Z Orthop Unfall 2007; 145(2): 124-129
DOI: 10.1055/s-2007-980297
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Begutachtung - Zur Diskussion - Anwendungserfahrungen mit dem modularen Bewertungssystem (PUV) und kritische Stellungnahme

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01 June 2007 (online)

 
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Etwa 80 % aller Invaliditätsleistungen der privaten Unfallversicherung beruhen auf Verletzungsfolgen, die im Bereich der Gliedmaßen und der von der Gliedertaxe miterfassten Sinnesorgane liegen. Die Gliedertaxe stellt eine Besonderheit der privaten Unfallversicherung dar, wie sie in dieser Form in keinem anderen Rechtsbereich zu finden ist.

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Vorwort

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Möglichkeiten der Einschätzung von Verletzungsfolgen der Extremitäten für die Private Unfallversicherung durch ein modulares Bewertungssystem

Die Private Unfallversicherung (PUV) bewertet die Invalidität durch Verletzungsfolgen der Extremitäten nach der Gliedertaxe. Als Grundlage der Bewertung des Extremitätenschadens wird der Verlustwert eines Gliedes entspr. einer Extremität herangezogen (z. B. Verlust eines Armes oder eines Beines = 70 % der Versicherungssumme). Teilweiser Verlust, aber auch die wesentliche häufigere teilweise Funktionsstörung ohne Verlust des Vorhandenseins der Extremität werden am abstrakten vollständigen Verlust anteilig eingeschätzt - vorzugsweise in 1/10tel-Anteilen vom Arm-, Hand-, Bein- oder Fußwert. Diese Anteile sollen Einschätzungshilfen geben mit der Möglichkeit, nach oben und unten abzuweichen.

Naturgemäß können sich durch Unfallfolgen funktionsgeminderte, jedoch vorhandene Extremitäten erheblich in ihrem Gebrauchswert, also dem positiven Verlustwert unterscheiden. Schon Fitzek (1997) hat darauf hingewiesen, dass Gelenkstabilitäten, Achsenfehlstellungen, Pseudarthrosen, periphere Nervenschäden zusätzlich zu Bewegungseinschränkungen "angemessen berücksichtigt" werden müssen. Ein Wunsch, dem Gutachter eine spezifischere Einschätzungshilfen mit diversen Kriterien für Teilaspekte der Gebrauchsstörung zur Hand zu geben, bestand also schon seit Jahren: zu disparat stellen sich unfallgeschädigte Extremitäten dar.

Dieser Aufgabe hat sich Schröter gestellt und in der vierten Auflage des Rompe, Erlenkämper (2004) ein "Modularsystem" für die Bewertung von Extremitätenverletzungen vorgelegt. Sowohl auf Seiten der Versicherungsträger als auch der Gutachter selbst wurde diese neuartige Einschätzungshilfe mit Reserve aufgenommen. Insbesondere die Gefahr der unangemessenen Mehrfachbewertung desselben Aspektes durch verschiedene Kriterien (z. B. Instabilität und Muskelminus) wurde befürchtet, weiterhin ein erheblich gesteigerter Arbeitsaufwand für Befunderhebung und Einschätzung.

Der Arbeitskreis 2 der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie erlebte ab 2004 einen intensiven Diskurs um Vor- und Nachteile des Modularsystems. Auf der 67. Arbeitskreissitzung in Baden-Baden (5/2005) wurde vereinbart, anhand ausgewählter Begutachtungskasuistiken die Einschätzungsreliabilität zwischen unabhängigen Sachverständigen sowohl des bisherigen Einschätzungsweges als auch des Modularsystems vergleichend zu überprüfen. Auf der 68. Sitzung in Berlin (10/2005) wurden 11 Begutachtungsfälle den Arbeitskreisteilnehmern ausgehändigt mit der Bitte, diese sowohl traditionell als auch modular zu bewerten. Für die 69. Sitzung in Baden-Baden (5/2006) präsentierten Schröter die Ergebnisse wie auch Ludolph eine angefragte Stellungnahme, was zu weiterer Diskussion als auch zur Fortführung eines gewünschten akademischen Diskurses mit den Arbeitskreismitgliedern führte.

Leider haben sich nur wenige Teilnehmer des Arbeitskreises an dieser Untersuchung beteiligt. Dennoch: Mir ist bislang kein Versuch bekannt, der die Übertragbarkeit von Einschätzungswegen im medizinischen Begutachtungswesen überprüft hätte. Zweifelsohne ist dies jedoch ein wichtiger Schritt zur Einschätzungs- und somit konsequenterweise zur Rechtssicherheit. Rahmenbedingungen sind natürlich nur so gut, wie die (Einschätzungs-) Möglichkeiten, die sie schaffen - ein Gesichtspunkt, der für die Versicherten, die Versicherer wie auch für die Gutachter grundlegend ist und damit ständiger Beachtung und Überprüfung bedarf.

Nachdem nun Schröter und Ludolph hier einen gemeinsamen Artikel zur Einschätzungskontroverse vorlegen, möchte ich dieses Vorwort insbesondere für den Wunsch nach einer möglichst breiten öffentlichen Diskussion nutzen: das Bisherige zeigt Schwächen, das Neue ist noch nicht ausgereift, gemeinsam kann man sich im Diskurs dem Ziel angemessener Bewertungsempfehlungen nähern.

