Z Orthop Unfall 2006; 144(6): 552-557
DOI: 10.1055/s-2006-971078
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Thema: Begutachtung - MdE-Bewertung bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule

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Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Institut für medizinische Begutachtung der Wirbelsäule

Bredenscheiderstr. 54

45525 Hattingen

Publication History

Publication Date:
22 February 2007 (online)

 
Table of Contents

Wir möchten unsere Leserschaft ermuntern, Berichte und Kasuistiken zum Thema Begutachtung an die Redaktion zur Veröffentlichung in Orthopädie aktuell zuzusenden.

Der folgende Beitrag zur MdE-Bewertung resultiert aus den Konsensus-Empfehlungen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe. Es handelt sich um eine übersichtliche Kurzfassung.

Die in Prozentsätzen auszurechnende Beeinträchtigung der vollen Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben infolge einer bandscheibenbedingten Erkrankung reicht von der leichten Leistungseinschränkung bei Kreuzschmerzen, bis zur schwersten Behinderung durch dauerhafte Nervenschädigungen. Bei unfall- oder berufsbedingten Bandscheibenschädigungen sind degenerative Vorerkrankungen zu berücksichtigen. Auch der wechselhafte Verlauf, mit abklingenden Beschwerden im Alter, macht eine Bewertung schwierig, weil bei der MdE nach Dauerschäden gefragt wird. Zu den indirekt bandscheibenbedingten Erkrankungen gehören auch postoperative Schmerzen und Behinderungen beim so genannte Postdiskotomiesyndrom.

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Bandscheibenbedingte Erkrankungen in der Begutachtung

Entsprechend ihrer hohen Punkt-, Jahres- und Lebenszeitprävalenz (Raspe und Kohlmann, 1993; Ludwig et al. 1999) sind bandscheibenbedingte Erkrankungen häufig Gegenstand ärztlicher Begutachtungen. Mit 60% führen sie die Gutachtenstatistik an, gefolgt von Schäden an der unteren Extremität (30%) und der oberen Extremität (10%) (Krämer 2006). Selbst wenn der eigentliche Schaden in einer Extremität liegt, wie z. B. beim Zustand nach Amputation oder nach Gelenkversteifung werden von den Betroffenen meistens zusätzliche Ansprüche wegen sekundärer Rückwirkungen auf die Wirbelsäule, speziell auf die Bandscheiben, geltend gemacht.

Bandscheibenbedingte Erkrankungen betreffen gleichermaßen häufig Bereiche der Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Anträge wegen Anerkennung einer Berufserkrankung oder Unfallverletzungsfolgen.

Bei den Konsensus-Empfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung bei bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule war die MdE-Bewertung von zentraler Bedeutung (von Bolm-Audorff et al. 2005).

Degenerative Vorschäden, wechselhafter Charakter der klinischen Symptome, mangelnde Objektivierbarkeit der Schmerzen erschweren die gutachterliche Beurteilung bandscheibenbedingter Erkrankungen. Da der Bewertungsspielraum groß ist, entstehen häufig langwierige Gerichtsverfahren mit Gegen- und Obergutachten.

Erschwerend wirkt sich für die Begutachtung die Tatsache aus, dass bis auf Kleinkinder alle Menschen mehr oder weniger stark degenerierte Bandscheiben besitzen.

Die Wirbelsäule ist wesentlich häufiger mit Vorschäden behaftet als die übrigen Teile der Stütz- und Bewegungsorgane. Entsteht durch ein Trauma eine zusätzliche Bandscheibenschädigung, bleibt es dem Gutachter überlassen, die Akzente mehr auf den Vorschaden oder mehr auf das Trauma zu setzen.

Bei gutachterlichen Untersuchungen muss man immer den wechselhaften Verlauf bandscheibenbedingter Erkrankungen berücksichtigen.

