Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2007; 51: S51-S54
DOI: 10.1055/s-2007-968134
Interview

Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Ein naturwissenschaftlich-kritischer Klassiker

Zeitzeuge Dr. Illing im Gespräch mit ZKH-Schriftleiter Professor Dinges und G. Müller (Haug Verlag)
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Publication Date:
09 August 2007 (online)

Herr Dr. Illing, Sie blicken auf fast 50 Jahre Praxiserfahrung zurück, haben sich zeitlebens auch berufspolitisch für die Homöopathie engagiert und haben inzwischen 99 Artikel für die AHZ und die ZKH geschrieben. Dieses Interview zählen wir als Ihre 100. Veröffentlichung in den beiden Zeitschriften. Das ist eine sehr stolze Leistung. Wie sind Sie denn überhaupt zur Homöopathie gekommen?

Im Grunde wollte mein Vater, dass ich homöopathischer Arzt werde. Er war Landpfarrer im Vogtland, er interessierte sich sehr für die Homöopathie. Ich selber fand ursprünglich die Homöopathie medizinisch viel zu schwierig und außerdem hielt ich nicht viel von ihr. Ich wollte lieber Chemie studieren. Ich war zunächst zwei Jahre Soldat, wobei ich unglaubliches Glück hatte. Eine Krankheit rettete mir das Leben. Nach fünf Tagen als Soldat bekam ich eine Diphtherie und kam erst einmal ins Lazarett. Ich wurde dann Funker und war deshalb weit weg vom Gegner.

Und dann haben Sie die Ausbildung zum Mediziner doch gemacht?

In den zwei Jahren hatte ich relativ viel freie Zeit, in der ich in aller Ruhe überlegen konnte. Als ich Mitte Mai 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, stand mein Entschluss fest, Medizin zu studieren.

Studiert habe ich zuerst in Jena und ab 1948 in Düsseldorf. Meine klinische Ausbildung habe ich in Düsseldorf und Dortmund absolviert. Eigentlich wollte ich Internist werden - mir fehlt ein halbes Jahr zum Facharzt. Von der Medizin war ich bald enttäuscht. Die Diagnostik hat mich fasziniert, aber die Therapie nicht. Die Patienten kamen immer wieder. Ich dachte, „das kann doch nicht alles sein”.

Wie sind Sie dann zur Homöopathie gekommen?

Über Empfehlungen. Es gab die Weiterbildungsnachmittage in Essen bei den Drs. Drinneberg und Triebel. Die Vorträge ab Mitte der 50er Jahre haben mich sehr motiviert und so beschloss ich homöopathischer Arzt zu werden. Ende der 50er Jahre hatte ich dann meine Zusatzbezeichnung „Homöopathie”.

Wer waren denn die prägenden Homöopathen in diesem Essener Kreis?

Das waren Drs. Triebel, Drinneberg und Köhler - solide Praktiker, die mich sehr motiviert haben.

Haben Sie sich die Homöopathie seit 1954 ausschließlich im Selbststudium angeeignet oder auch an weiteren Kursen teilgenommen?

Wie es Voraussetzung für die Zusatzbezeichnung war, habe ich anderthalb Jahre unter Aufsicht eines homöopathischen Arztes in Düsseldorf gearbeitet, und ich besuchte auch Kurse, unter anderem in Bad Brückenau, Wiesbaden und Duisburg. Das müsste 1958/1959 gewesen sein.

Und bei wem haben Sie diese gemacht? Wer hat die Kurse in Brückenau gehalten?

Dr. Stübler war der Leiter. Darüber hinaus lehrten die Drs. Kabisch, Köhler und Kautsch.

Prof. Dr. Martin Dinges im Gespräch mit Dr. Kurt-Hermann Illing in Kassel 2007.

Um 1960 war ich bei Dr. Voegeli in Frankfurt/M. im Steinernen Haus. Ich war aber etwas enttäuscht.

Damals konnte man noch die Erlaubnis zum Selbstdispensieren erlangen. 1963 bestand ich das Selbstdispensier-Examen an der Universität Münster. Wir 6 Kollegen wurden 2 Tage geprüft. Man hat uns richtiggehend „in die Mangel genommen”.

Welche Bücher haben Sie damals für Ihr Studium der Homöopathie benutzt?

Es gab damals fast keine Bücher. Ich habe mit dem einbändigen Mezger gelernt. Außerdem besaß ich das nach Diagnosen geordnete Kompendium von Mezger, das es heute nicht mehr gibt. Voegeli hatte immer aus dem Boericke vorgetragen, den ich mir dann selbst aus dem Englischen übersetzte. Die Leitsymptome von Nash besass ich auch, die hatte schon mein Vater verwendet. Ich hatte außerdem „Die Differentialtherapie” von Quilisch, den Voisin und den kleinen Stauffer. Diese Bücher waren hervorragend, damit lernte und praktizierte ich. Sie standen bei mir auf dem Schreibtisch und stehen auch heute noch dort.