Professor Dr. Marcus Schiltenwolf, Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg; Leiter des Arbeitskreis 2 der DGOOC: Sozialmedizin und Begutachtungsfragen

Literatur

1 Fitzek JM (1997) Begutachtung in der privaten Unfallversicherung. In: Rompe G, Erlenkämper A (Hrsg.): Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. Stuttgart: Thieme. 3. Auflage, Ss 403-414

2 Schröter F, Fitzek JM (2004) Einschätzungsempfehlungen für die private Unfallversicherung. In: Rompe G, Erlenkämper A (Hrsg.): Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. Stuttgart: Thieme. 4. Auflage, Ss 540-557

Vertraglich fest vereinbart sind Invaliditätsgrade in Prozent für den Fall eines klar definierten substanziellen Verlustes oder der komplett verloren gegangenen Funktionalität, sofern an diesem Sachverhalt keine Zweifel verbleiben. Der völlige Funktionsverlust einer Gliedmaße ist selten, so dass der Sachverständige regelhaft vor der Aufgabe steht, Funktionsbeeinträchtigungen zu definieren und zu bemessen. Der Maßstab ist die ungestörte "normale" Funktion einer voll funtionierenden Gliedmaße und eines voll funktionstüchtigen Sinnesorgans. Hierunter ist die Funktionalität, z. B. die Gelenkbeweglichkeit, in der statistischen Norm zu verstehen.

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Funktionsfähigkeit

Der Terminus "ungestörte Funktion" darf jedoch nicht so eingeengt gesehen werden, dass nur der Teilverlust des Bewegungsumfanges in einem Gelenk Maßstab der Bewertung ist. Vielmehr sind Co-Faktoren, wie eine Gelenkinstabilität, Nervenschäden, eine Beinverkürzung, eine Achsabweichung, eine Thrombosefolge, ein übermäßiges Muskeldefizit, aber auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintretende Sekundärfolgen (posttraumatische Arthrose) mit in die Invaliditätsbemessung einzubeziehen. Zu bedenken ist auch ein gravierendes Muskelminus, welches am Ende des Dreijahreszeitraumes auch bei nur moderaten "funktionellen" Einschränkungen (im engeren Sinne) geeignet ist, die tatsächliche Funktionsfähigkeit der betroffenen Extremität zu belegen.

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Tabellarische Bewertungsvorgaben

Für die alltägliche Begutachtung hat es sich als nützlich erwiesen, im konkreten Einzelfall für die Bemessung der Invalidität nach der Gliedertaxe Orientierungen zu suchen in tabellarischen Bewertungsvorgaben, wie sie in der Literatur und den hinreichend bekannten Begutachtungsbüchern zu finden sind. Unfallfolgen in der Privaten Unfallversicherung werden ausschließlich nach anatomischfunktionellen Gesichtspunkten bemessen. Sowohl für die Anatomie wie für die Funktion ist sachverständig ausschließlich der Arzt in seiner Rolle als Gutachter. Allein der ärztliche Gutachter hat in der Privaten Unfallversicherung das "Sagen" in Bezug auf die Unfallfolgen, da außermedizinische Gesichtspunkte keine Rolle spielen. Das kommt auch in dem Begriff "bemessen" zum Ausdruck, der in der Privaten Unfallversicherung der Terminus technicus ist, wie sich dies aus den AUB ergibt, während im Sozialrecht, im Haftpflichtrecht und im Dienstunfallrecht vom ärztlichen Gutachter die MdE, der GdB und die Behinderung "eingeschätzt" werden, da neben anatomischfunktionellen Gesichtspunkten weitere Überlegungen eine Rolle spielen - z. B. Auswirkungen auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt, auf den Beruf oder aber Opfer- und Wiedergutmachungsgedanken, für die der ärztliche Gutachter nicht sachverständig ist.

Die in der Kritik stehenden Empfehlungen der Privaten Unfallversicherung sind - genauso wie die Tabellen in der Gesetzlichen Unfallversicherung - in Jahrzehnten gewachsen. Die ersten Anfänge in der heutigen Form gehen auf Wolfgang Perret 1964 ("Was der Arzt in der Privaten Unfallversicherung wissen muß") zurück. Die weitere Entwicklung ist mit den Namen Fitzek, Reichenbach, Rompe und Streck verbunden. Diese Tabellen erfuhren Änderungen jeweils nach einer breiten Diskussion. 1991 wurden z. B. von Schröter Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen im Bereich der Finger vorgetragen. Sie wurden auf dem 7. Duisburger Gutachtenkolloquium 1991 zur Diskussion gestellt, für gut befunden und im Gutachtenkolloquium 7 (1992) veröffentlicht. Sie haben seither unverändert Bestand. Sie finden sich in Rompe/Erlenkämper auch unverändert - sowohl in der sog. konventionellen Tabelle als auch unter dem "Modularsystem". Nach eingehender Diskussion übernommen und praktiziert wurde auch die von Reichenbach nach Wegfall der Genehmigungspflicht der AUB durch das Bundesversicherungsamt im Jahre 1993 vorgeschlagene Bemessung in der Gliedertaxe nur noch nach 1/10 und 1/20. Diskutiert und ein Konsens erzielt wurde auch zu den sog. "von-bis"-Bemessungen. Sie sind keine Hilfestellung und werden deswegen auch nicht mehr angeboten.