Sowohl im Tag-Nacht-Rhythmus als auch im Ablauf von Wochen, Monaten und Jahren finden Änderungen des Krankheitsbildes statt, die eine gerechte Beurteilung erschweren. Am Begutachtungstag trifft man den zu Beurteilenden häufig im beschwerdefreien Intervall. Dann ist man auf frühere Befunderhebungen in der Akte sowie auf die anamnestischen Angaben des Betroffenen angewiesen.

Die bildgebenden Verfahren ergeben für die Begutachtung bei bandscheibenbedingten Erkrankungen nur wenige Anhaltspunkte.

Auf der anderen Seite kann sich ein zum Untersuchungszeitpunkt nachweisbares akutes Zervikal- oder Lumbalsyndrom innerhalb weniger Tage und Wochen wieder zurückbilden. Alle bandscheibenbedingten Erkrankungen zeigen mit zunehmendem Alter eine Besserung, sodass man langfristige Beurteilungen und Festsetzungen der MdE unter Vorbehalt stellen kann. Kontrolluntersuchungen sind erforderlich. Wie bei allen gutachterlichen Untersuchungen ist auch bei der Beurteilung von bandscheibenbedingten Erkrankungen das Verhalten des Patienten seinen Krankheitserscheinungen gegenüber zu beachten. Bei Unfall-, Berufs-, Kriegs- und Verfolgungsschäden stehen Fragen der Ätiologie und Pathogenese im Vordergrund. Die Betroffenen neigen dazu, alle Beschwerden mit dem jeweiligen Ereignis in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Wenn es um die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit im Rahmen der Rentenversicherung oder auch um die Arbeitsunfähigkeit bei der Krankenversicherung geht, ist die Ursache des Leidens unerheblich. Hier handelt es sich in erster Linie um die Behinderung bei der jeweiligen beruflichen Tätigkeit und entsprechender MdE-Einteilung (siehe Tab. [1]). Bei gutachterlichen Untersuchungen zur Frage der Berufs- oder Sporttauglichkeit findet man eher eine Neigung zur Dissimulation.

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Tab. 1: MdE-Bewertung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule

Die gutachterliche Einschätzung der Leistungsminderung einer Wirbelsäule durch Vorschäden oder äußere Einwirkungen ist ebenso schwierig wie die Einschätzung der Leistungsfähigkeit einer scheinbar gesunden Wirbelsäule gegenüber Belastungen in Beruf oder Sport.

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MdE

Minderung der Erwerbsfähigkeit ist die in Prozentsätzen auszudrückende Beeinträchtigung der vollen Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben infolge eines bestehenden Gesundheitsschadens - z. B. einer bandscheibenbedingten Erkrankung. Die MdE bestimmt die Höhe der Rentenleistungen vornehmlich in den Rechtsbereichen der gesetzlichen Unfallversicherung, des sozialen Entschädigungsrechts und im Entschädigungsrecht des Bundesentschädigungsgesetzes. Bei der gesetzlichen Unfallversicherung geht es um die Minderung der Erwerbsfähigkeit, z. B. durch einen Bandscheibenvorfall, oder um die Leistungseinschränkung durch eine als Berufskrankheit anerkannte bandscheibenbedingte Erkrankung. Im Gutachten ist eine exakte Bemessung der MdE auch dann erforderlich, wenn diese - wie z. B. in der gesetzlichen Unfallversicherung - bei der Berufskrankheitenverordnung bei einem Prozentsatz von unter 20 noch keinen Rentenanspruch auslöst. Die Forderung, bei der Bewertung der MdE nur Dauerschäden und keine vorübergehenden Zustände zu berücksichtigen, ist bei bandscheibenbedingten Erkrankungen wegen des wechselhaften Verlaufs sehr schwierig. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht (1996) kann nach einem Durchschnittswert bemessen werden, wenn bei wechselnden Befunden eine Bewertung nach getrennten Zeitabschnitten nicht möglich ist. Der Gutachter hat bei bandscheibenbedingten Erkrankungen nicht nur den aktuellen Zustand zu berücksichtigen, der entweder eine erhebliche oder nur geringfügige Symptomatik zeigt, sondern auch die Krankheitsschübe der Vergangenheit und die Prognose im Hinblick auf das Alter des Patienten.

