DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2007; 5(02): 33-35
DOI: 10.1055/s-2007-981518
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Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Die Stille nutzen - Auszug aus der Korrespondenz zwischen Rollin Becker und Anne Wales aus den frühen Siebziger Jahren. (Aus Becker R: The Stillness of Life. Portland, Oregon, USA: Stillness Press; 2000.)

Rollin E. Becker
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Publication Date:
15 May 2007 (online)

Anne, heute morgen möchte ich den Nutzen der Stille bei einem Behandlungsprogramm besprechen.

Wir hatten schon früher darüber gesprochen, wie ich sie an mir anwendete und damit gute Ergebnisse für zwei chronische Probleme erreichen konnte. Nun möchte ich die Anwendung der Stille diskutieren, wie man sie bei jedem Patienten anwenden kann. Was ich ins Bewusstsein rücken möchte, ist eine Art zu denken, eine Art zu sein und eine Weise, die Stille zu nutzen - objektiv und subjektiv - bei der Diagnose und Behandlung unserer Fälle.

Für mich ist Stille der wahre Schlüssel dazu, was uns Dr. Will (Sutherland) geben wollte. In seinen verschiedenen Vorträgen kamen wir zu einem Stillpunkt. Er machte Aussagen wie: „Erlaube der physiologischen Funktion sich in ihrer eigenen unbeirrten Potency auszudrücken, statt blinde Kraft von außen anzuwenden.” A.T. Still schrieb in seiner Autobiographie auf Seite 148 das, was ich für die wahre Definition von Osteopathie halte: „Ich hoffe, dass alle, die dies lesen, sehen mögen, dass ich vollkommen überzeugt davon bin, dass Gott als Verstand der Natur seine Fähigkeit zu Planen bewiesen hat (falls Planung nötig ist) und die Gesetze des Selbst gemacht oder vorgelegt hat, ohne Muster, für die Myriaden von Formen von beseelten Wesen; und sie gründlich ausgestattet hat für die Pflichten des Lebens, mit gleichzeitig laufenden Maschinen und Batterien einer Motorkraft.”

Lass uns als nächstes zu einem Artikel eines indischen Mystikers übergehen, der das Mysterium von Zeit behandelt. (Main Currents of Modern Thought, Sept./Okt. 1970). Er sagte, dass sowohl Raum als auch Zeit zwei Aspekte der grundlegendsten Qualität des Lebens seien - Bewegung. Und auf direkter Erfahrung beruhend, betonte Buddha den dynamischen Charakter der Wirklichkeit - im Gegensatz zur allgemeinen Annahme seiner Zeit eines statischen Atmavedas, in welchem eine ewige und unveränderte Wesenheit beschrieben wurde. Der Autor sagte, dass das ursprüngliche Konzept von „Atman” im Grunde genommen das einer „universellen, rhythmischen Kraft, dem lebendigen Atem des Lebens” sei - vergleichbar mit dem griechischen „Pneumatos” (Geist), welcher sowohl das Individuum als auch das Universum durchdringe. (Atman: Das Selbst, Geist, ewiges Prinzip im Kern eines jeden Lebewesens).

Er spricht über die Realität einer dynamischen, direkten Erfahrung dieser Stille. Es ist nicht das, was wir den Stillpunkt nennen - es gibt Billionen solche. Es ist die Stille. Stille ist die treibende Kraft in dem Konzept, das ich in meiner Praxis anwende. Ich verwende die Stille als treibende Kraft, um Veränderungen in meinen Patienten zu bewirken.

Ich habe eine sehr schöne Beschreibung von Stille bei einem anderen östlichen Philosophen entdeckt. Dieser Mann lauschte einem Künstler, der ein sehr kompliziertes indisches Instrument spielte. Der Musiker spielte sehr schön, seine Finger glitten über die Saiten, er rief die richtige Klangqualität hervor, weil er die richtige Stärke auf den Saiten anwendete und sie korrekt zupfte. Der Zuhörer berichtete, dass etwas Merkwürdiges in dem Raum passierte, der der Verstand ist. Er hatte die anmutigen Fingerbewegungen beobachtet, dem süßen Klang gelauscht, die nickenden Köpfe und die rhythmischen Hände der stillen Leute beobachtet. Auf einmal verschwand der Beobachter, der Zuhörer. Er war nicht von den melodiösen Saiten eingelullt worden, sondern war einfach völlig abwesend. Da war nur der weite Raum, der der Verstand ist. Alles Irdische und Menschliche war darin enthalten, aber sie waren ganz an den äußeren Rändern, schummerig und weit weg. Im Raum, wo nichts war, war eine Bewegung. Und diese Bewegung war Stille. Es war eine tiefe, weite Bewegung ohne Richtung, ohne Motiv. Sie begann an den äußeren Rändern und bewegte sich mit unglaublicher Kraft auf die Mitte zu - eine Mitte, die überall in der Stille vorhanden ist, in der Bewegung, die Raum ist. Diese Mitte ist völliges Alleinsein, unversehrt und unbeschreibbar, ein Alleinsein, das keine Isolation ist, welches kein Ende und keinen Anfang hat. Es ist vollkommen in sich selbst, ist nicht gemacht. Die äußeren Ränder sind darin enthalten, machen es aber nicht aus. Es ist da, aber nicht im beschränkten Verstand des Menschen. Es ist das Ganze, aber man kann sich ihm nicht annähern.

