Intensivmedizin up2date 2005; 1(4): 277-279
DOI: 10.1055/s-2007-966133
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenverfügungen und Einstellung von lebenserhaltenden Maßnahmen

Further Information

Publication History

Publication Date:
17 January 2007 (online)

Table of Contents

Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen [1].

Am 17.3.2003 hat der 12.Zivilsenat des Bundesgerichtshofes einen wesentlichen Beschluss zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung gefasst [2]. Eine so genannte Patientenverfügung, in der ein Patient lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen für den Fall ablehnt, dass sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat und er entscheidungsunfähig ist, ist als sog. „antizipative” Willenserklärung von den behandelnden Ärzten, dem u. U. eingesetzten Betreuer und dem Vormundschaftsgericht als verbindlich zu betrachten. Ausnahme: Der Patient hat sich von seiner früheren Verfügung mit erkennbarem Widerrufswillen distanziert oder die Sachlage hat sich nachträglich so erheblich geändert, dass der in der Patientenverfügung geäußerte Wille die aktuelle Sachlage nicht umfasst.

Liegt keine Patientenverfügung vor, ist hilfsweise der mutmaßliche Wille des Betroffenen zu eruieren. Dieser ist nach dessen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen zu bestimmen.

#

Ist der Verlauf irreversibel tödlich?

Zwischen - jeweils erlaubter - sog. Sterbehilfe im eigentlichen bzw. engeren Sinne (irreversibler tödlicher Verlauf mit unmittelbarer Todesnähe) und sog. Sterbehilfe im weiteren Sinne (irreversibler Verlauf, ohne dass der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat) ist zu unterscheiden. Daraus folgt, dass ein Behandlungsabbruch von vornherein ausschließlich dann infrage kommt, wenn das Grundleiden des Betroffenen bereits einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat. Oder anders ausgedrückt: Liegt ein irreversibler tödlicher Verlauf nicht vor, würden sich sowohl das Verlangen eines Betreuers nach einem Abbruch der Behandlung wie auch eine etwaige diesbezügliche Billigung des Vormundschaftsgerichts als rechtswidrig darstellen. Es bleibt allerdings die Frage: Mit welcher Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit muss diese Prognose bezüglich des Krankheitsverlaufs gestellt werden? Der BGH hat eine „letzte Sicherheit” für den irreversiblen tödlichen Verlauf der Krankheit verlangt.

Die Umsetzung des geäußerten bzw. des mutmaßlichen Willens des Betroffenen ist exklusive Aufgabe des Betreuers, wenn denn ein solcher bestellt worden ist als gesetzlicher Vertreter des Patienten. Die Erklärung des Betreuers zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bedarf für ihre Wirksamkeit jedoch der vorherigen vormundschaftlichen Genehmigung, wenn sich der Betreuer mit ärztlicherseits angebotenen lebenserhaltenden Maßnahmen nicht einverstanden erklärt und es insoweit zu einem Konflikt kommt. Das Vormundschaftsgericht braucht also nur dann angerufen zu werden, wenn kein Konsens zwischen Betreuer und behandelndem Arzt zur Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen erreicht werden kann.

Bis zur Entscheidung des Vormundschaftsgerichts ist die lebensverlängernde oder - erhaltende Behandlung bei medizinischer Indikation auch ohne entsprechende Einwilligung des Betreuers bzw. sogar gegen dessen ausdrückliche Anweisung durch die behandelnden Ärzte zwingend fortzusetzen. Stimmt das Vormundschaftsgericht dem Behandlungsabbruch allerdings rechtskräftig zu, ist dies für die behandelnden Ärzte verbindlich.

Eine gesetzliche Regelung der aufgeworfenen Problematik ist auch nach Auffassung des BGH wünschenswert. Sicher war es das Anliegen des Bundesgerichtshofes, angesichts bislang fehlender gesetzlicher Regelung für mehr Rechtssicherheit zu sorgen. Allerdings waren insbesondere aus juristischen Kreisen kritische Fragen aufgeworfen worden, die uns Ärzte zunehmend verunsichert hatten und einige von uns leider immer noch verunsichern.

Kernaussage der BGH-Entscheidung war ja, dass eine qualifizierte Patientenverfügung für alle Beteiligten, insbesondere auch für die behandelnden Ärzte, im Falle eines irreversiblen tödlichen Verlaufs des Grundleidens rechtlich bindend ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Arzt, der bewusst hiergegen verstößt, sich der Körperverletzung schuldig macht und deswegen belangt werden kann.

Der Patientenwille, die Autonomie des Patienten, steht über der Behandlungspflicht des Arztes, und ist damit höher einzustufen als der Grundsatz ärztlichen Handelns: Salus aegroti suprema lex. Dies hat auch die neue Entscheidung des BGH vom 8.6.2005 noch einmal klar gemacht [3].

#

Nicht die Angehörigen entscheiden

Deutlich wurde auch, dass es nicht die Angehörigen sind, die die notwendigen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind in der Patientenverfügung getroffen. Auch ein Betreuer transportiert lediglich den Willen des Patienten. Dies soll nicht bedeuten, dass man als Arzt nicht den Betreuer und die Angehörigen in seine Überlegungen mit einbezieht und auf diese Weise letztlich doch eine gemeinsame und von allen Seiten akzeptierte Lösung erreicht.