Das Spektrum der Leistungseinschränkung infolge bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule reicht von keiner bzw. nicht messbaren MdE (Stufe 0) bei gelegentlich auftretenden einfachen Kreuzschmerzen als Volkskrankheit, mit unerheblichem Befund im bildgebenden Verfahren, bis zu schwersten Behinderungen, z. B. durch Geh- und Stehunfähigkeit und permanenten Schließmuskelstörungen nach Massenprolaps oder nach einer fehlgeschlagenen Bandscheibenoperation (Stufe 4).

Die MdE-Bewertung mit relevanter Abstufung richtet sich in erster Linie nach den klinischen Kriterien: Anamnese, Schmerz, klinischer Befund und, erst nachgeordnet, nach den Befunden in den bildgebenden Verfahren.

Die Bewertung der klinischen Kriterien berücksichtigt die subjektiven Angaben der Betroffenen zur Anamnese, die aktuellen Beschwerden, die Aktenunterlagen zur speziellen Krankheitsvorgeschichte und die vom Arzt erhobenen Untersuchungsbefunde. Schmerzen werden nach Lokalisation, Belastungsabhängigkeit, Dauer und vor allem nach ihrer Stärke beurteilt. Kreuzschmerzen ohne Beinausstrahlung sind geringer zu bewerten als Kreuzschmerzen mit radikulärer oder pseudoradikulärer Symptomatik, die in der Regel stärker und anhaltender sind.

Die Schmerzeinteilung bei bandscheibenbedingten Erkrankungen erfolgt wie bei anderen Schmerzen nach der visuellen Analogskala mit entsprechenden MdE-Werten. Bei Begutachtungen sind die Angaben über die Schmerzstärke jedoch nur eingeschränkt verwertbar.

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Lokales Lumbalsyndrom

Bleibt die Symptomatik auf die Lumbalregion beschränkt, handelt es sich um ein lokales Lumbalsyndrom.

Die Symptome des lokalen Lumbalsyndroms lassen sich durch rückenschulgerechte Haltungen und Verhaltensweisen relativ gut beeinflussen. Leistungseinschränkungen bestehen für längeres Sitzen und Stehen, für Arbeiten in gebückter Haltung sowie für das Heben und Tragen von Lasten über 10-20 kg, je nach Schmerzstärke. Günstig sind Gehen sowie der Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen. Die therapeutische Empfehlung lautet: Aktiv bleiben, nicht ruhen.

Die MdE beim lokalen Lumbalsyndrom liegt je nach Schweregrad zwischen 10% und 20%.

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Lumbales Wurzelsyndrom

Beim lumbalen Wurzelsyndrom finden sich neben mehr oder weniger ausgeprägten Symptomen eines lokalen Lumbalsyndroms Zeichen einer Nervenwurzelbedrängung.

Je nach Schweregrad und betroffener Nervenwurzel finden sich ein oder mehrere Symptome in unterschiedlicher Kombination. Gravierend und leistungseinschränkend sind Schmerzen und motorische Störungen funktionell wichtiger Muskeln, z. B. Fußheber (Peroneus) und Kniestrecker (Quadrizeps). Residuelle Reflexabweichungen und Sensibilitätsstörungen sind nicht leistungsmindernd. Ebenso gering zu bewerten sind funktionell weniger bedeutsame motorische Störungen, wie z. B. eine Großzehenheberschwäche oder leichte Fußsenkerschwächen. Diese stellen z. B. bei fehlender oder nur geringer Schmerzsymptomatik keine OP-Indikation dar, trotz ggf. eindrucksvoller Befunde in den bildgebenden Verfahren.

Nervenwurzelsyndrome lassen sich durch rückenschulgerechte Haltungen und Verhaltensweisen relativ wenig beeinflussen. Leistungseinschränkungen bestehen für Heben und Tragen von Lasten. Sitzen, Stehen und Arbeiten in gebückter Haltung sind nur kurzfristig möglich. Auch für lumbale Wurzelsyndrome gilt die therapeutische Empfehlung: Keine Bettruhe, im Rahmen der Möglichkeiten aktiv bleiben und so gut es geht, den täglichen Verrichtungen nachgehen. Den Betroffenen ist ein großer Teil des Arbeitsmarktes auch für leichte und mittelschwere Arbeiten verschlossen.

