Pro
Entfremdung gehört ebenso zu den zentralen Erfahrungen der Moderne wie die Brüchigkeit
des (Ich-)Bewusstseins und des raumzeitlichen personalen Identitätsgefühls. Diese
Erfahrungen greift - neben vielfältigen anderen literarischen und zeitgeschichtlichen
Einflüssen - Robert Louis Stevenson (1850 - 1894) in seiner 1886 veröffentlichten
Erzählung „The strange case of Dr. Jekyll and Mister Hyde” auf [1]. In dieser wohl berühmtesten literarischen Darstellung einer multiplen Persönlichkeitsstörung
(MPD) finden sich bereits viele Motive, die auch in der gegenwärtigen Diskussion eine
wichtige Rolle spielen, etwa das Verhältnis von Täter und Opfer bzw. Gut und Böse
sowie eine zunehmende Entfremdung eigener Persönlichkeitsanteile, die in der Folge
einem alter Ego zugeschrieben werden, die Frage nach der Verantwortung für eigenes Handeln und nicht
zuletzt das destruktive Potenzial, welches diese Prozesse auslösen. Die Figur Dr.
Jekyll sieht nur den Suizid als einzigen verbleibenden Ausweg, um sich und die Welt
von dem „Monster” Mister Hyde, das seine eigenen abgespaltenen Persönlichkeitsanteile
repräsentiert, zu befreien.
Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der medizinischen, vor allem psychiatrischen
Forschung stellt das Konstrukt der multiplen Persönlichkeitsstörung ein Faszinosum
dar, um das sich eine kontroverse Debatte rankt. Die hierzu vorliegende wissenschaftliche
Literatur wird im Wesentlichen durch deskriptive und Einzelfalldarstellungen dominiert
und hat viele PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen vor eine offensichtlich fesselnde
intellektuelle Herausforderung gestellt. Medizinhistorisch ist dabei von Relevanz,
dass nach einer Hochphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Dissoziationsthematik
etwa zwischen 1890 und 1920 das Konstrukt aus verschiedensten Gründen in Vergessenheit
geriet und erst etwa Ende der 70er-Jahre wiederentdeckt wurde [2]. Die anschließende, vergleichsweise exzessive Bearbeitung des Themas mag dabei durchaus
als Reaktionsbildung auf die Jahrzehnte andauernde Verleugnung der Relevanz von Realtraumatisierungen
verstanden werden. Deren Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung im weitesten
Sinne posttraumatischer Störungen in weiten Teilen der Psychiatrie [3] und der psychodynamischen Psychotherapie [4] folgte in den 90er-Jahren eine fast mythologisch anmutende Beschwörung der zugehörigen
Konzepte. Pope u. Mitarb. [5] zeigen hierzu in einer Analyse der empirischen Veröffentlichungen zwischen 1984
und 2003, dass die dissoziativen Störungen und insbesondere die MPD kein wirklich
konsistentes wissenschaftliches Interesse auf sich ziehen konnten. Nach einer „brief
period of fashion” Mitte der 90er-Jahre kam es zu einem dramatischen Interessenschwund,
woraus die Autoren schließen, dass der überwiegende Teil der scientific community die MPD nicht als eigenständige nosologische Entität auffasst.
Hingegen ist mittlerweile unstrittig, dass die beschriebenen Phänomene wie Amnesien
für autobiografisches Material, Bewusstseinseinengungen oder spontane Altersregressionen
eine mögliche Folge schwerwiegender, komplexer und häufig chronischer Realtraumatisierungen
sind. Unerträgliche bzw. die Reizverarbeitungskapazität übersteigende emotionale,
sensomotorische, kognitive und andere traumaassoziierte Eindrücke werden aus der bewussten
Wahrnehmung abgespalten (dissoziiert). Dieser Spaltungsprozess führt zu (partiell)
unabhängig existierenden Persönlichkeitsinseln, die unterschiedliche Selbst- und Objektrepräsentanzen
oder Ich-Zustände repräsentieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig
und vorteilhaft, dass das DSM-IV die klinischen Phänomene unter dem Begriff der dissoziativen
Identitätsstörung (DID) abbildet und nicht den irreführenden Begriff der multiplen
Persönlichkeitsstörung beibehält (wie noch im DSM-III-R bzw. aktuell in der ICD-10).
