Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten
Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu
lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung
besteht daher nicht unter allen Umständen [1].
Am 17.3.2003 hat der 12.Zivilsenat des Bundesgerichtshofes einen wesentlichen Beschluss
zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung gefasst [2]. Eine so genannte Patientenverfügung, in der ein Patient lebenserhaltende oder lebensverlängernde
Maßnahmen für den Fall ablehnt, dass sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen
Verlauf genommen hat und er entscheidungsunfähig ist, ist als sog. „antizipative”
Willenserklärung von den behandelnden Ärzten, dem u. U. eingesetzten Betreuer und
dem Vormundschaftsgericht als verbindlich zu betrachten. Ausnahme: Der Patient hat
sich von seiner früheren Verfügung mit erkennbarem Widerrufswillen distanziert oder
die Sachlage hat sich nachträglich so erheblich geändert, dass der in der Patientenverfügung
geäußerte Wille die aktuelle Sachlage nicht umfasst.
Liegt keine Patientenverfügung vor, ist hilfsweise der mutmaßliche Wille des Betroffenen
zu eruieren. Dieser ist nach dessen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen
zu bestimmen.
Ist der Verlauf irreversibel tödlich?
Ist der Verlauf irreversibel tödlich?
Zwischen - jeweils erlaubter - sog. Sterbehilfe im eigentlichen bzw. engeren Sinne
(irreversibler tödlicher Verlauf mit unmittelbarer Todesnähe) und sog. Sterbehilfe
im weiteren Sinne (irreversibler Verlauf, ohne dass der Sterbevorgang bereits eingesetzt
hat) ist zu unterscheiden. Daraus folgt, dass ein Behandlungsabbruch von vornherein
ausschließlich dann infrage kommt, wenn das Grundleiden des Betroffenen bereits einen
irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat. Oder anders ausgedrückt: Liegt ein irreversibler
tödlicher Verlauf nicht vor, würden sich sowohl das Verlangen eines Betreuers nach
einem Abbruch der Behandlung wie auch eine etwaige diesbezügliche Billigung des Vormundschaftsgerichts
als rechtswidrig darstellen. Es bleibt allerdings die Frage: Mit welcher Wahrscheinlichkeit
oder gar Sicherheit muss diese Prognose bezüglich des Krankheitsverlaufs gestellt
werden? Der BGH hat eine „letzte Sicherheit” für den irreversiblen tödlichen Verlauf
der Krankheit verlangt.
Die Umsetzung des geäußerten bzw. des mutmaßlichen Willens des Betroffenen ist exklusive
Aufgabe des Betreuers, wenn denn ein solcher bestellt worden ist als gesetzlicher
Vertreter des Patienten. Die Erklärung des Betreuers zum Abbruch lebenserhaltender
Maßnahmen bedarf für ihre Wirksamkeit jedoch der vorherigen vormundschaftlichen Genehmigung,
wenn sich der Betreuer mit ärztlicherseits angebotenen lebenserhaltenden Maßnahmen
nicht einverstanden erklärt und es insoweit zu einem Konflikt kommt. Das Vormundschaftsgericht
braucht also nur dann angerufen zu werden, wenn kein Konsens zwischen Betreuer und
behandelndem Arzt zur Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen erreicht werden kann.
Bis zur Entscheidung des Vormundschaftsgerichts ist die lebensverlängernde oder -
erhaltende Behandlung bei medizinischer Indikation auch ohne entsprechende Einwilligung
des Betreuers bzw. sogar gegen dessen ausdrückliche Anweisung durch die behandelnden
Ärzte zwingend fortzusetzen. Stimmt das Vormundschaftsgericht dem Behandlungsabbruch
allerdings rechtskräftig zu, ist dies für die behandelnden Ärzte verbindlich.
Eine gesetzliche Regelung der aufgeworfenen Problematik ist auch nach Auffassung des
BGH wünschenswert. Sicher war es das Anliegen des Bundesgerichtshofes, angesichts
bislang fehlender gesetzlicher Regelung für mehr Rechtssicherheit zu sorgen. Allerdings
waren insbesondere aus juristischen Kreisen kritische Fragen aufgeworfen worden, die
uns Ärzte zunehmend verunsichert hatten und einige von uns leider immer noch verunsichern.
Kernaussage der BGH-Entscheidung war ja, dass eine qualifizierte Patientenverfügung
für alle Beteiligten, insbesondere auch für die behandelnden Ärzte, im Falle eines
irreversiblen tödlichen Verlaufs des Grundleidens rechtlich bindend ist. Im Umkehrschluss
bedeutet dies, dass ein Arzt, der bewusst hiergegen verstößt, sich der Körperverletzung
schuldig macht und deswegen belangt werden kann.
Der Patientenwille, die Autonomie des Patienten, steht über der Behandlungspflicht
des Arztes, und ist damit höher einzustufen als der Grundsatz ärztlichen Handelns:
Salus aegroti suprema lex. Dies hat auch die neue Entscheidung des BGH vom 8.6.2005
noch einmal klar gemacht [3].
Nicht die Angehörigen entscheiden
Nicht die Angehörigen entscheiden
Deutlich wurde auch, dass es nicht die Angehörigen sind, die die notwendigen Entscheidungen
treffen. Entscheidungen sind in der Patientenverfügung getroffen. Auch ein Betreuer
transportiert lediglich den Willen des Patienten. Dies soll nicht bedeuten, dass man
als Arzt nicht den Betreuer und die Angehörigen in seine Überlegungen mit einbezieht
und auf diese Weise letztlich doch eine gemeinsame und von allen Seiten akzeptierte
Lösung erreicht.