Die MdE für lumbale Wurzelsyndrome mit mittelgradig bis starken Schmerzen und (oder) motorischen Störungen funktionell wichtiger Muskeln liegt bei 30% und höher.

Eine persistierende gravierende Kaudasymptomatik ist eine Sonderform des lumbalen Wurzelsyndroms und bewirkt eine MdE von über 50%. Gleiches gilt für chronisch rezidivierende lumbale Wurzelsyndrome im Rahmen postoperativer Verwachsungen (Postdiskotomiesyndrom) und Instabilität Schweregrad II und III.

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Bildgebende Verfahren

Die MdE-Bewertung von Befunden in den bildgebenden Verfahren erfolgt nur im Zusammenhang mit dem klinischen Befund. Klinisch relevant können sein:

  • altersuntypische Höhenminderung einer oder mehrer Bandscheibe(n)

  • Arthrose der Wirbelgelenke (Spondylarthrose)

  • dorsale Spondylophyten (Retrospondylose)

  • Bandscheibenprotrusion

  • Bandscheibenprolaps

  • degeneratives Wirbelgleiten

  • Retrolisthese

  • postoperative Verwachsungen

Sklerosierungen der Wirbelkörperabschlussplatten, schwarze Bandscheiben im MRT (sog. Black discs) sind ebenso wie Spondylosen ohne klinische Relevanz (Krämer/Köster 2001). Randzackenbildungen haben nur als sog. Retrospondylose mit den in Wirbelkanal ragenden Knochenauswüchsen eine klinische Bedeutung mit Leistungseinschränkung, wenn es zum Wurzelkontakt kommt. Vordere und seitliche Randzackenbildungen an den Wirbelkörpern - auch bei starker Ausprägung mit tendenzieller oder vollständiger Brückenbildung sind klinisch bedeutungslos, weil sie mit neuralen Strukturen nicht in Kontakt treten können. Sie haben allenfalls eine Bedeutung als belastungskonformes Wirbelsäulenschadensbild der Berufskrankheit.

Klinisch relevant sind deutliche, rasch eintretende Höhenminderungen der Bandscheiben unter 1/3 der ursprünglichen Bandscheibenhöhe mit vermehrter Belastung der Wirbelgelenke und nachfolgender Arthrose (Spondylarthrose), das sich klinisch als sog. lumbales Facettensyndrom im Rahmen des lokalen Lumbalsyndroms bemerkbar macht. Die hierdurch hervorgerufenen Schmerzen und Behinderungen sind nicht wesentlich leistungseinschränkend, weil sie sich durch rückenschulgerechte Haltungen und Verhaltensweisen sowie durch viel Bewegung (aktiv bleiben) gut beeinflussen lassen. Die MdE hierfür liegt unter 10%.

Leistungseinschränkend wegen der Möglichkeit der Verschlimmerung bei inadäquater Verhaltensweise sind Verlagerungen von Bandscheibengewebe in Form von Protrusionen und Prolapsen der unteren lumbalen Bandscheiben mit Wurzelkontakt und entsprechenden Nervenwurzelsyndromen. Hier besteht eine deutliche Leistungseinschränkung mit MdE-Werten über 30%. Eine Ausnahme bilden meist solitäre große Protrusionen, die mehr als 5 mm über die Verbindungslinie der dorsalen Begrenzung der WK-Hinterkante ragen und (noch) keinen bzw. nur geringen Wurzelkontakt mit keinen oder geringen Beschwerden haben. Hier ergibt sich eine Leistungseinschränkung vorwiegend aufgrund des MRT-Befundes wegen drohender Verschlimmerung. Auch eine durch Röntgenfunktionsaufnahmen (Vor- und Rückneigung) nachgewiesene Segmentinstabilität kann bei geringen oder keinen Beschwerden als leistungsmindernd bewertet werden.