(aus J. Krishnamurti, „Kommentare zum Leben” 3. Reihe.)

Dies bringt uns zurück zu Dingen, die Will oft besprochen hat - zum flüssigen Licht, dem Wetterleuchten in der Wolke, die unsichtbaren Energien, die das Röntgenbild formen.

Es ist die klinische Erfahrung bei der Anwendung der Stille, diese totale Energie, dieser totale Körper, diese totale Kraft im Konzept des Behandlungsprogramms über das ich heute Morgen kurz sprechen möchte.

Ein Patient kommt herein mit einem beliebigen Problem. Wenn ich mit seiner Geschichte fertig bin - fertig bin mit der Unterhaltung, die nötig ist, bevor ich ihn auf dem Tisch habe - dann lege ich meine Hände auf die entsprechende Problemstelle und versuche, die Stille zu fühlen. Nicht einen Stillpunkt, sondern eine Stille, die dieses Individuum ist. Du kannst Dir der Stille nur bewusst werden, du kannst sie nicht mit deinen Händen fühlen. Die Stille ist das, was jedes Molekül dieses lebendigen Körpers zentriert. Die Körperphysiologie ist der äußere Ausdruck dieser Stille. Sie ist in vollkommener Einheit, in ausgeglichenem Austausch. Bei Gesundheit ist dies ein frei fließender Austausch. Bei Krankheit und Trauma werden Unfähigkeitsmuster gebildet, die die Stille in sich haben. Die Energie der treibenden Kraft ist also in diese Unfähigkeitsmuster eingebaut, genau wie in der Gesundheit.

Die Unfähigkeitsmuster sind da aufgrund all der Faktoren, die sie verursacht haben - die Verdrehungen, die Verschiebungen, die Vergiftung mit Endotoxinen, was auch immer.

Die Unfähigkeitsmuster sind präsent und auch sie sind abhängig von der treibenden Kraft der Stille. Die Körperphysiologie entscheidet sich nicht dafür, diesen Körper weiter in Krankheit oder im Trauma zu behalten. Sie entscheidet sich dafür, das Problem zu korrigieren, zurück in Richtung freien Austausch und Funktion mit Stille - ein Zustand, den wir Gesundheit nennen.

Wenn ich nun also meine Hände auf diesen Patienten lege, dann stelle ich einen fühlbaren Kontakt her mit denkenden, fühlenden und wissenden Fingern. Ich erfasse das Problem mit dem Wissen der Körperphysiologie dieses Teils des Körpers - eine vollständige Synthese von Verständnis, welches den Bänder-Gelenk-Mechanismus, seine Flüssigkeitsdynamiken, den Austausch der Lymphe, den arteriellen Blutfluss und den venösen Abfluss beinhaltet. Das ganze Bild unseres Trainings ergibt ein dynamisches Verständnis dessen, was ich fühle, was unter meinen Händen ist. Sobald ich die Stille als treibende Kraft, die diesen Fall lenkt, wahrnehme, beginnen meine Hände die Verlagerung der Elemente der Körperphysiologie und ihre Reaktion auf die treibende Kraft, die von der Stille ausgeht, wahrzunehmen und zu fühlen. Es ist mehr als nur ein Gefühl von Bewegung. Es ist ein lebendiges Gebilde von Austausch, welches da stattfindet. Es ist ein wahres physiologisches Bild der Physiologie der Körpermuster, wie es in diesem jetzigen Problem existiert, das in unsere Praxis gebracht wird.

Meine Hände fühlen das ganze Muster des Krankheitsprozesses und des traumatischen Vorgangs - alle Elemente der ganzen Körperphysiologie, die sich als traumatischer oder krankhafter Funktionsprozess in diesem System manifestieren. Meine Hände - meine denkenden, fühlenden und wissenden Finger - können die äußeren Manifestationen des Lebens als Zeit, Raum und Bewegung in diesem Problem des Patienten fühlen. Dies kann von den Händen und den Sinnen erfühlt werden. Dies kann auch in der Art und Weise, wie der Patient geht, beobachtet werden und kann aus der Art, wie er seine Geschichte dem Arzt schildert, gehört werden. Es sind die gefühlten Erfahrungen des Patienten, was dieses Problem bei ihm verursacht hat und all das steht auch dem Arzt durch seine Sinne zur Verfügung.