Es stellt sich die Frage, warum weitere Neuerungen/Änderungen nicht konsensfähig sein sollten. Seit dem 7. Duisburger Gutachtenkolloquium 1991, welches sich ausschließlich mit der Privaten Unfallversicherung befasst hat, wurden die Unterschiede in den einzelnen Bemessungsempfehlungen zunehmend minimiert. Es ist nicht ein-zusehen warum dies - nach breiter Diskussion - nicht auch weiterhin gelingen sollte.

Das "Modul" ist ein Begriff, der aus der (Elektro-) Technik kommt (Baueinheit/Schaltungseinheit). Übertragen bedeutet es die Bewertung von Unfallfolgen nach einer Art Baukastensystem. Richtig ist das Ziel des "Modularsystems", "Gleiches" "gleich" zu behandeln. Deswegen ist es nicht nachvollziehbar, dass sowohl der 30-Jährige, wie auch der 80-Jährige bei einer optimal implantierten Hüftprothese mit einer so gut wie freien Funktion gleichermaßen mit 7/20 Beinwert beurteilt werden, obwohl bei dem älteren Herrn für den Rest seines Lebens eine optimierte "funktionelle" Situation eingetreten ist, während bei dem 30-Jährigen aufgrund des zu erwartenden Prothesenwechsels, dem damit verknüpften wiederholten Weichteilschaden, der immer schwieriger werdenden Prothesenverankerung etc. letztendlich eine wesentlich erheblichere Gebrauchsbeeinträchtigung der betroffenen Gliedmaße so gut wie sicher vorhergesehen werden kann. Mit anderen Worten: Mit diesen "Mono-Vorgaben" wird der ältere Herr mit der Versicherungsleistung nach 7/20 Beinwert ungerechtfertigt begünstigt, während der 30-Jährige ebenso ungerechtfertigt benachteiligt wird.

Das Ziel der Gleichbehandlung von individuellen Funktionseinbußen haben alle Tabellen. Wird das durch das "Modularsystem" besser erreicht als durch die herkömmlichen Tabellen?

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Das Modularsystem (Schröter)

Mit der Neuerarbeitung der Einschätzung und Empfehlungen für die private Unfallversicherung in der 4. Auflage von ROMPE/ERLENKÄMPER (2004) wurde ein neues, nämlich modular aufgebautes Tabellenwerk vorgestellt, dies unter dem Aspekt, dass bei der Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigung fast regelhaft mehrere Einzelaspekte zu berücksichtigen sind, insofern die starren, fast ausschließlich auf die tatsächliche Bewegungseinbuße abgestellten Vorgaben in den konventionellen Tabellen einer Modifikation bedurften.

Dieses Streben nach möglichst individueller Einschätzung der Invalidität mittels additiver Befundtabellen musste andererseits auch Begrenzungen finden, um nicht ein unendlich unübersichtliches und damit nicht mehr handhabbares Tabellenwerk zu produzieren. Diese beiden gegenläufigen Aspekte mussten nota bene zu Kompromissen führen. So konnte z. B. bei dem auf das Lebensalter zum Zeitpunkt der Implantation abgestellten Endoprothesenzuschlag nicht auch noch die Art der Prothese (Hüfte, Knie, Schulter, Ellenbogen etc.) mit den unterschiedlichen Standzeiten eine Berücksichtigung finden. Zudem sollte das Modularsystem so einfach wie irgend möglich zu handhaben sein, um die Fehlerquellen klein zu halten. Aus diesem Grunde wurde das Additionsprinzip bei der Zusammenführung der einzelnen Bewertun-gen gewählt. In dem Begleittext wurde seinerzeit abschließend vorgetragen, dass solche Bemessungsvorgaben grundsätzlich niemals die Verantwortung des Sachverständigen für eine angemessene Gesamtbemessung der auf Dauer verbleibenden Unfallfolgen ersetzen können, zudem die korrekte Anwendung des modularen Bemessungssystemes zum einen eine möglichst exakte Befunderhebung mit Nutzung des Maßbandes und Winkelmessers Voraussetzung ist, aber auch die genaue Kenntnis der Anwendungsvorgaben im begleitenden Text.

Die zwischenzeitlich mehr als zweijährige Erfahrung hat nun gezeigt, dass Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser modularen Bemessungsempfehlungen zu beobachten sind. Auch seitens des Schöpfers dieses modularen Bewertungssystems wurde erkennbar, dass bei einzelnen komplexen Fallgestaltungen bei strenger Anwendung der Handlungsvorgaben im modularen Bewertungssystem inakzeptable - überhöhte - Gesamtbemessungen resultieren, wie sie dann auch in zahlreichen Fremdbegutachtungen erkennbar wurden, die zur Nachprüfung übersandt wurden. Nicht selten war jedoch in den Fremdgutachten auch das unverkennbare Bemühen des beauftragten Sachverständigen zu beobachten, "für seinen Fall" ein Maximum dessen herauszuholen, was dieses Tabellensystem hergibt. Diese Beobachtung ist jedoch keineswegs neu, war auch schon in Anwendung konventioneller Systeme immer wieder Ausgangspunkt notwendiger Kritik. Gegen solche, gelegentlich auch bewusste Unzulänglichkeiten einzelner Kollegen ist eben kein Kraut gewachsen.