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Beeinträchtigung auf dem Arbeitsmarkt

Es ist zu definieren, welche der folgenden Anforderungen des Arbeitsmarktes in welchem Umfang eingeschränkt sind und weshalb:

  • Gehen,

  • Stehen,

  • Sitzen,

  • Arbeiten in gebückter Haltung,

  • Heben,

  • Tragen unterschiedlicher Gewichte,

  • Überkopfarbeit

Das Spektrum der MdE-Abstufung bei vorliegender bandscheibenbedingter Erkrankung reicht von den niedrigen MdE-Stufen mit der Empfehlung weiterzuarbeiten als Teil der Therapie, bis zu höheren MdE-Stufen (über 20%) mit Unterlassungszwang bei Berufskrankheiten.

Unterlassung bedeutet Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit, weil Betroffene aufgrund von Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen nicht mehr dazu in der Lage sind, diese Tätigkeit auszuüben und weil eine Verschlimmerung verhindert werden soll. Der Zwang zur Unterlassung ist anhand objektiver Befunde zu bestimmen. Bei geringeren MdE-Stufen besteht kein Unterlassungszwang. Grund hierfür ist die heutige Anschauung von der Behandlung und dem Umgang mit bandscheibenbedingten Erkrankungen. Während früher Ruhe und Schonung bei Kreuzschmerzen und Ischiasbeschwerden oberstes Gebot waren, rät man heute aufgrund der Ergebnisse aus kontrollierten Studien, weiter aktiv zu bleiben und seinen täglichen Verrichtungen, einschließlich leichter und mittelschwerer Berufsarbeit weiter nachzugehen. (Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, 2. Auflage 2006, Nachemson, Jonsson: Neck and Back Pain 2000, Waddell: The back pain revolution 2. Auflage 2004, Krämer: Bandscheibenbedingte Erkrankungen, 5. Auflage 2006.)

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MdE-Bewertungsstufen

Die meisten bandscheibenbedingten Erkrankungen werden in Stadien und Schweregrade eingeteilt. Die Stadien bandscheibenbedingter Erkrankungen richten sich nach dem üblichen Diskosegrad und den dazugehörigen klinischen Erscheinungen. Die Schweregradeinteilung erfolgt in der Regel in leicht, mittelgradig, schwer, was für die Leistungsfähigkeit bei bandscheibenbedingten Erkrankungen zu allgemein und unverbindlich ist.

Um alle Leistungseinschränkungen bei bandscheibenbedingten Erkrankungen von unbedeutenden Kreuzschmerzen bis zu schwersten Behinderungen bei Nervenwurzelkompression zu erfassen, ist eine differenziertere Einteilung erforderlich, die in Tab. [1] wiedergegeben ist.

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Stufe 0:

Bandscheibenbedingte Beschwerden ohne Leistungseinschränkung. MdE 0%.

Diagnose:

Einfacher Kreuzschmerz.

In diese Kategorie gehören die bei jedem Menschen gelegentlich auftretenden Kreuzschmerzen mit einer hohen Punkt- und Jahresprävalenz sowie einer   100%igen Lebenszeitprävalenz.

Klinik:

Bei jedem Menschen treten gelegentlich Kreuzschmerzen auf, z. B. nach längerem unangelehnten Stehen, vorübergehend nach schwerem Heben und Tragen, aber auch spontan ohne Ursache. Gelegentlich kann es auch zu kurzfristigen heftigen Kreuzschmerzen mit Bewegungssperre im LWS-Bereich als Lumbago (Hexenschuss) kommen.

Bildgebender Befund:

Röntgenübersichtsaufnahmen der LWS zeigen altersentsprechende Bandscheibenhöhen. Bei Schwerarbeitern und Leistungssportlern treten als Ausdruck der stärkeren knöchernen Beanspruchung Sklerosierungen der Wirbelkörperdeckplatten ggf. mit Randkantenausziehungen auf. Sie sind ohne klinische Bedeutung.