Bis jetzt haben wir zwei Punkte besprochen. Der eine ist das Bewusstsein oder die Wahrnehmung von Stille als ein Produkt des Verstandes. Das ist der Nutzen des Verstandes. Es ist die Fähigkeit, die Stille wahrzunehmen, sie zu kennen und zu erfahren und dies muss durch das Bewusstsein und die Wahrnehmung des Verstandes geschehen.

Der zweite Punkt ist, dass dieser Mechanismus fühlbar ist von denkenden, sehenden, fühlenden und wissenden Fingern. Es ist möglich, die Veränderungen, die in den Geweben durch die Stille vor sich gehen, zu spüren. Wenn wir uns bewusst werden, dass sie ihre Arbeit im Patienten verrichtet, dann haben wir ein Gesetz physiologischer Funktion, die ihre eigene unbeirrte Potency manifestiert. Lass mich dies ein wenig anders sagen: Wir lassen die innere, physiologische Funktion sich manifestieren als Folge von Potency oder Stille in Aktion in diesem Patienten.

Ich als Arzt bin mir tief bewusst, dass ich durch meine denkenden, fühlenden und wissenden Finger die Erfahrungen von Bewegungen, Beweglichkeit und Funktionen, die sich innerhalb der Krankheit und dem traumatischen Befinden dieses Patienten abspielen, teile. Durch die Synthese meines anatomischen und physiologischen Wissens und wie ich die Ganzheit der Körperphysiologie, wie sie sich in diesem Patienten darstellt, sehe, erfahre ich bewusst und bin mir bewusst, dass ich die Erfahrung dieses traumatischen oder krankhaften Prozesses in der Körperphysiologie erlebe. Aufgrund meines anatomischen und physiologischen Wissens und meines Verständnisses davon, wie es im Körper funktioniert, bin ich in der Lage, zu fühlen wie diese Funktionen stattfinden, während sich die treibende Kraft der Stille in Aktion entlädt.

Nun wird der Behandlungsvorgang, bei dem die Stille verwendet wird, einfach. Man strebt danach, den Austausch zu verstehen und zu fühlen - den rhythmischen Austausch, den vollständigen Austausch mit der Stille. Die Stille ist das, was wir bewusst wahrnehmen, im Zentrieren des ganzen Wesens des Körpers, mit dem wir arbeiten. Wir sind uns der völligen Stille innerhalb dieses Patienten bewusst. Wir sind uns der Stille bewusst. Wir können mental fühlen - mit dem Verstand, mit dem Bewusstsein, mit der Bewusstheit. Wir wissen, dass wir diese Stille haben. Wir sind uns dessen sehr bewusst.

Mit unseren Händen auf diesem Problem, welches tief in unserem Patienten ist, sei es nun ein traumatischer oder ein krankhafter Prozess, können wir den Austausch fühlen, der zwischen der universellen, dynamischen und lebendigen Stille und der Krankheit oder dem traumatischen Problem stattfindet, mit dem wir arbeiten. Wir können diesen fühlen mit denkenden, fühlenden und wissenden Fingern. Wir können den Austausch zwischen der Stille und dem Problem fühlen. Wenn wir dann diesen Austausch fühlen können, wie er aktiv stattfindet zwischen der Stille und dem Problem - wenn wir fühlen, dass die Körperphysiologie Teil davon geworden ist und die Stille im und mit dem Problem teilt und im Austausch damit steht, den traumatischen und krankhaften Prozess im Körper umzuwandeln - dann wissen wir, dass unser Behandlungsprogramm beendet ist für diesen Tag, denn das ist alles, was die Körperphysiologie braucht. Es geht um das Zulassen. Soviel von diesem Problem, wie an diesem Tag möglich ist, wird zurückgewandelt in Stille.

Lass uns hier einen kleinen Vergleich anstellen. Wir haben unsere Stille, die alles antreibt, was ist, und die die Quelle ist für jegliche Energie für die Körperphysiologie. In der Gesundheit haben wir eine Körperphysiologie, die mit der Stille im Austausch steht.

Lege deine Hände unter eine beliebige gesunde Stelle des Patienten und fühle die Stille. Fühle die Körperphysiologie des gesunden Bereichs und wie er im freien Austausch mit der Stille steht. Fühle den vollständigen Austausch der Energiekräfte, die von der Stille ausgehen.