Den Kent gab es zwar schon in der vergriffenen Übersetzung von Erbe, aber das wussten wir gar nicht, ich habe mir erst später das von Drs. Künzli und v. Keller neu übersetzte Kentsche Reportorium gekauft.

Dr. P. Schmidt und Dr. H. Chand 1969 in Athen.

Wann haben Sie denn Ihre erste Praxis eröffnet?

Am 1. Oktober 1960 ließ ich mich als Privatarzt in Düsseldorf in der Altstadt nieder, was aber eine schlechte Entscheidung war, denn ich hatte eine 6-köpfige Familie zu ernähren. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Praxis anlief und ich die Kassenzulassung Ende Januar 1961 erhielt. Es waren schwierige Zeiten für uns.

Dr. P. Schmidt, Dr. J. Künzli und Dr. Paschero (v.l.n.r.) auf dem Liga-Kongress in Brüssel 1972.

Warum zogen Sie 1964 von Düsseldorf nach Kassel um?

Düsseldorf war mir als Stadt zu hektisch und außerdem war meine Kassenpraxis inzwischen recht gut angelaufen und zu groß geworden. Ich war nicht zufrieden mit der Art und Weise, wie ich mit so vielen Patienten notgedrungen arbeiten musste, das heißt, nach bewährten Indikationen.

Es funktionierte zwar, doch hat es mich nicht befriedigt. Ich konnte mir bei komplizierten Fällen einfach nicht die notwendige Zeit nehmen.

Die Praxis in Kassel war eine Privatpraxis. Außerdem konnte ich von meinem Vorgänger eine eingerichtete Apotheke übernehmen. Ich begann die Praxis in Kassel am 19. März 1964, das Datum weiß ich heute noch. Am 1. Juli kam die Familie nach.

Und sind die Patienten gezielt gekommen, weil sie wussten, Sie sind homöopathischer Arzt?

Sie kamen schon in erster Linie wegen der Homöopathie. In der Kassenpraxis verschrieb ich zu 95 % Einzelmittel. Die Homöopathie ist wie die Mode. Mal sind die Röcke kurz, mal sind sie lang. Damals war von klassischer Homöopathie überhaupt keine Rede. Es gab nur einige wenige „Klassiker”, die als Aussenseiter angeschaut wurden. Die meisten waren aber Kollegen aus der naturwissenschaftlich-kritischen Wapler-Schule.

Und trotzdem ist die ZKH 1957 gegründet worden, d.h. es muss auch Ende der 50er Jahre schon die ersten Klassiker gegeben haben.

Ja, es gab ein Bedürfnis danach. Und zwar initiiert von den Schweizern, z.B. von Dr. Voegeli. Zu seinen Kursen in Frankfurt/M. waren sicherlich zwischen 100-120 Kollegen. Er gab 1958 bereits 2 Kurse im Jahr in Darmstadt und Frankfurt/M. Die klassische Homöopathie kam auf, aber die naturwissenschaftlich-kritische dominierte noch.

Und wenn Sie an Ihre eigene Arbeit zurückdenken? Wo hätten Sie sich angesiedelt?

Zunächst praktizierte ich in den ersten Jahren nach den Regeln der naturwissenschaftlich-kritischen Methode. Ich wusste es gar nicht anders. Wenn Sie mich fragen: Wo bin ich heute? Ich würde sagen, ich bin ein naturwissenschaftlich-kritischer Klassiker.

Was hat Sie denn an der klassischen Richtung überzeugt?

Einfach Neugier. Alle sprachen über Hochpotenzen. Das wollte ich auch ausprobieren. Und es lief insbesondere bei den chronischen Fällen besser. Mit der Zeit habe ich meine Praxis allmählich „umgebaut”. Ein altes Haus reißt man nicht ein. Viele der übernommenen Praxispatienten habe ich einfach mit Tiefpotenzen weiter behandelt und mir die klassische Praxis peu-à-peu aufgebaut. Ich behandle auch heute noch ca. 25 % meiner Patienten mit Tiefpotenzen. Die anderen bekommen Hochpotenzen.

Verwenden Sie Q-Potenzen?

Damit konnte ich mich nicht anfreunden. Ich setze überwiegend die C 30 ein, ab und zu eine C 200, oder eine C 1000, ganz gelegentlich einmal eine 10 000er Potenz.

Dr. Flury, der mir ein väterlicher Freund war und mit dem ich lange Jahre im Liga-Vorstand hervorragend zusammengearbeitet hatte, hatte die Q-Potenzen entdeckt. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er die 6. Auflage des Organons gelesen. Daraufhin führte er die 50 000er Potenzen ein, die er LM-Potenzen nannte.

Warum konnten Sie sich nicht mit den Q-Potenzen anfreunden? Haben sie keine Effekte beobachtet?

Ja, vielleicht. Die ersten Versuche waren nicht sehr erfolgversprechend. Sie waren in ihrer Wirkung zu „weich”, „labberig”. Die C-Potenzen war ich gewohnt und dies funktionierte.