Leistungseinschränkung:

In Haushalt und Beruf sind alle Verrichtungen, auch Schwerarbeiten möglich. Dies gilt auch für den Leistungssport. Bei einer Lumbago besteht eine vorübergehende Beeinträchtigung für schwere körperliche Arbeiten, ggf. mit kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit (Krankschreibung). Beim Sport ist eine Pause angebracht.

Prävention:

Primäre Präventionsmaßnahmen zur Vorbeugung von Rückenschäden gehören zur Körperhygiene, auch bei gesunden Menschen: Bewegung, Sport und Gymnastik verhindern bandscheibenbedingte Erkrankungen.

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Stufe 1:

Leichte Leistungseinschränkung. MdE 10%.

Diagnose:

Lokales Lumbalsyndrom mit leichten Kreuzschmerzen.

Klinik:

Regelmäßig auftretende Kreuzschmerzen mit Bewegungs- und Belastungsschmerz, Muskelverspannungen, Bewegungseinschränkung der LWS, länger anhaltend. In die Stufe 1 gehören auch residuelle sensible Nervenwurzelreizerscheinungen geringer Ausprägung, wie z. B. nach durchgemachtem Nervenwurzelkompressionssyndrom oder als Endzustand einer positiv verlaufenden Bandscheibenoperation.

Bildgebender Befund:

Höhenminderung einer oder mehrerer Bandscheiben, Spondylarthrose.

Leistungseinschränkung:

Da mit einer Verstärkung der regelmäßig vorhandenen Kreuzschmerzen gerechnet werden muss, sind Tätigkeiten in gebückter Haltung, und Handhabung schwerer Lasten zu vermeiden.

Prävention:

Bei regelmäßigen Kreuzschmerzen sollten sich die Betroffenen mit den Regeln der Rückenschule beschäftigen und regelmäßig muskelkräftigende Übungen, möglichst unter Anleitung, durchführen. Für die Betroffenen der Stufe 1 sind ergonomisch optimierte Arbeitsplätze, Hebe- und Tragehilfen am Arbeitsplatz zu empfehlen.

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Stufe 2:

Mittlere Leistungseinschränkung. MdE 20%.

Diagnose:

Lokales Lumbalsyndrom mit regelmäßig starken Kreuzschmerzen, gelegentlich Nervenwurzelreizerscheinungen.

Klinik:

Häufig auftretende Kreuzschmerzen mit Bewegungs- und Belastungsschmerz, Muskelverspannung, Bewegungseinschränkung der LWS, gelegentlich ins Bein ausstrahlend, ohne neurologische Ausfälle. In diese Kategorie gehören auch postoperative Zustände mit mittelgradigen Funktionseinschränkungen.

Bildgebender Befund:

Höhenminderung der Bandscheiben, Spondylarthrose, Protrusion, postoperative Narben.

Leistungseinschränkung:

Dauerhafte Zwangshaltung im Sitzen oder im Stehen, mehr als gelegentliches Arbeiten in gebückter Haltung und Handhaben schwerer Lasten.

Prävention:

Spezielle Schutzmaßnahmen wie in Stufe 1, ggf. Unterlassung der beruflichen Tätigkeit, wenn diese mit häufiger gebückter Haltung und (oder) Handhaben schwerer Lasten regelhaft einhergeht.

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Stufe 3:

Schwere Leistungseinschränkung. MdE 30% bis 40%.

Diagnose:

Lumbales Wurzelskompressionssyndrom mit starken Kreuz-/Beinschmerzen und motorischen Störungen funktionell wichtiger Muskeln. Postdiskotomiesyndrom I. bis II. Grades

Klinik:

Lumbalsyndrom mit segmentalen Schmerzen und Sensibilitätsstörungen, die ständig vorhanden sind.

Bildgebender Befund:

Protrusion, Prolaps, Narbe.

Leistungseinschränkung:

Sitzen, Stehen und Arbeiten in gebückter Haltung sind nur kurzfristig möglich und wenn, dann im Wechsel.