Insbesondere Frau Dr. Hahne, Vorsitzende des 12.Zivilsenats des BGH, wies darauf hin, dass die Rechtsprechung, (nur) in Konfliktsituationen das Vormundschaftsgericht einzuschalten, dem Ziele diene, dem Betreuer den Rücken zu stärken, ihn zu entlasten. Die die Verbindlichkeit der Patientenverfügung einengende Bindung an den irreversiblen tödlichen Verlauf lag in der Entscheidung des 1.Strafsenat des BGH in dem sog. „Kemptener Urteil” aus dem Jahre 1994 begründet [4]. Frau Dr. Hahne selbst äußerte einmal in einem Interview, dass sie unter dem Begriff irreversibler tödlicher Verlauf eine Krankheit verstehe, die ohne künstliche Hilfsmittel den Patienten sterben lässt.

Der Arzt kann Maßnahmen verweigern, für die es keine medizinische Indikation gibt. Die medizinische Indikation begrenzt insofern den ärztlichen Heilauftrag. Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod entzieht sich weitgehend der Bestimmbarkeit. Er ist rationalen Überlegungen nicht in vollem Umfang zugänglich und kaum grundsätzlich regelbar. Dies gilt auch bei bewusstlosen Patienten. Die Verantwortung für die durchgeführte Therapie trägt der behandelnde Arzt. Der gute Arzt muss dabei den (mutmaßlichen) Willen des Patienten berücksichtigen, doch ist ein gewisser Entscheidungsspielraum unverzichtbar. Die medizinische Indikationsstellung ist das Instrument, mit dem der Arzt im konkreten Fall entscheidet, ob die Behandlung „nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist” [5].

Wenn die Entscheidung, das Sterben zuzulassen, gefallen ist, macht es dann einen Unterschied, ob man lediglich auf weitere therapeutische Maßnahmen verzichtet, oder bereits begonnene Maßnahmen abbricht?

Aus medizinischer Sicht besteht kein Unterschied zwischen Abbruch und Verzicht, da der Zweck der Behandlung darin besteht, den Zustand des Patienten zu verbessern. Ist dieser Zweck mit einer medizinischen Maßnahme nicht zu erreichen, ist es unerheblich, in welcher Form - Abbruch oder Verzicht - sie unterlassen wird. Ferner ist häufig nicht a priori, sondern erst nach Beginn eines Therapieversuchs zu entscheiden, ob diese Therapie geeignet ist, den Zustand des Patienten zu verbessern. Wenn der Abbruch einer medizinischen Therapie „schwerer” als der Therapieverzicht wäre, könnte dies dazu führen, dass allein aus diesem Grund von Therapieversuchen Abstand genommen wird.

Auch aus herrschender juristischer Sicht besteht kein Unterschied: So führt Eser [6] im Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch aus: „Ist die Pflicht zu Lebensverlängerungsmaßnahmen zu verneinen, so ist im Grundsatz gleichgültig, ob das Sterbenlassen bereits durch Nichtaufnahme oder erst durch Abbruch einer Behandlung erfolgt.” Dies gilt, darauf wird explizit hingewiesen, auch für den technischen Behandlungsabbruch, z. B. das Abschalten von Beatmungsgeräten. Wenn die Voraussetzungen für eine Therapiereduktion vorliegen, dann ist es also aus theoretischer Sicht völlig unerheblich, in welcher Form die Behandlung eingeschränkt wird.

#

Verzicht fällt leichter als Abbruch

Dass in der Praxis unterschiedliche Arten der Therapieeinschränkung im Rahmen des zulässigen Sterbenlassens dennoch unterschiedlich beurteilt werden, hat seine hauptsächliche Ursache in der prognostischen Unsicherheit. So ist die Befürchtung, eine bestimmte Form der Therapiereduktion sei zu „aktiv”, auf die Angst vor der falschen Prognose zurückzuführen, auf die Angst, das Leben des Patienten zu beenden, obwohl dieser vielleicht doch noch eine winzig kleine Chance hat.

Bezeichnenderweise haben viele Ärzte und Pflegekräfte weniger Schwierigkeiten, auf eine therapeutische Maßnahme zu verzichten, als eine begonnene Maßnahme abzubrechen, beispielsweise eine künstliche Beatmung [7]. Bei der Therapiereduktion wird deshalb häufig stufenweise vorgegangen. Die erste Entscheidung ist meist, auf eine kardiopulmonale Wiederbelebung zu verzichten, sollte es zum Kreislaufversagen kommen. Eine zweite Stufe der Therapieeinschränkung umfasst dann den Verzicht auf zusätzliche Interventionen, z. B. Steigerung der Beatmungsaggressivität, Dosiserhöhung der Kreislaufmedikamente oder Einsatz einer Hämodialyse. Erst zuletzt werden in der Regel bereits begonnene Therapieverfahren abgebrochen, z. B. Hämodialyse, Kreislaufmedikamente, Beatmung, mechanische Kreislaufunterstützungssysteme. Nur ausnahmsweise steht der Therapieabbruch am Anfang des Sterbenlassens. Ein typisches Beispiel dafür ist die nicht beherrschbare Blutung, bei der auf weitere Gabe von Blutprodukten verzichtet wird.

Ungeachtet aller sonstigen juristischen Rückendeckung für unsere Entscheidungen ist für uns Ärzte, wenn es um Entscheidungen der hier diskutierten Art geht, eine qualifizierte Patientenverfügung äußerst hilfreich. Auch aus diesem Grund lohnt es sich, in der Bevölkerung verstärkt für die Patientenverfügung zu werben.

H. Van Aken, K. Ulsenheimer

#

Literatur

#

Literatur