In bewusster Fortführung der guten Tradition der vergangenen Jahre erscheint es durchaus hilfreich, wenn dem Schöpfer dieses modularen Bewertungssystems (Schröter) der Co-Autor dieses Beitrages (Ludolph) mit kritischen Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen eines solchen modularen Bewertungssystems entgegengetreten ist. Die daraus resultierende, auch von der Begutachtungssystematik her gesehen interessante Diskussion soll hiermit auch in die gutachtlich interessierten Kollegenschaft hineingetragen werden.

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Modularsystem in der Kritik (Ludolph)

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Auflistung klar umrissener Unfallfolgen

Beide Autoren sind der Überzeugung, dass in eine Tabelle, auch in das "Modularsystem", nur klar umrissene Unfallfolgen/unfallbedingte Funktioneinbußen aufgenommen werden dürfen, also Unfallfolgen/Funktionseinbußen, die zum Ende des 3. Unfalljahres vorliegen und unter denen jeder Gutachter das gleiche versteht. Denn ansonsten wird das Ziel "Gleiches" "gleich" zu behandeln, nicht erreicht. Die Unfallfolge "Wirbelbruch" oder "Beckenbruch" in eine Tabelle zu zwängen, ist äußerst problematisch. Da helfen auch die Zusätze "stabil" und "instabil" wenig - abgesehen davon, dass diese Zusätze die Erst-Gesundheitsschädigung betreffen und ein Wirbelbruch praktisch nie "instabil" ausheilt. Um bei der Wirbelsäule zu bleiben: Was ist eine "gut verheilte" (Nr. 6.28) Vorderkanten-Abgliederung? Begriffe wie z. B. "gut verheilt" (Nr. 6.28), "ohne relevante Verformung" (Nr. 6.29), "mit leichter Asymmetrie" (Nr. 6.29) - bezogen auf Wirbelsäule und Becken - sind subjektiv inter-pretierbar. Das gleiche gilt für den Teilbereich "Brustkorb und Bauchdecken" (Nr. 6.30). Die aufgeführten Unfallfolgen sind nicht klar umschrieben.

Klar umschrieben ist zwar vordergründig z. B. eine "Vorderkantenabsprengung bis 1/3 Höhenminderung nach Kompressionsfraktur" (Nr. 6.28). Sie führt aber, so wie die Vielzahl der zu diesem Punkt angegebenen "Module", zu unterschiedlichen Funktionseinbußen - je nachdem ob die Hals-, Brust- oder Lendenwirbelsäule betroffen ist. Der Zuschlag für "verbliebene Metallimplantate" knüpft nicht an der Funktion, sondern am Röntgen-Befund an. Dieses Anknüpfen an den Röntgen-Befund prägt die Vorgaben zur Wirbelsäule und zum Becken. Anzuknüpfen ist demgegenüber an die Funktion, d. h. die Beweglichkeit des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts, an die Ausprägung der Muskulatur und dann erst - sekundär - am Röntgen-Befund.

Im Bereich der oberen Extremitäten ist unklar und damit keine Hilfestellung der Zuschlag von 1/20 "bei relevanter Drehstörung" (Nr. 6.5). Was ist relevant?

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Schulterinstabilität

Die Ausführungen zur "Schulterinstabilität" sind problematisch, da sie im Einzelfall nur schwer oder gar nicht zu sichern sind - z. B. "Gelegentliche Subluxationen - maximal 2 mal monatlich" (Nr. 6.5). Was versteht man unter einer "gehäuften Subluxation (z. B. bei Labrumläsion)". Bei einem Schaden im Bereich der Gelenklip-pe kann es zu keinen oder seltenen oder gehäuften Subluxationen kommen. Diese Interpretationshilfe ist ihrerseits wiederum zu variabel.

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Sonstige Arm- bzw. Beinschäden

Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können benennen die "Sonstigen Armschäden" (Nr. 6.6) und die "Sonstigen Handschäden" (Nr. 6.7) weitgehend die Ursachen von nicht exakt definierbaren Funktionseinbußen, nicht die Funktionseinbußen selbst.

Das gleiche gilt für die "Sonstigen Beinschäden" (6.17). Soweit alle diese Unfallfolgen klar umschrieben sind, ergeben sich zu den herkömmlichen Tabellen keine Unterschiede. Dazu bedarf es also des "Modularsystems" nicht. Zu diskutieren ist auch die Bemessung von "Thrombosefolgen" (Nr. 6.21). Abgesehen davon, dass es sehr viel aussagekräftigere Untersuchungsmöglichkeiten zu den funktionellen Auswirkungen einer Thrombose gibt, als dies eine Umfangvermehrung ist, an der die Bemessung anknüpft, differieren die Umfangmaße nach der Tageszeit, zu der sie erhoben werden. Sie differieren auch danach, ob regelmäßig ein Kompressionsstrumpf getragen wird. Sie sind also nicht das Maß aller Dinge zur Bemessung von Thrombosefolgen.