Prävention:

Wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten und Sportarten sollten aufgegeben werden (Unterlassung).

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Stufe 4:

Schwerste Leistungseinschränkung. MdE 50% und höher.

Diagnose:

Lumbales Wurzelkompressionssyndrom, schwere motorische Störungen, Kaudasyndrom, Postdiskotomiesyndrom II.+III. Grades

Klinik:

Es bestehen stärkste Schmerzen, regelmäßig müssen starke Analgetika eingenommen werden. Es besteht eine deutliche Geh- und Stehbehinderung, ggf. finden sich Schließmuskelstörungen.

Bildgebender Befund:

Protrusion, Prolaps, Narbe.

Leistungseinschränkung:

Eine regelmäßige berufliche Tätigkeit kann nicht mehr durchgeführt werden, weil allein schon durch die regelmäßige Einnahme von Analgetika, meistens morphinhaltige Präparate, das Aufsuchen des Arbeitsplatzes mit PKW oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefährlich ist.

Prävention:

Unterlassung von Belastungen aller Art. Die Patienten benötigen eine spezielle Einzeltherapie.

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Individuelle Bewertung

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Wechselhafter Verlauf

Bandscheibenbedingte Erkrankungen zeigen einen wechselhaften Verlauf. Im Laufe des Lebens haben Frequenz und Intensität bandscheibenbedingter Erkrankungen ein Maximum im mittleren Lebensabschnitt (35-45 J.) mit allmählichem Abklingen nach dem 50. Lebensjahr (Krämer, 2006). Das heißt, wenn ein 40-Jähriger ein prolapsbedingtes lumbales Wurzelsyndrom als Unfallfolge oder als Berufskrankheit (BK 2108) mit einer MdE von 30% und Unterlassungszwang anerkannt bekommt, reduziert sich im Normalfall seine bandscheibenbedingte Erkrankung innerhalb der nächsten 1-2 Jahre bei adäquater konservativer Behandlung auf ein lokales Lumbalsyndrom mit einer MdE unter 10%. Die Gefährdung, einen neuen Prolaps zu erleiden, ist bei ihm nicht größer als bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der Stufe I und II. Die Problematik besteht ggf. in einer Wiedereingliederung in die ursprüngliche berufliche Tätigkeit nach vorübergehender Unterlassung.

Kontrolluntersuchungen und MdE-Anpassungen sind erforderlich.

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Chronifizierung durch psychosoziale Faktoren

Wenn die angegebenen Schmerzen und Behinderungen nicht dem klinisch neurologischen Befund und dem Befund in den bildgebenden Verfahren entsprechen, ergeben sich Schwierigkeiten in der MdE-Zuordnung. Oft spielen psychosoziale Faktoren (gelbe Flagge) eine Rolle. Psychologen sollten in solchen Fällen hinzugezogen werden.

Chronifizierung bedeutet Übergang vom einfachen zum komplizierten Kreuzschmerz. Die Ergebnisse prospektiver Studien belegen eindrucksvoll, dass psychosoziale Mechanismen die Chronifizierung von Rückenschmerzen besser vorhersagen können als biografische oder somatische Faktoren (Pfingsten und Schöps, 2004; Reck, 2005). Die Risikofaktoren für die Chronifizierung von bandscheibenbedingten Erkrankungen liegen zum großen Teil im psychischen Bereich. Aber auch Verzögerungen in der Therapie spezifischer Ursachen, inadäquate Aufklärung des Patienten über funktionelle Störungen, bahnen neben dem Nichterkennen pyschosozialer Zusammenhänge den Weg zum chronischen Rückenschmerz mit all seinen medizinischen und psychosozialen Folgen (Casser, 2001).

Wenn das Ausmaß der Schmerzen und Behinderungen vorwiegend auf psychologische Faktoren zurückzuführen ist, kann eine relevante MdE-Bewertung als Unfallfolge oder als Berufserkrankung aufgrund des Fehlens regelhafter organischer Befunde nicht anerkannt werden. Die Problematik einer chronischen Schmerzkrankheit aufgrund eines Bandscheibenschadens ist z. B. in der BK 2108 nicht berücksichtigt.

