosozialer Begleitbetreuung. Diese
kann jedoch erheblichen Einfluss auf den Beikonsum haben [26]. Interessant ist aber auch die umgekehrte Überlegung, inwieweit Substitutionsmittel
Einfluss auf die Begleitbehandlung haben können. So berichtet Dobler, dass die größere
Akzeptanz des Substitutionsmittels Heroin auch zu einer höheren Behandlungsbereitschaft
führt und damit zu einer vermehrten Inanspruchnahme von psychosozialer Betreuung [16]. Ob in Österreich für die retardierten Morphine Ähnliches gilt, wurde von uns nicht
erhoben.
Wahrscheinlich ist es eine der wichtigsten Aufgaben von zukünftigen Forschungen, Kriterien
zu finden, anhand derer festgestellt werden kann, für welche Patient/Innen welche
Substanzen hilfreich sein können [27]. Dies gilt auch für die retardierten Morphine, bei denen wir zwar mittlerweile über
eine große klinische Erfahrung verfügen, aber noch über wenige, gute kontrollierte
Studien. Erste Untersuchungen bestätigen unsere Ergebnisse eines reduzierten Konsumverhaltens
und einer hohen Akzeptanz durch Opiatabhängige [25]
[28]
[29]
[30]
[31].
Besondere Aufmerksamkeit sollte das große Bedürfnis Opiatabhängiger nach i. v. Applikation
auf sich ziehen, ist es doch jene Konsumform, die mit dem höchsten Risiko für Gesundheit
und Mortalität verbunden ist. Gleichzeitig ist sie aber die billigste, einfachste
und wirksamste Technik, um einen „Kick” zu erzeugen, sodass der größte Teil der Opiatabhängigen
(und zwar Nichtsubstituierte wie Substituierte) nicht darauf verzichten möchte. Selbst
die teilweisen ausgeprägten und unangenehmen histaminergen Nebenwirkungen bei der
intravenösen Morphinapplikation werden in Kauf genommen [24]. Lediglich ein Viertel der Befragten verzichtet auf jeglichen i. v. Konsum. Auch
wenn die aktuelle und sehr kontrovers geführte Diskussion in Österreich sich hauptsächlich
auf die retardierten Morphine beschränkt, zeigen unsere Zahlen, dass dieses „Problem”
auch für Heroin und Kokain gilt. Auch ist das hohe Ausmaß an i. v. Konsumenten kein
österreichisches Phänomen. Für die entwickelten westlichen Länder wird angegeben,
dass mehr als zwei Drittel der illegalen Opiatkonsumenten ihre Substanzen i. v. applizieren
[32]. Unbestritten ist, dass über Maßnahmen zur Verhinderung möglicher gesundheitsschädlicher
Auswirkungen des häufigen i. v. Konsums nachgedacht werden muss. Aber zumindest ebenso
intensiv sollte vonseiten der Suchtmedizin darüber nachgedacht werden, wie wir dem
starken Bedürfnis unserer Patient/Innen nach i. v. Konsum therapeutisch gerecht werden
können. Auch unter diesem Aspekt sollten die Versuche mit injizierbarem Heroin, aber
auch mit Methadon gesehen werden [24]
[33]
[34]
[35]
[36].
Eine große Anzahl von Evaluationsstudien für die Behandlung von Opiatabhängigen zeigt
eindrücklich, dass es eine Einheitsbehandlung nicht geben wird. Ein gutes Behandlungssystem
muss verschiedene Modalitäten hinsichtlich Substitutionsmittel, Konsummodalitäten
und Begleitbetreuung anbieten. Allerdings sind weitere randomisierte, doppelblinde
Untersuchungen dazu notwendig. Notwendig ist auch eine Änderung der Diskussion, weg
von poltisch-ideologischen Auseinandersetzungen hin zu Kriterien von Evidence-based
Medicine. Die Erfahrungen in Österreich zeigen, dass retardierte Morphine in der Behandlung
Opiatabhängiger eine wichtige Rolle spielen können.