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Erhebung der Funktionsbeeinträchtigung/Unfallfolgen

"Gleiches" kann nur "gleich" bemessen werden, wenn die Funktionseinbußen in gleicher Weise erfasst werden. Bei der Beweglichkeit ist die geführte Beweglichkeit zu überprüfen, ein Begriff, der sich in der Anleitung zu den seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunders in den deutschen Sprachraum übernommenen Messblättern findet. Nicht zu überprüfen ist die aktive oder die passive Beweglichkeit. Inhaltlich richtig wird dieser Begriff - geführte Beweglichkeit - auch im "Modularsystem" erklärt, wobei die dort gebrauchte Diktion "passive" Beweglichkeit das, was gemeint ist, nicht trifft.

Klarheit muss insbesondere zu den Normalwerten bestehen. Die im "Modularsystem" angegebenen "Normalwerte" weichen teilweise deutlich von den "Normalwerten" in den Messblättern ab. Dies muß zu unterschiedlichen Bemessungswerten führen.

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Bemessung der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigungen

Die Bemessung der Unfallfolgen muss klaren Linien folgen. Die Werte zu den Versteifungen eines Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenkes stimmen mit den konventionellen Tabellen weitgehend überein. Insoweit bedarf es also des "Modularsystems" nicht. Die Vollversteifung ist nach dem Vorspann zum "Modularsystem" ein wichtiger Gradmesser für die Funktionalität einer Gliedmaße - besser geeignet als der Gliedmaßenverlust oder die komplette Lähmung. Dem ist zuzustimmen.

Es folgen dann im "Modularsystem" teilweise klar, teilweise unklar definierte Unfallfolgen im Bereich der oberen Extremität, die - so weit klar ausgewiesen - mit den konventionellen Tabellen weitgehend übereinstimmen. Probleme ergeben sich dann jedoch bei der Bemessung von Unfallfolgen im Bereich des Schultereckgelenkes. Definitionsgemäß führt eine Tossy I Verletzung nicht zu einer Instabilität des Gelenkes. Eine Instabilität nach Tossy III wird nach dem "Modularsystem" mit 3/20 Armwert bemessen. Unfallbedingte Instabilitäten entsprechend Tossy III sind nicht ganz selten. Die Funktion ist in der Regel völlig frei und die Betroffenen klagen über keine relevanten Beschwerden, während eine Teilverrenkungsstellung des Schultereckgelenkes entsprechend Tossy II funktionell meist ungünstiger ist und auch mit vermehrten Beschwerden einhergeht. Liegt z. B. bei einer Unfallfolge entsprechend Tossy III zusätzlich eine Bewegungseinschränkung in Bezug auf die Seitwärts- und Vorwärtshebung bis 60° vor, ist das nach dem "Modularsystem" additiv mit 3/10 hinzuzufügen. Dies ergäbe also 9/20 Armwert, wobei man dieses Beispiel noch durch Addition einer "relevanten Drehstörung" (1/20 Armwert) "verbessern" kann. Das kann nicht mehr stimmig sein. Bei einer derartigen starken Bewegungseinschränkung wirkt sich eine gleichzeitig bestehende Luxation im Schultereckgelenk nicht zusätzlich funktionsmindernd entsprechend 3/20 Armwert aus.

Das ist nur ein Beispiel. Nicht alle Bemessungen nach dem "Modularsystem" wurden auf ihre Stimmigkeit überprüft, weil dies den hier gegebenen Rahmen sprengen würde.

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"Modulare Zusatzbewertungen"

Als "modulare Zusatzbewertungen" sind aufgeführt:

  • Muskelminderung/Kraftminus (Nr. 6.22)

  • Achsenfehler (Nr. 6.23)

  • Instabilität (Nr. 6.24 und 6.20)

  • Arthroserisiko (Nr. 6.25)

  • Endoprothesen (Nr. 6.27)

Die Diktion zu diesen Zuschlägen ist bereits bedenklich und zeigt den grundsätzlichen Kritikpunkt an, dem diese Zuschläge unterliegen. Es heißt, dass diese "Bewertungen" additiv der "Bewertung" für "Funktionsstörungen" hinzuzufügen sind. Einmal wertet der ärztliche Gutachter nicht, er bemisst. Zum anderen sind in der Privaten Unfallversicherung ausschließlich "Funktionsstörungen", d. h. Funktionsbeeinträchtigungen zu bemessen. Ist die Funktionsstörung gesichert, ist nicht ersichtlich, welcher Zuschlag noch erfolgen soll.

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Die Kritikpunkte zu den einzelnen Zuschlägen sind Folgende

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Muskelminderung/Kraftminus (Nr. 6.22)

Die Bemessung der Muskelminderung hat zum Hintergrund die Bemessung des Kraftverlustes. Dieser wird bisher bemessen unter Berücksichtigung von Muskelminderung, Beschwielung und Kalksalzgehalt. Es ist nicht ersichtlich, warum Beschwielung und Kalksalzgehalt als gleichrangige Bemessungskriterien ihre Bedeutung verloren haben sollen.