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Abweichungen von der Stufeneinteilung

Bandscheibenbedingte Erkrankungen weisen bei der aktuellen Befundaufnahme und im Verlauf eine große Variationsbreite auf. Die regelhaften Befunde können unterschiedlich kombiniert sein. Es gibt lokale Lumbalsyndrome, die trotz fehlender Beinausstrahlung aufgrund starker Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigung eine schwere Leistungseinschränkung mit einer MdE von 30% und höher mit Unterlassungszwang bewirken. Ursache sind z. B. seltene rasche Bandscheibenhöhenminderungen mit Segmentinstabilität und starker Wirbelgelenkbelastung. Diese seltenen Fälle stellen z. B. Indikationen zur Fusionsoperation dar. Auf der anderen Seite können lumbale Wurzelsyndrome mit geringen Beschwerden einhergehen und nur eine leichte Leistungseinschränkung mit geringer MdE ohne Unterlassungszwang verursachen. In jedem Fall ist eine individuelle Bewertung erforderlich.

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Postoperative Zustände

Nach der Operation eines lumbalen Bandscheibenvorfalls (Diskotomie) und nach Fusionsoperationen kommt es nur selten zu einer vollständigen Heilung der bandscheibenbedingten Erkrankung ohne jegliche Leistungseinschränkung (Restitutio ad integrum). Das operierte Bewegungssegment nach der Diskotomie und im Falle einer Fusion die Nachbarsegmente bleiben immer eine Schwachstelle mit besonderer Anfälligkeit gegenüber äußeren Einwirkungen. Schon eine relativ kleine Bandscheibenprotrusion, die beim nicht voroperierten Patienten ein vorübergehendes lokales Lumbalsyndrom oder leichte Nervenwurzelreizerscheinungen hervorgerufen hätte, verursacht im voroperierten Segment mit narbiger Verklebung der Nervenwurzel mit seiner Umgebung, starke, anhaltende Nervenwurzelreizerscheinungen mit deutlicher Leistungseinschränkung. In 10% der Fälle entsteht nach jeder Bandscheibenoperation ein Postdiskotomiesyndrom (PDS) (Krämer 2006) mit unterschiedlichen Schweregraden, die bei der MdE-Bewertung zu berücksichtigen sind. War der operierte Bandscheibenvorfall eine anerkannte Berufserkrankung im Sinne der BK 2108 oder eine Unfallfolge, so sind auch die Folgeerscheinungen der Operation ggf. mit Postdiskotomiesyndrom unterschiedlichen Schweregrades anzuerkennen und mit einer entsprechenden MdE zu bewerten. Wegen der relativ hohen MdE-Werte beim Unterlassungszwang bei postoperativen Zuständen ist vonseiten der Versicherungsträger Patienten mit potenzieller BK bei der OP-Indikation, Durchführung und Nachbehandlung besondere Beachtung zu schenken.

Konsensusempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe:

Bolm-Audorff, U., Brandenburg, S., Brüniing, T., Dupuis, H., Ellegast, R., Elsner, G., Grasshoff, H., Grosser, V., Hanisch, L., Hartmann, B., Hartung, E., Hering, K., Heuchert, G., Jäger, M., Krämer, J., Kranig, A., Ludolph, E., Luttmann, A., Nienhaus, Pieper, W., Pöhl, K., Remé, T., Riede, D., Rompe, G, Schäfer, K., Schilling, S., Schmitt, E., Schröter, F., Seidler, A., Spallek, M., Weber, M.: 2005.

Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsälue (I+II)

Literatur beim Verfasser

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Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Institut für medizinische Begutachtung der Wirbelsäule

Bredenscheiderstr. 54

45525 Hattingen

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Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Institut für medizinische Begutachtung der Wirbelsäule

Bredenscheiderstr. 54

45525 Hattingen

 
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Tab. 1: MdE-Bewertung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule