Ultraschall Med 2007; 28(1): 3-4
DOI: 10.1055/s-2007-980233
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Patientenautonomie ohne Patientenverantwortung?

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Publication Date:
11 June 2007 (online)

 
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Ein jüngstes OHG-Urteil aus Österreich über Aufklärungsmängel hat das Potenzial, die Bemühungen um die Verbesserungen des geburtshilflichen Ultraschalls zu untergraben.

Ein Urteil des Obersten Gerichtshofes hat in Österreich in diesem Jahr ein noch nie da gewesenes Ausmaß an Bestürzung und Entrüstung, vor allem bei allen perinatalmedizinisch und geburtshilflich tätigen Ärzten, hervorgerufen. Darüber hinaus war auch ein außergewöhnliches Medienecho sowie ein reges Leserbrief- und Internet-Echo zu verzeichnen.

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Der Fall

Eine 31-jährige Schwangere wurde 1995/1996 beim niedergelassenen Facharzt in der Schwangerschaft betreut. Im Rahmen eines Ultraschalls in der 23. Schwangerschaftswoche (SSW) (Stufe 1) wurden sonografisch Auffälligkeiten erkennbar: eine "auffällige Menge an Fruchtwasser" sowie ein "auffälliges Größen-(Miss-)verhältnis zwischen Thorax und Bauchraum (5 Ob 165/05h)". In eben diesem OGH-Urteil wird der Gynäkologe zitiert, dass er nach Feststellung dieser Hinweiszeichen eine Überweisung mit den Worten ausgefertigt und übergeben habe: "Sie gehen mir jetzt in die Risikoambulanz". Gleichzeitig stand die Frage einer möglichen Varizelleninfektion im Raum. Die Schwangere entsprach dieser mündlichen und schriftlichen Aufforderung (Überweisung) allerdings nicht.

Bei 2 weiteren Kontrollen in der 26. und 31. SSW forderte der Gynäkologe wiederholt die Schwangere auf, die weitere Abklärung durchführen zu lassen ("machte ihr Vorwürfe"). Erst mit 32 + 0 Schwangerschaftswochen kam die Schwangere der Aufforderung nach und stellte sich bei einem Experten der Pränataldiagnostik vor. Dabei wurde eine Brachyzephalie, ein AV-Kanal, ein Double-Bubble-Zeichen mit V.a. Duodenalatresie sowie kurze Femures festgestellt. Die Karyotypisierung aus dem Nabelschnurblut ergab den Befund einer Trisomie 21. Die Schwangere hat schließlich nach Einsetzen spontaner Wehen am Termin entbunden.

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Das OGH-Urteil

Die Eltern des geborenen Kindes klagen den niedergelassenen Gynäkologen auf Behandlungsfehler sowie schuldhaft unterlassene Aufklärung. In den ersten beiden Instanzen wurde die Klage abgewiesen. Der OGH hat diese Urteile aufgehoben, er sah die Aufklärungspflicht verletzt und hat die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Beklagt wird der Gynäkologe, dass er die Schwangere anlässlich der Untersuchung in der 23. SSW nicht "vollständig aufgeklärt" habe, sonst "hätte sie zu diesem Zeitpunkt noch einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen können. Dieser Fehler des Beklagten habe zur sonst unterbliebenen Geburt eines behinderten Kindes geführt. Der vom Beklagten zu ersetzende Nachteil bezieht sich auf den gesamten von den Klägern aus dem Titel des Unterhalts zu leistenden finanziellen Aufwand". Errechnet wurde von den Klägern eine monatliche Summe von 52000 ÖS (also etwa 3500 €). Der beauftragte Senat des OGH sieht also die vertragliche Aufklärungspflicht des Gynäkologen verletzt. "Die Belehrung hat umso ausführlicher und eindringlicher zu sein, je klarer für den Arzt die schädlichen Folgen des Unterbleibens sind und je dringlicher die weitere Behandlung - hier: die weitere diagnostische Abklärung - aus Sicht eines vernünftigen und einsichtigen Patienten erscheinen muss".

So weit, so gut - warum die Aufregung? Es ist nicht das erste Urteil, in dem der OGH in Österreich rechtlich ein Kind als Schaden beurteilt (1 Ob 91/99 k). Darum besteht also laut Meinung vieler Juristen kein Grund zur Aufregung. Und überhaupt, diese vorangegangene Feststellung ist ohnehin falsch, weil ja das Kind nicht der Schaden ist, sondern die Betreuung des Kindes ist der Schaden. "Im Vordergrund steht die strikte Ablehnung der »wrongful birth« als schadenstiftendes Ereignis". Es wird schließlich "rechtsethisch argumentiert" (5 Ob 165/05 h). Die OGH-Richter waschen ihre Hände in Unschuld. Somit ist man ethisch nicht angreifbar, die Behindertenvertreter und die Kirchen haben damit keinen Grund sich aufzuregen. Dass die betreuenden Gynäkologen in der Praxis nach dieser akademisch-ethischen Begründung des Urteils nicht zufrieden zur Tagesordnung übergehen können, liegt auf der Hand. Natürlich ist für den Arzt das nicht abgetriebene, sondern geborene Kind der Schaden für den er mit seinem (Privat-) Vermögen haftet. Zumindest dieser verurteilte Kollege, weil im Jahr 1996 - und wahrscheinlich hat er seine Versicherung sehr viel früher abgeschlossen - jeder Arzt mit Abschluss seiner Haftpflichtversicherung geglaubt hat, ausreichend "versichert" zu sein. Einen Vermögensschaden in der geforderten Höhe (ausgehend von einer annähernd normalen Lebenserwartung des geborenen Kindes) zu versichern, wurde damals in Österreich nicht angeboten.

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Warum ist das Urteil medizinisch untragbar?

Der OGH spricht davon, dass "der Arzt, der Ultraschalluntersuchungen vornimmt, davon ausgehen muss, dass die Mutter, soweit Behinderungen am werdenden Kind erkennbar sind, u.a. auch eine Entscheidungshilfe für oder gegen das Kind sucht und gerade auch deshalb Aufklärung über den körperlichen Zustand ihres Kindes erlangen will." Doch warum wurde dann eine Überweisung in die Risikoambulanz trotzdem nicht wahrgenommen, wo diese Ab- und Aufklärung erfolgt wäre, wenn das Risiko auf Stufe I nicht näher bestimmbar war? Warum der Arzt für dieses unvorhersehbare und unerklärliche Verhalten der Schwangeren haften soll, ist unverständlich.

Im Weiteren führt der OGH aus: "Die ärztliche Aufklärung einer Schwangeren, bei der unspezifische Hinweiszeichen auf Anomalien, insbesondere in Form einer chromosomalen Fehlentwicklung des Fötus vorliegen, hat auch die dem Facharzt erkennbaren Gefahren zu schildern und klar auszusprechen, welche Folgen die unterlassene Abklärung in der Risikoambulanz haben kann." Der Punkt in diesem Fall ist nun, dass keine "Behinderungen" erkennbar waren. Dies ist das große Missverständnis! Es handelte sich lediglich um unspezifische Hinweiszeichen, die in rund 20-25% aller Schwangerschaften auftreten. Diese können von verschiedenen grenzwertigen bis abnormen biometrischen Daten bis zu sog. Softmarkern als auch einer Verringerung oder Vermehrung der Fruchtwassermenge reichen. Noch nicht aufgeführt sind die spezifischen Hinweiszeichen, deren es zahlreiche gibt. Im konkreten Fall war von "reichlich Fruchtwasser und einem verschmälerten Thorax" die Rede. Ich darf die Wiener Kollegin Krampl zitieren, die "reichlich Fruchtwasser" erweitert zu "vermehrt Fruchtwasser" und dieses Kriterium zusammen mit dem "verschmälerten Thorax" in die OMIM-Datenbank (Online Mendelian Inheritance in Man) eingibt und damit 30 verschiedene genetische Syndrome erhält (Österreichische Ärztezeitung 15/16. 15.08.06).

Die heute gängige Methode, das chromosomale Risiko anlässlich eines 20-Wochen-Ultraschall-Screenings mittels der Software der Fetal Medicine Foundation zu bestimmen, würde Folgendes ergeben: Bei einer 31-jährigen Patientin wäre das Ausgangsrisiko für Trisomie 21 1:644, das für Trisomie 13/18 1:1 815. Nun würde der verschmälerte Thorax keinen Eingang in diese Kalkulation finden. Wenn man "reichlich Fruchtwasser" als Polyhydramnie interpretiert, würde sich das Risiko für Trisomie 21 nicht ändern und bei 1:644 (also 1-2 Promille) liegen, das Risiko für Trisomie 13/18 würde sich auf 1:908 (also etwas über 1 Promille) erhöhen. Definitionsgemäß wäre kein positives Kalkulationsresultat gegeben, weil das Risiko einer 35-jährigen Patientin nicht erreicht wird. Neben genetischen Syndromen und chromosomalen Aberrationen gibt es eine Vielzahl von möglichen und viel wahrscheinlicheren Ursachen für die beiden Hinweiszeichen. Und über alle diese und zahlreiche weitere differenzialdiagnostische Möglichkeiten hätte in der Praxis informiert und diskutiert werden müssen? Es ist jedem praktisch medizinisch Tätigen klar, dass es unmöglich ist, alle denkbaren Ursachen im Basisscreening differenzialdiagnostisch zu diskutieren. Darüber hinaus wurden wir Ärzte auch von den PsychologInnen immer wieder darauf hingewiesen, dass ein solches Management für die Schwangeren unzumutbar ist. "Der beklagte Arzt gibt zu, nicht auf die Möglichkeit einer chromosomalen Fehlentwicklung des Fötus hingewiesen zu haben. Der Beklagte hätte aber der Schwangeren klar machen müssen, dass sie bei Unterlassung der gebotenen genauen Ultraschalluntersuchung Gefahr laufe, die Geburt eines geistig und körperlich behinderten Kindes nicht mehr verhindern zu können. Er hätte die Schwangere auch über das Ausmaß der ihrem Kind drohenden Behinderungen informieren müssen." Diese Feststellung ist aus dem vorher gesagten medizinisch zu widerlegen, zumal auch der Gutachter entgegengesetzt argumentiert hatte.

Die OGH-Richter sehen ein fehlerhaftes Verhalten und damit eine Haftung des Arztes darin begründet, dass bei einer Überweisung an die Risikoambulanz die Aufklärung des Patienten ausdrücklich beinhalten müsse, dass die weitere Abklärung ergeben könne, dass das Kind eine schwerwiegende geistige und körperliche Schädigung mit entsprechenden (wirtschaftlichen) Folgen haben kann. Psychische Folgen dieser Aufklärung hätten dabei keine ins Gewicht fallende Bedeutung. Man muss sich fragen, welche Bedeutung es sonst haben sollte, wenn der Arzt die Patientin zur Abklärung festgestellter Auffälligkeiten in die Risikoambulanz überweist, als dass dies zur Abklärung allenfalls vorliegender (auch) schwerwiegender Komplikationen - die dann Folgen nach sich ziehen können - dient. Es kann doch nicht allen Ernstes bei einer mündigen Patientin der Aufklärungsbedarf gefordert werden, dass alle theoretisch möglichen Folgen einer allfälligen Nichtbeachtung der angeordneten Überweisung erörtert werden müssen, was ja eben schon in der Natur der angeordneten Maßnahme gelegen ist. Die Nichtbeachtung einer Risikoambulanzüberweisung durch die Patientin bei besprochenem auffälligem Befund kann doch nicht vom behandelnden Arzt ernsthaft deshalb in Erwägung gezogen werden, weil angenommen werden müsste, dass der Patientin (sie ist im übrigen Akademikerin) der Sinn dieser Maßnahme nicht erkennbar gewesen sei!