Es geht um die Wahrnehmung der Tatsache, dass es einen Austausch zwischen Stille und Gesundheit gibt. Es fließt genauso viel Energie in die Körperphysiologie wie auch wieder zurückfließt, um in Stille umgewandelt zu werden. Es gibt einen vollständigen Austausch - eine Ebbe und Flut. Wenn du mit deinen Händen auf einem gesunden Körperbereich bist, fühlst Du diesen Austausch von Stille und Gesundheit im Körper als einen freien Austausch und völlige Umwandlung in beide Richtungen. Da gibt es kein Problem - da ist Freiheit. Mit deinen Händen unter einem Problem teilst du die Erfahrung als Arzt, du teilst die Erfahrung des Problems im Patienten. Du erfährst, wie die Stille mit ihrer lenkenden Kraft den gesamten Körper zentriert. Du kannst den Austausch zwischen der Stille und dem Problem spüren. Du kannst die Verschiebung der Dynamik der Funktionen der Körperphysiologie fühlen, wie sie mit dem Problem zusammenhängt und wie sie danach strebt, wieder frei zu werden in ihrem völligen Austausch mit der Stille. Das ist die Einfachheit, die Funktion der Körperphysiologie zu fühlen und gestaute Kräfte, Verspannungen, Anspannungen, Bänderzerrungen und Vergiftungen umzuwandeln. Das ist das Gefühl der umfassenden Organisation der Körperphysiologie, wie sie mit und durch die Energie der Stille ein Muster der Veränderung, der Korrektur bildet. So wird es zu einem Behandlungsprogramm, in dem die Gesundheit verbunden ist mit der Rückkehr zum freien Austausch zwischen der Körperphysiologie und der Stille.

Nun, ich habe dies möglicherweise nicht allzu gut ausgedrückt, Anne. Aber ich fühle ganz stark, dass wir die Möglichkeit haben, tiefer in das Studium der Stille einzutauchen. Ich glaube, dass wir als Ärzte ausdrücklich das Recht haben, diese Stille zu einem lebendigen Teil unserer Dynamik bei der Diagnose, im Behandlungsprogramm und in der Gesundheitspflege bei unseren Patienten zu machen. Ich hatte dir schon früher von meinen Erfahrungen erzählt, dies bei der Selbstbehandlung anzuwenden. Ich wollte dabei nicht die Veränderungen, die in meiner Körperphysiologie stattfanden, fühlen, weil ich das subjektive Subjekt war, welches behandelt wurde, und ich mit meinen Sinnen die Veränderungen in meiner Körperphysiologie erfahren konnte. Mein Bewusstsein von Stille war ein Bewusstsein des Verstandes, eine Bewusstheit des Verstandes. Die physiologischen Reaktionen meines Körpers auf dieses Behandlungsprogramm für mich selbst waren fühlbar durch meine subjektive sinnliche Wahrnehmung der Körperphysiologie.

Wenn ich dies bei einem Patienten anwende, dann ist mein Verstandesbewusstsein auf der Ganzheit der Stille, welche die Ganzheit des Selbsts des Patienten ist, während meine Hände fühlen. Meine denkenden, fühlenden und wissenden Finger können fühlen, wissen und erfahren und mit der Körperphysiologie des Patienten die Dynamiken des Austauschs teilen, die zwischen dem Problem im Patienten und dem Bewusstsein der Stille im Patienten stattfinden. Wenn ich fühle, wie der Austausch stattfindet - mit meinen Händen als eine Art Fühlmechanismus und mit meinem Verstand als ein Bewusstsein, in dem sich die Stille mit der Körperphysiologie austauscht, dann ist die Behandlung vollendet. Die Herausforderung bei meinem Behandlungsprogramm ist, den Punkt zu erkennen, an dem ich weiß, dass dieser Austausch stattfindet, den Punkt zu erkennen, an welchem diese spezielle Behandlung zu Ende ist. Alles, was in einer Behandlung an einem bestimmten Tag stattfindet, wird bestimmt von der Toleranz des physiologischen Prozesses des Körpers - der Zeit, der Spannung, des Grads und der Dauer der Einschränkung, die im Patienten vorhanden ist. Das Problem wird in seiner vollen Fähigkeit antworten - in Verbindung zu allen Faktoren, die es verursacht haben. Und es wird bis zum Punkt der Toleranz antworten an diesem speziellen Tag auf diese spezielle Behandlung. Und so ist es meine Herausforderung, zu erkennen, wann dieser Austausch zwischen der Stille und der Körperphysiologie den Punkt des Austauschs erreicht hat, damit ich es für diesen Tag auf sich beruhen lassen kann. Genug, ich werde ein anderes Mal wieder mit dir reden, Anne.