Insbesondere Frau Dr. Hahne, Vorsitzende des 12.Zivilsenats des BGH, wies darauf hin,
dass die Rechtsprechung, (nur) in Konfliktsituationen das Vormundschaftsgericht einzuschalten,
dem Ziele diene, dem Betreuer den Rücken zu stärken, ihn zu entlasten. Die die Verbindlichkeit
der Patientenverfügung einengende Bindung an den irreversiblen tödlichen Verlauf lag
in der Entscheidung des 1.Strafsenat des BGH in dem sog. „Kemptener Urteil” aus dem
Jahre 1994 begründet [4]. Frau Dr. Hahne selbst äußerte einmal in einem Interview, dass sie unter dem Begriff
irreversibler tödlicher Verlauf eine Krankheit verstehe, die ohne künstliche Hilfsmittel
den Patienten sterben lässt.
Der Arzt kann Maßnahmen verweigern, für die es keine medizinische Indikation gibt.
Die medizinische Indikation begrenzt insofern den ärztlichen Heilauftrag. Der Grenzbereich
zwischen Leben und Tod entzieht sich weitgehend der Bestimmbarkeit. Er ist rationalen
Überlegungen nicht in vollem Umfang zugänglich und kaum grundsätzlich regelbar. Dies
gilt auch bei bewusstlosen Patienten. Die Verantwortung für die durchgeführte Therapie
trägt der behandelnde Arzt. Der gute Arzt muss dabei den (mutmaßlichen) Willen des
Patienten berücksichtigen, doch ist ein gewisser Entscheidungsspielraum unverzichtbar.
Die medizinische Indikationsstellung ist das Instrument, mit dem der Arzt im konkreten
Fall entscheidet, ob die Behandlung „nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus sonstigen
Gründen nicht möglich ist” [5].
Wenn die Entscheidung, das Sterben zuzulassen, gefallen ist, macht es dann einen Unterschied,
ob man lediglich auf weitere therapeutische Maßnahmen verzichtet, oder bereits begonnene
Maßnahmen abbricht?
Aus medizinischer Sicht besteht kein Unterschied zwischen Abbruch und Verzicht, da
der Zweck der Behandlung darin besteht, den Zustand des Patienten zu verbessern. Ist
dieser Zweck mit einer medizinischen Maßnahme nicht zu erreichen, ist es unerheblich,
in welcher Form - Abbruch oder Verzicht - sie unterlassen wird. Ferner ist häufig
nicht a priori, sondern erst nach Beginn eines Therapieversuchs zu entscheiden, ob
diese Therapie geeignet ist, den Zustand des Patienten zu verbessern. Wenn der Abbruch
einer medizinischen Therapie „schwerer” als der Therapieverzicht wäre, könnte dies
dazu führen, dass allein aus diesem Grund von Therapieversuchen Abstand genommen wird.
Auch aus herrschender juristischer Sicht besteht kein Unterschied: So führt Eser [6] im Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch aus: „Ist die Pflicht zu Lebensverlängerungsmaßnahmen
zu verneinen, so ist im Grundsatz gleichgültig, ob das Sterbenlassen bereits durch
Nichtaufnahme oder erst durch Abbruch einer Behandlung erfolgt.” Dies gilt, darauf
wird explizit hingewiesen, auch für den technischen Behandlungsabbruch, z. B. das
Abschalten von Beatmungsgeräten. Wenn die Voraussetzungen für eine Therapiereduktion
vorliegen, dann ist es also aus theoretischer Sicht völlig unerheblich, in welcher
Form die Behandlung eingeschränkt wird.
Verzicht fällt leichter als Abbruch
Verzicht fällt leichter als Abbruch
Dass in der Praxis unterschiedliche Arten der Therapieeinschränkung im Rahmen des
zulässigen Sterbenlassens dennoch unterschiedlich beurteilt werden, hat seine hauptsächliche
Ursache in der prognostischen Unsicherheit. So ist die Befürchtung, eine bestimmte
Form der Therapiereduktion sei zu „aktiv”, auf die Angst vor der falschen Prognose
zurückzuführen, auf die Angst, das Leben des Patienten zu beenden, obwohl dieser vielleicht
doch noch eine winzig kleine Chance hat.
Bezeichnenderweise haben viele Ärzte und Pflegekräfte weniger Schwierigkeiten, auf
eine therapeutische Maßnahme zu verzichten, als eine begonnene Maßnahme abzubrechen,
beispielsweise eine künstliche Beatmung [7]. Bei der Therapiereduktion wird deshalb häufig stufenweise vorgegangen. Die erste
Entscheidung ist meist, auf eine kardiopulmonale Wiederbelebung zu verzichten, sollte
es zum Kreislaufversagen kommen. Eine zweite Stufe der Therapieeinschränkung umfasst
dann den Verzicht auf zusätzliche Interventionen, z. B. Steigerung der Beatmungsaggressivität,
Dosiserhöhung der Kreislaufmedikamente oder Einsatz einer Hämodialyse. Erst zuletzt
werden in der Regel bereits begonnene Therapieverfahren abgebrochen, z. B. Hämodialyse,
Kreislaufmedikamente, Beatmung, mechanische Kreislaufunterstützungssysteme. Nur ausnahmsweise
steht der Therapieabbruch am Anfang des Sterbenlassens. Ein typisches Beispiel dafür
ist die nicht beherrschbare Blutung, bei der auf weitere Gabe von Blutprodukten verzichtet
wird.
Ungeachtet aller sonstigen juristischen Rückendeckung für unsere Entscheidungen ist
für uns Ärzte, wenn es um Entscheidungen der hier diskutierten Art geht, eine qualifizierte
Patientenverfügung äußerst hilfreich. Auch aus diesem Grund lohnt es sich, in der
Bevölkerung verstärkt für die Patientenverfügung zu werben.
H. Van Aken, K. Ulsenheimer