Wer waren die Sie am meisten prägenden Lehrer auf dem Weg zum Klassiker?

Dr. Künzli an erster Stelle, mit dem ich mich sehr gut verstand und der mich sehr beeindruckte. Immer im November gab er in St. Gallen Kurse, zu denen 12-15 Teilnehmer kamen. Ich fuhr jedes Jahr dorthin, und wir haben Fälle durchgesprochen. In den 60er Jahren war einmal Dr. Pierre Schmidt zu einer Tagung des LV Bayern nach München eingeladen, der ebenfalls einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ. Ich fragte ihn, ob ich einmal bei ihm hospitieren dürfte. Er hat mich tatsächlich angenommen. So konnte ich dreimal (1968, 1969, 1970) wochenlang bei ihm hospitieren.

Und was genau war bei Pierre Schmidt so besonders?

Pierre Schmidt war im Grunde der Initiator und führende Kopf der klassischen Homöopathie in Europa. Für mich ist er der beste homöopathische Arzt, den ich kennengelernt habe. Als ich bei ihm hospitierte, war er schon Ende 70. Ich war tagsüber mit ihm in der Praxis und konnte mir die Patienten anschauen. Die Gespräche fanden auf Französisch statt, was für mich nicht ganz einfach war. Teilweise haben die Patienten oder Pierre Schmidt für mich übersetzt, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Abends erhielt ich von ihm Privatunterricht. Es begann damit, dass er mich examinierte wie einen Schuljungen: über Pharmakologie, Chemie und so ziemlich alles andere. Er hatte so ein enormes Wissen, war sehr belesen und besass eine riesige Bibliothek, dagegen ist meine immerhin beträchtliche Sammlung wenig.

Pierre Schmidt behandelte einen unglaublich großen Patientenstamm, sie kamen aus der ganzen Welt zu ihm. Darunter waren auch sehr viele Prominente und Politiker. Er hatte großen Erfolg bei schweren und scheinbar aussichtslosen Erkrankungen. Seine Praxis gab er dann nach seinem 80. Geburtstag auf.

Verleihung des „Samuel” an Dr. Illing auf dem Liga-Kongress in Wien 1983.

Kannten Sie Will Klunker über Pierre Schmidt?

Nein, durch Dr. Künzli. Wir trafen immer bei Künzli zum Wochenendseminar zusammen und ich kannte Dr. Will Klunker sehr, sehr gut. Er war ein interessanter philosophisch hoch gebildeter Mann, eine Persönlichkeit.

Zeitzeuge Dr. Kurt-Hermann Illing

Sie haben ab 1960 publiziert? Wie kam es dazu?

Ich hatte einfach das Bedürfnis und wurde immer mal wieder von Kollegen gebeten, meine Erfahrungen zu publizieren. So kam es zu den 99 Beiträgen. Es hat mir einfach Spaß gemacht. Bei den Fallbeschreibungen ist es wichtig, dass sauber dokumentiert wird. Die Diagnose, die Befunde, die Symptome müssen stimmen und die Arzneiwahl muss nachvollziehbar sein. Was auch oft vergessen wird, ist die Beobachtung des Verlaufes über eine ausreichend lange Zeit. Ich wollte, dass man die Fälle gut nachvollziehen kann, damit die jüngeren Kollegen auch davon profitieren konnten.

Sie publizierten sowohl für die ZKH als auch für AHZ. Wie haben Sie denn entschieden, was Sie in welcher Zeitschrift einreichen?

„Halbe-Halbe”. Dr. Gebhardt hat von mir Homöo-Quiz-Fälle bekommen. Viele andere Beiträge wie „12 Jahre Lehre an der Universität Hannover” oder „40 Jahre Praxis” erhielt Dr. Genneper für die ZKH. Die Kongressberichte teilte ich auf beide Zeitschriften auf.

Haben Sie im Laufe Ihrer Praxis feststellen können, dass es eine Verschiebung gab, was die Krankheiten, also die Pathologien oder den Schweregrad der Pathologien betrifft?

Da haben Sie Recht, es gibt eine erhebliche Verschiebung. Die Krankheiten haben sich ganz allgemein gesprochen zur chronischen Seite verschoben. Viele Ärzte unterdrücken die akuten Erkrankungen und die chronischen nehmen zu. Das ist besonders für die Homöopathie von Bedeutung, weil wir versuchen, dem weitgehend entgegenzuwirken.

Es wird zur Zeit enorm viel über Miasmen diskutiert und geschrieben. Was halten Sie davon?

Am besten begraben wir das im Keller. Meines Erachtens ist die Theorie, dass auf die Krätze die meisten Krankheiten zurückgehen, Unsinn. Bei Hahnemann steht auch das Gegenteil: Weil jemand die Psora hat, bekommt er die Krätze. Dies ist jedoch sehr schwer zu verstehen. Und letztendlich nützt es mir nichts in der Praxis.

Lieber Herr Dr. Illing, ganz herzlichen Dank für dieses sehr interessante Gespräch.

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