Die Messfehlerbreite wird im "Modularsystem" am Oberarm und Oberschenkel mit 1 cm und am Unterarm/Unterschenkel mit 0,5 cm angegeben - unabhängig von der Ausprägung des Weichteilmantels im Einzelfall. Je schlanker eine Gliedmaße ist, desto genauer kann gemessen werden. Je umfangreicher aber der Weichteilmantel ist und je kürzer der Proband ist, desto schwieriger wird die Umfangmessung. Zu der Messfehlerbreite gibt es also keinen festen Wert. Diese kann unter 0,5 cm und über 1 cm liegen. Ein Zuschlag bei einem Umfangminus von über 1,5 cm kann also ein Zuschlag für einen Messfehler sein.

Ein Muskelminus bei Vollversteifung entfällt bei der Bemessung nach dem "Modularsystem". Bei Bewegungseinschränkungen werden Muskelminderungen über 1 cm am Unterarm und Unterschenkel und über 1,5 cm am Oberarm und Oberschenkel zusätzlich ("additiv") bemessen. D. h., dass Umfangdifferenzen bei Asthenikern und massiv Adipösen im Seitenvergleich den gleichen funktionellen Stellenwert haben, was mehr als offen ist. Will man eine Muskelminderung additiv bemessen, so müsste geklärt sein, mit welcher Muskelminderung bestimmte Funktionseinbußen in aller Regel einhergehen. Nur die den Regelfall übersteigenden Muskelminderungen dürften additiv bemessen werden. 1975 wurden vom Autor (Ludolph) 100 Gutachten zu Kniegelenksversteifungen ausgewertet. Neben einer durchschnittlichen Beinverkürzung von 1,5 cm fand sich eine Muskelverschmächtigung am Oberschenkel von 2,5 bis 3,5 cm, also im Schnitt von 3 cm. Wer sagt, dass eine Bewegungseinschränkung des Kniegelenkes von (Streckung/Beugung) 0/30/70 nicht regelhaft mit einer Muskelverschmächtigung von 2 bis 2,5 cm einhergeht? Wenn dem so ist, ist es dann nicht sinnvoller - wie bei der Versteifung, die regelhafte Muskelminderung bei der Bewegungseinschränkung mit zu bemessen?

Setzt man das "Modularsystem" um, so ist dem Wert für die Bewegungseinschränkung (0/30/70 = 4/10 Beinwert) der Wert für eine regelhaft vorliegende Muskelminde-rung (1/20 oder 2/20) Beinwert hinzuzuaddieren. 5/10 Beinwert ist der im "Modularsystem" vorgeschlagene Wert für ein in Funktionsstellung versteiftes Kniegelenk. Die Relationen zwischen einem versteiften und in seiner Bewegung eingeschränkten Kniegelenk sind nicht gewahrt.

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Achsenfehler (Nr. 6.25).

Dort gibt es "Zuschläge" am Oberarm, am Oberschenkel und am Unterschenkel. Eine Achsabweichung von 15° am Oberarm gibt 1/20 Armwert als Zuschlag, die gleiche Achsabweichung am Oberschenkel oder Unterschenkel 1/20 Beinwert als Zuschlag. Zunächst einmal darf salopp festgestellt werden, dass ein Röntgen-Befund bemessen wird. Ob sich eine Achsabweichung funktionell auswirkt, ist eine ganz andere Frage. Eine Achsabweichung am Oberarm von 15° ist in aller Regel ohne jegliche funktionelle Auswirkungen - auch prognostisch. Am Oberschenkel und am Unterschenkel ist dies - aus prognostischen Gründen - völlig anders. Da sind Achsabweichungen im O- bzw. X-Sinn von 15° durchaus korrekturrelevant. In Bezug auf Achsabweichungen sind also Funktion und Prognose entscheidend. Liegt kein Funktionsverlust vor und ist prognostisch nichts Negatives zu erwarten, ist ein "Zuschlag" nicht berechtigt.

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Instabilität (Nr. 6.24 und Nr. 6.20)

Es gelten im Grundsatz die gleichen Überlegungen. Zu fragen ist, wie wirkt sie sich funktionell aus und wie ist die Prognose. Darüber hinaus ist die Sicherung in der Genauigkeit, wie sie tabellarisch vorgegeben ist, problematisch.

Zur Instabilität am Kniegelenk wird die muskuläre Kompensierbarkeit einer Bandinstabilität vernachlässigt und die unterschiedliche Bedeutung von Innen- und Außenband sowie vorderem und hinterem Kreuzband für die Stabilität eines Kniegelenkes nicht berücksichtigt.

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Arthrose (Nr. 6.25)

Für die Arthrose wird - je nach röntgenologischer Ausprägung - sowohl für den "Ist-Zustand" als auch für die "prognostische Entwicklung" ein "Zuschlag" in gleicher Höhe vorgeschlagen. Das ist ungerecht. Der "Ist-Zustand" ist über die momentane Funktion zu bemessen. Nicht der Röntgen-Befund ist zu bemessen. Röntgen-Befunde und Beschwerden sowie Funktionseinbußen korrelieren nicht grundsätzlich mit einander. Ist aber zum Ablauf des 3. Unfalljahres aufgrund der Verlaufs- und der aktuellen Befunde im Seitenvergleich hinreichend wahrscheinlich (§ 287 ZPO), dass sich die Arthrose negativ weiter entwickeln wird, dann ist derjenige benachteiligt, der z. B. für eine Arthrose nach Kellgren I zum Ende des 3. Unfalljahres nur 1/20 Zuschlag bekommt, wobei hierbei zusätzlich zu berücksichtigen wäre, dass der 20-Jährige nicht mit einem 65-Jährigen gleichzusetzen ist.