Aber dennoch: Brauchen wir dafür eine eigene diagnostische Kategorie? Oder ist die
DID nicht als Subtyp der Borderline-Persönlichkeitsstörung aufzufassen? So stellen
Dulz u. Sachsse [6] polar ihre unterschiedlichen Konzeptionen gegenüber. Dulz postuliert eine interaktionsreiche
Form multipler Persönlichkeitszustände mit deutlichem Ausagieren der Dissoziativität
(mit Nähe zu histrionischen Störungen) und eine interaktionsarme Form mit Geheimhalten
der Dissoziativität als Spielarten von Borderline-Störungen, während Sachsse die dissoziative
Identitätsstörung als autohypnotische Selbststrukturierung versteht. Beide Autoren
diskutieren durchaus kontrovers das therapeutische Vorgehen auch unter dem Aspekt,
ob nicht eine therapeutische Auseinandersetzung mit singulären Persönlichkeitsanteilen
zu einer iatrogenen Fixierung der Spaltungen beiträgt.
So sinnvoll diese qualitativen Erwägungen für das Verständnis der Betroffenen und
für therapeutische Interventionen sind, harte empirische Daten, die das Konstrukt
multidimensional überprüfen, sind absolute Mangelware [7], basieren zum Teil auf Instrumenten, die kaum eine sinnvolle Trennung zwischen normaler
und pathologischer Dissoziation ermöglichen [8] und arbeiten mit vergleichsweise weichen Symptomdefinitionen von eher schlechter
bis höchstens moderater Reliabilität [7]. Nicht gerade zur Seriosität des Konzeptes hat zudem beigetragen, dass in der Literatur
zum Teil exorbitant viele einzelne Persönlichkeitsfragmente publiziert wurden. So
hat beispielsweise die durchschnittliche Anzahl der Alterpersönlichkeiten drastisch
zugenommen: Während bei den 52 Fällen, die zwischen 1800 und 1965 veröffentlicht wurden,
im Mittel drei alters beobachtet wurden, lag dieser Wert bei den 54 Fällen aus den 80er-Jahren bei zwölf
[9].
Es muss offen bleiben, ob dieser Befund auch die zunehmende Komplexität unserer Lebenswirklichkeit
widerspiegelt. Sicher ist jedoch, dass es eine grobe Simplifizierung wäre, die MDP/DID
lediglich auf eine bloß medizinische Entität zu reduzieren und dabei ihre soziokulturelle
Dimension zu übersehen. So offenbart sich die Relevanz soziokultureller Einflüsse
etwa in dem Gestaltwandel dissoziativer Phänomene und Störungen: Während Katalepsien
und dramatische Krampfanfälle mit dem „arc de cercle” im 19. Jahrhundert das klinische
Bild bestimmten, werden diese Symptome heute kaum noch beobachtet, möglicherweise
auch, weil das Wissen um psychologische Sachverhalte in der Bevölkerung zugenommen
hat. Die soziokulturelle Perspektive lenkt aber auch den Blick auf das Geschehen zwischen
PatientIn, TherapeutIn und den institutionellen Rahmen. Die bewussten und unbewussten
Erwartungen, Wünsche und Überzeugungen aufseiten der Leidenden und der „Experten” bilden mit dem jeweils spezifischen (häufig medizinischen) Setting
die Matrix, welche die Diagnose multiple Persönlichkeitsstörung hervorbringt. Hacking formuliert hierzu gleichermaßen ironisch wie lakonisch: „It
takes two to multiply”. Das diagnostische Label MPD kann somit als psychosoziales
Arrangement mit Abwehrfunktion verstanden werden. Bleibt zu klären, was abgewehrt
werden soll. Vielleicht führen die modernen Erfahrungen von Sich-fremd-Sein, Ich-Fragmentierung
einerseits und multiplen Rollenerwartungen andererseits zu einer unerträglichen Identitätsdiffusion,
die nur über das identitätsstiftende psychosoziale Arrangement kompensiert werden
kann. Oder aber es ist schwer auszuhalten, dass wir alle Gut und Böse in uns tragen,
dass wir gleichermaßen Täter und Opfer sein können, mit anderen Worten, dass jeder
von uns auch seinen „Mister Hyde” hat.