Ein großes Problem haben bei Bestand dieses Urteiles neben den Schwangeren nicht nur die Gynäkologen und Geburtshelfer, sondern die Ärzte ganz generell: Es ist von "vernünftigen und einsichtigen Patienten" die Rede. Wenn eine Patientin trotz mündlicher und schriftlicher Aufforderung sowie 2-maliger weiterer Vorhaltungen, weil sie eben nicht gegangen war, nicht reichen, was reicht dann? Der mündige Patient muss auch Pflichten haben! Zu ihnen zählt, dass er eine Unterlassung einer ärztlichen Anordnung auf seine Folgen zumindest hinterfragt und dass er nach freier Entscheidung, etwas zu unterlassen, dafür verantwortlich ist. Einer Patientin, die autonom genug ist, sich bis zum OGH durchzukämpfen, müsste auch die Autonomie abverlangt werden, Gründe für die Überweisung in eine "Risikoambulanz" so lange zu hinterfragen, bis sie sich ausreichend aufgeklärt gefühlt hätte, oder sich die weiteren Informationen in eben dieser Risikoambulanz umgehend geholt hätte.

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Wie nun als Arzt verhalten?

Forensisch die klügste Variante ist, dem OGH-Urteil zu folgen und extensive Aufklärungen abzuhalten, die für den Großteil der Schwangeren unnötig belastend bis unzumutbar sind. Dies hat letztendlich aber die Rechtssprechung zu verantworten. Allein, dies wird auch keine Garantie sein, nicht in ein solches Dilemma zu schlittern. Ein anderer Weg wäre, die Schwangeren und Patientinnen weiter wohlmeinend empathisch unter der Annahme einer konstruktiven Arzt-PatientInnen-Beziehung zu betreuen, in der ein Minimum an Vertrauen in Hinblick auf das gemeinsame Ziel vorausgesetzt wird, dass die Schwangere bzw. auch ihr Partner und der Arzt gemeinsam zu einem bestmöglichen Schwangerschaftsausgang beitragen. Dass dieser Schwangerschaftsausgang nicht immer zur Zufriedenheit von Eltern und auch GynäkologInnen ausfällt, weiß jeder praktisch Tätige aus leidvoller Erfahrung. Grotesk wird es allerdings dann, wenn der Arzt für den genetischen Fehler verantwortlich gemacht wird. Einen gegensätzlichen Trend in der Rechtsprechung ortet der Fachanwalt für Medizinrecht R. Ratzel in Deutschland, wenn er jüngst über ein Urteil berichtet, dass in einer Entscheidung in der Frage des Erkennens von Fehlbildungen im Ultraschall der "Frauenarzt nicht in eine Art Produktverantwortlichkeit gestellt wird, die er nun wirklich nicht hat" (Frauenarzt 47 (2006);6:496).

In den letzten 15 Jahren, in dem ich im Bereich Pränatalmedizin und Geburtshilfe beobachtend und gestaltend mitgewirkt habe, habe ich deutliche Fortschritte im Ultraschallscreening und damit im perinatalen Outcome feststellen können. Dieses Urteil könnte man dahingehend interpretieren, dass es für jeden in der Praxis Tätigen Anstoß sein sollte, noch genauer hinzusehen. Bei genauerer Überprüfung der Krankengeschichte ist es allerdings so, dass der verurteilte Arzt einen nicht indizierten, freiwilligen, unentgeltlichen Zusatzultraschall durchgeführt hat, in dem er Hinweiszeichen erkannt hatte, die ihm dann zum Verhängnis wurden. Ex post ist zu mutmaßen: hätte er diesen Ultraschall nicht durchgeführt, so wäre wohl beim nächsten geforderten Screeningultraschall zwischen 30 und 34 SSW das Problem viel deutlicher zu sehen gewesen. Er wäre damit nicht beklagt worden, dass mit 23 Wochen "eine Abtreibung in Österreich ohne Weiteres möglich gewesen" wäre. Ein forensisch gewiefter Arzt wird in Zukunft mehrmals überlegen, ob er Hinweiszeichen wie das "reichliche Fruchtwasser", welches nicht "wasserdicht" dokumentiert werden kann, anführt. Somit ist dieses OGH-Urteil kontraproduktiv für das Österreichische Ultraschall-Screening.

Univ. Doz. Dr. Horst Steiner, Salzburg

Email: H.Steiner@salk.at