Warum sollen Leistungen gewährt werden, wenn nach Meniskusteilresektion zum Ende des 3. Unfalljahres keinerlei Hinweise auf eine negative Entwicklung bestehen? Gibt es gesicherte Erfahrungen, dass dennoch mit hinreichender Wahrscheinlich negative Entwicklungen zu erwarten sind? Diese gibt es nicht. Wenn sich aber negative Entwicklungen bereits anzeigen, ist dann eine Bemessung mit 1/20 Beinwert ausreichend?

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Endoprothesen (Nr. 6.27)

Dass bei künstlichem Gelenkersatz die prognostische Entwicklung auch in Abhängigkeit vom Lebensalter und in Abhängigkeit von der Lebenserwartung, die bei Männern und Frauen deutlich unterschiedlich ist, zu berücksichtigen ist, ist unstrittig. Die im "Modularsystem" gemachten Vorgaben sind zu konkret, um nicht zu Diskussionen zu führen. Denn wie will man erklären, dass ein 23-Jähriger oder eine 23-Jährige einen Zuschlag von 4/10 Beinwert bekommt, ein 26-Jähriger oder eine 26-Jährige nur einen solchen von 3/10 Beinwert.

Nicht alle Endoprothesen können in einen Topf geworfen werden. Bei Hüftgelenksprothesen mag es noch gerechtfertigt sein, grundsätzlich in Schritten von 15 Jahren die Invalidität zu steigern. Welche Erfahrungen haben wir aber zur Standzeit von Kniegelenks-, Sprunggelenks-, Schultergelenks-, Ellenbogengelenks-, Handgelenks- und Fingerprothesen, wobei Fingerprothesen im "Modularsystem" offensichtlich nicht berücksichtigt sind? Die Standzeit dieser unterschiedlichen Prothesen - soviel kann sicher gesagt werden - entspricht derzeit nicht unbedingt der einer Hüftprothese.

Für die Standzeit von Endoprothesen ist auch wesentlich der Verlauf und die Funktion zum Ende des 3. Unfalljahres. Diese findet im "Modularsystem" keinerlei Berücksichtigung.

Ist es richtig, dass die Funktionsbeeinträchtigung mit jedem Prothesenwechsel gleichmäßig, also jeweils um 1/10 Arm-/Beinwert, ansteigt? Die bisherigen Erfahrungen besagen, dass der Prothesenwechsel nicht mit linear ansteigenden Funktionsbeeinträchtigungen verbunden ist, wie es das "Modularsystem" unterstellt, sondern mit einer progressiven Funktionsbeeinträchtigung.

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Anwendung des Modularsystems im Expertentest (Schröter)

Um in der Diskussion um das Für und Wider konventioneller Bewertungssysteme einerseits und des Modularsystems andererseits festeren Boden unter die Füße zu bekommen, wurden zum einen zwei kritikwürdige Fremdgutachten (komplett anonymisiert) als auch neun weitere Fallgestaltungen mit Auflistung der verbliebenen Unfallfolgen aufbereitet und insgesamt vierzig gutachtlich interessierten und überdurchschnittlich erfahrenen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der 68. Sitzung des Arbeitskreises "Sozialmedizin und Begutachtung" der DGOOC (10/2005) in Berlin verteilt, verknüpft mit der Bitte, die Fehler in den Fremdgutachten zu benennen und daran anknüpfend eine möglichst korrekte Beurteilung zu erarbeiten. Für die übrigen neun Fälle wurde lediglich um eine korrekte Bewertung sowohl in Anwendung des modularen Bewertungsprinzipes wie auch eine konventionellen Bewertungssystems (ohne Vorgabe der zu nutzenden Tabellen) gebeten. Leider wurde dieser Bitte nur von zehn Kollegen mit rechtzeitiger Rückübersendung der Unterlagen entsprochen.

Eine weitere Rücksendung erfolgte nach bereits durchgeführter statistischer Auswertung und konnte daher nicht mehr mit berücksichtigt werden. Die Ergebnisse wurden im Rahmen der 69. Arbeitskreissitzung "Sozialmedizin und Begutachtung" in Baden-Baden (04/2006) vorgestellt, hier die Ergebnisse:

  1. Die Bewertung der zwei Fremdgutachten bereitete keinem der teilnehmenden Kollegen ein Problem. Die Problematik der Gutachten wurde mit nahezu 100 % richtig erkannt, von 60 % der Teilnehmer sämtliche, von dem Rest nahezu alle Einzelfehler benannt. Acht von zehn Teilnehmern kamen zu einer korrekten Bemessung der Invalidität innerhalb einer kleinen - vertretbaren - Schwankungsbreite sowohl in Anwendung des modularen wie auch des kon-ventionellen Bewertungsprinzipes.

  2. In den weiteren neun Bewertungsfällen zeigte sich hingegen eine teils erhebliche Spannweite der Bewertungen mit Ausreißern sowohl im Sinne einer zu niedrigen wie auch zu hohen Bewertung jeweils außerhalb eines vertretbaren, auch nicht zu eng gewählten Beurteilungsspielraumes, innerhalb dessen die Antworten als zutreffend angesehen wurden.

    In Anwendung des konventionellen Systems zeigte sich dabei eine breitere Spannweite mit einer nur ca. 45 %igen Übereinstimmung mit einer als korrekt angesehenen Bewertung, während in Anwendung des modularen Bewertungssystems eine Übereinstimmung zu 63 % mit der für korrekt angesehenen Schwankungsbreite festgestellt werden konnte, auch die maximalen Abweichungen nach oben und unten außerhalb der zutreffenden Spannweite geringer ausfielen, als im konventionellen System.

  3. In den Fallbeispielen zeigte sich recht gut, dass in neun von zehn Fällen die unterschiedlichen Bewertungen nach dem konventionellen und modularen System nahe beieinander lagen.

  4. Der Ausnahmefall war der einer Totalendoprothese bei einem relativ jungen Mann, der im konventionellen System mit 7/20 Beinwert ergab, im modularen System wegen des Prothesenzuschlages jedoch um 2/10 Beinwert deutlich höher lag.

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Anwendungsanleitung

Bei der Auswertung wurde erkennbar, dass in manchen Fällen die tabellarischen Vorgaben im modularen System falsch angewandt wurden, auch deshalb, weil die anleitenden Begleittexte nicht beachtet wurden. Diese Art der Beliebigkeit in Anwendung tabellarischer Bewertungssysteme ist jedoch nicht neu, nicht als Mangel des Systems aufzufassen, sondern als Mangel der Gutachtenqualität infolge einer Verweigerung der Kenntnisnahme solcher Anwendungsanleitungen.

Diese Auswertung hat infolge der geringen Fallzahl (elf) und der nur zehn teilnehmenden Gutachter zweifellos keine signifikante Aussagekraft, lässt aber immerhin die Tendenzen in der Anwendung dieser Bewertungssysteme erkennen, Tendenzen, wie sie sich auch in zur Überprüfung vorgelegten Fremdgutachten immer widerspiegeln.

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Kritische Einwendungen (Ludolph)

Das "Modularsystem" setzt richtig an, dass neben den Bemessungskriterien, die die Eckwerte der sog. Invaliditätstabellen vermitteln, weitere Bemessungskriterien zu berücksichtigen sind. Das geschieht bei gekonnter Bemessung nach den bisherigen Invaliditäts-"Tabellen" auch. Bemessen werden nicht nur die Bewegungsausschläge, sondern die Muskelminderung, die Beschwielung, der Kalksalzgehalt, die Stabilität und die Prognose (Arthroserisiko, Standzeit bei Endoprothesen). Es fragt sich, ob dafür das "Modularsystem" erforderlich ist. Das "Modularsystem" ist einmal schwierig in der Umsetzung. Es führt, wie Bemessungen unter Berufung auf das "Modularsystem" zeigen, zu groben Fehlern. Das ist nicht im Sinne des Erfinders, ist aber Fakt. Die zur Umsetzung des "Modularsystems" erforderliche Intelligenz und Mühewaltung ist auch nicht annähernd bei jedem ärztlichen Gutachter vorauszusetzen. Kann sie vorausgesetzt werden, reichen die bisherigen Tabellen, die selbstverständlich ständig hinterfragt, korrigiert und erweitert werden müssen und können. Das "Modularsystem" ist in sich in vielen Punkten nicht ausreichend schlüssig.

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Fazit

Unzulänglichkeiten in der Anwendung tabellarischen Bemessungssysteme stellen eine Herausforderung für die Autoren dar, nämlich einerseits durch eine Vereinfachung und andererseits durch eine Verbesserung in der Struktur solcher Beurteilungsempfehlungen die Handhabbarkeit auch für den zu verbessern, dessen Bereitschaft zu einer intensiveren Beschäftigung mit den Handlungsanleitungen solcher Bemessungsvorgaben nicht erwartet werden kann. Daher haben sich die Autoren dieses Beitrages zum Ziel gesetzt, die Prinzipien des bisherigen konventionellen Bemessungssystems mit den Vorteilen des modularen Systems zu einem dann in allen maßgeblichen Gutachtenbüchern einzubringendes einheitliches Bemessungssystem zusammenzuführen, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt, dass damit Unsicherheiten sowohl bei den Anwendern (Gutachtern) wie auch in der Versicherungswirtschaft begegnet werden kann. Diese Vorschläge setzten jedoch voraus, dass zunächst eine möglichst breite Diskussion der unterschiedlichen Bemessungssysteme erfolgt.

Dr. Frank Schröter

Arzt für Orthopädie - Sozialmedizin - Institut für medizinische Begutachtung, Kassel

Dr. Elmar Ludolph

Arzt f. Chirurgie / Unfallchirurgie- Sportmedizin, Sozialmedizin, Chirotherapie - Institut für ärztliche Begutachtung, Düsseldorf