Kontra
Die multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) gehört zu den klassischen psychiatrischen
Krankheitsbildern und weist eine beeindruckend lange Tradition auf. Erste Fallbeschreibungen
lassen sich bis in die Aufklärung zurückverfolgen. Die Vertreter der ersten dynamischen
Psychiatrie setzten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausführlich mit dem Krankheitsbild
auseinander, u. a. Charcot, Freud u. Janet [10]. Ein erster Übersichtsartikel über MPS erschien 1944 [11] mit einer Auflistung der bis dato 76 publizierten Fälle.
Offizielle Anerkennung erhielt das Störungsbild der MPS mit der Aufnahme in die psychiatrischen
Manuale (1980 in das DSM-III, 1991 auch in die ICD-10) und wurde im DSM-IV 1994 in
dissoziative Identitätsstörung (DIS) umbenannt. Mit der Beschreibung von Diagnosekriterien
und Entwicklung von operationalisierten Screening- und Diagnoseinstrumenten konnten
systematisch Prävalenzangaben erhoben und gezeigt werden, dass DIS häufiger ist als
bislang vermutet. Auch konnte die bereits im 19. Jahrhundert postulierte posttraumatische
Genese bestätigt und darauf aufbauend störungsspezifische Behandlungstechniken entwickelt
werden [12]
[13]
[14].
Diese sind in umfassenden Guidelines dargestellt, die von internationalen Experten
verschiedenster Schulrichtungen erarbeitet und 2006 aktualisiert wurden. Hierin werden
sowohl ein phasenorientierter, schulenübergreifender, traumatherapeutischer Behandlungsansatz
als auch das aktive Einbeziehen der dissoziierten Persönlichkeitsanteile empfohlen
[15]. Die ISSD-Guidelines enthalten darüber hinaus eine Übersicht über erste Behandlungsstudien,
die durchweg positive Ergebnisse erbrachten. Damit liegen moderne Behandlungsmöglichkeiten
vor, mithilfe derer die ansonsten chronisch verlaufende Störung gut behandelt werden
kann.
Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen von diesen Möglichkeiten Nutzen ziehen können,
ist eine grundsätzliche professionelle Akzeptanz des Störungsbildes. Diese entwickelt
sich nur zögerlich, zumal wichtige Forschungsergebnisse nur unzureichend rezipiert
werden. Außerdem vertritt die ICD-10 eine eher veraltete Einschätzung zur DIS/MPS,
was zur Skepsis darüber beiträgt, ob es sich bei der DIS wirklich um eine valide und
seriöse Diagnose handelt.
Das Krankheitsbild erfüllt jedoch eindeutig die Kriterien einer validen Diagnose,
die auch nach modernen taxometrischen Überprüfungen eine gute Konstruktvalidität aufweist
[13]. Es zeigt sich zudem eine gute und konsistente Datenlage hinsichtlich eines Diathese-Stress-Modells,
bei dem die Stressfaktoren in Form von kindlichen Traumatisierungen hinlänglich belegt
sind [13]. Eine Überarbeitung im ICD-10 ist dringend erforderlich und sollte Folgendes berücksichtigen:
Aktuelle Studien bestätigen versorgungsrelevante Häufigkeiten von DIS in psychiatrischen
Populationen in Größenordnungen von 1 - 5 %. Zudem wird DIS in den kulturell unterschiedlichsten
Ländern gefunden (USA, Kanada, Niederlande, Schweiz, Norwegen, BRD, Türkei [12]
[16]).
Auch sollten, wie in der DSM-IV bereits geschehen, die hohen Prävalenzangaben von
Traumatisierungen Erwähnung finden. Verschiedene Studien mit DIS-PatientInnen zeigen,
dass in über 90 % der Fälle traumatische Erfahrungen in der Kindheit in Form von schwerer
Vernachlässigung sowie seelischer, körperlicher und sexueller Misshandlung angegeben
werden [13]. Diese Befunde lösten in den 90er-Jahren in den USA eine wissenschaftliche Diskussion
über Gedächtnisforschung sowie über den Wahrheitsgehalt der erinnerten Traumata aus.
Diese eskalierte jedoch zur politisch motivierten „False-Memory-Debatte”, in deren
polarisierendem und aufgeheiztem Klima eine unparteiliche Meinungsbildung über die
DIS erschwert war [17].
So wurde u. a. behauptet, dass vulnerable PatientInnen u. a. durch unsachgemäße, suggestive
Behandlungstechniken vonseiten ihrer Therapeuten falsche Erinnerungen an kindlichen
Missbrauch und/oder alternierende Persönlichkeitszustände im Sinne einer DIS entwickeln
[17]. Diese Behauptung wird in der ICD-10 durch die Aussage aufgegriffen, dass die MPS/DIS
möglicherweise iatrogen verursacht sei. Tatsache ist jedoch, dass es keine einzige
überzeugende Studie als Beleg für diese Hypothese gibt. Als Argument werden häufig
Laborstudien zur „Erzeugung” von DIS-Symptomen sowie Hypnose- und Rollenspielexperimente
angeführt. Diese Studien zeigen jedoch letztlich nur, dass einzelne Anzeichen der
Störungen für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum durch Suggestion hervorgerufen
oder simuliert werden können. Die StudienteilnehmerInnen zeigten jedoch in keinem
Fall das gesamte und komplexe Symptomspektrum einer DIS [12]
[17]. Die Iatrogenesehypothese sollte daher wegen fehlender wissenschaftlicher Fundierung
aus der ICD gestrichen werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass zu Beginn der
Etablierung einer Diagnose auch Fehldiagnosen vorkommen können. Diese lassen sich
jedoch durch sorgfältige differenzialdiagnostische Untersuchungen mit modernen spezifischen
Diagnoseinstrumenten vermeiden [14].
Zudem konnte durch aktuelle Studien die Traumagenese weiter erhärtet werden. Der Zusammenhang
von Trauma und Dissoziation konnte nicht nur durch retrospektive Studien [12]
[13], sondern auch durch prospektive und longitudinale Studien [18] gestützt werden. Auch konnten weitere Risikofaktoren - nämlich ein hoher posttraumatischer
Stresslevel sowie verminderte Möglichkeiten der Affektregulation [19] identifiziert werden. Funktionelle Hirnuntersuchungen zeigen je nach aktiviertem
Persönlichkeitszustand unterschiedliche psychobiologische Reaktionsweisen sowie wechselnde
Hirnaktivität im PET auf Konfrontation mit traumatischen Erinnerungen [20].
Fazit: Die Bezeichnung der DIS als „Modeerkrankung” ist nicht gerechtfertigt und birgt
die Gefahr in sich, die aktuellen gesellschaftlichen, medizinischen und wissenschaftlichen
Herausforderungen und Chancen, die mit dieser Diagnose verbunden sind, zu verkennen.
Zudem besteht hierdurch die Gefahr, das mit der Erkrankung verbundene individuelle
Leid nicht ernst zu nehmen.
Bei gesicherter DIS-Diagnose liegen hingegen moderne Behandlungsmöglichkeiten vor,
mithilfe derer die ansonsten chronisch verlaufende Störung gut behandelt werden kann.
Um Fehldiagnosen und darauffolgende Fehlbehandlungen zu vermeiden, sind sorgfältige
differenzialdiagnostische Untersuchungen der betroffenen PatientInnen essenziell.
Über diese klinischen Aspekte hinaus hat das Krankheitsbild schließlich auch das Potenzial,
zu elementaren Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns im Rahmen
der Emotions- und Gedächtnisforschung beizutragen sowie Fragen zum Identitätserleben
zu erhellen.