Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(39): 1999
DOI: 10.1055/s-2007-985630
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kardiologie zwischen Innovation und Budget

Cardiology between innovation and budgetU. Tebbe1 , E. Erdmann2
  • 1Klinikum Lippe GmbH, Fachbereich Herz-Kreislauf, Detmold
  • 2Medizinische Klinik III der Universität zu Köln
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Publication Date:
19 September 2007 (online)

In den USA sterben nur noch halb so viele Menschen an einem Herzinfarkt wie in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dieser massive Rückgang wird zum einen auf die verbesserte Therapie und zum anderen auf die Reduktion kardialer Risikofaktoren in der Bevölkerung zurückgeführt. Nach einer Analyse der Gruppe um Simon Capewell von der Universität Liverpool wird die Halbierung der Todesfälle an der koronaren Herzerkrankung (KHK) zu 47 % auf den medizinischen Fortschritt zurückgeführt: 11 % durch Sekundärprävention oder Revaskularisierung, 10 % durch Initialbehandlung des akuten Herzinfarktes, 9 % durch Behandlung der Herzinsuffizienz, 5 % durch Revaskularisierung bei chronischer Angina pectoris, 12 % durch andere Therapien. Die anderen etwa 44 % der gesunkenen KHK-Sterblichkeit sind auf eine Änderung der Risikofaktoren zurückzuführen: Reduktion des Cholesterinspiegels, Behandlung der arteriellen Hypertonie, Rauch-Verzicht und vermehrte körperliche Aktivität. - Diese positiven Entwicklungen sind auch in Europa zu beobachten, so in Finnland und Deutschland. In Peking dagegen hat die kardiovaskuläre Sterblichkeit deutlich zugenommen. Mit dem höheren Wohlstand steigen die Cholesterin-Spiegel, und die Bevölkerung will (noch) nicht auf liebgewonnene Gewohnheiten wie das Rauchen verzichten.

Hinter dieser insgesamt erfreulichen Entwicklung bei den Risikofaktoren verbergen sich auch gegenläufige Entwicklungen. Die zunehmende Zahl von Übergewichtigen und Diabetikern könnte den positiven Trend wieder umkehren.

Das Bundesministerium für Gesundheit erklärt im Internet (www.bmgs.bund.de): „Es ist das Ziel der Gesundheitspolitik, die Gesundheit der Bürger zu erhalten, zu fördern, und im Krankheitsfall wieder herzustellen.... Das Gesundheitswesen qualitativ auf hohem Stand und gleichzeitig finanzierbar zu halten, ist die Herausforderung, vor der die Gesundheitspolitik heute und auch in Zukunft steht. Dazu bedarf es eines umfassenden Systems gesundheitlicher Sicherung, das allen Bürgern wirksam und ohne Hindernisse zur Verfügung steht.”

Bei einer vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) initiierten Expertenkonferenz (www.bpi.de) verständigten sich die teilnehmenden Wissenschaftler im Juni 2007 auf 10 Thesen, wie eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln zukünftig gestaltet werden kann. Besonderes Augenmerk müsse dabei auf die Alltagsbedingungen gelegt werden, unter denen Arzneimittel angewendet werden. Erst nach mehrjährigem Einsatz in der Praxis könne der Nutzen im Verhältnis zu den Kosten wissenschaftlich bewertet werden. Auch sollten künftig die Reduktion der Krankheitsdauer oder der Krankenhaustage in die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln einfließen.

Der unaufhaltsame medizinische Fortschritt schafft ständig neue Behandlungsmöglichkeiten. Damit steigen zwangsläufig auch die Ausgaben. Soll die Bevölkerung weiterhin in den Genuss von Spitzenmedizin kommen, muss das auch im Gesundheitswesen berücksichtigt werden. Der Fortschritt verändert nicht nur das Spektrum der möglichen Verfahren, sondern auch das Leistungsvolumen. Je älter Menschen werden, desto mehr ärztliche Betreuung und Behandlungen benötigen sie. Die Qualität der Diagnostik und Therapie wird ständig verbessert. Das Behandlungsrisiko ist deutlich gesunken. Neue medizinische Technologien erlauben Eingriffe schon zu Beginn des Lebens, im Mutterleib, wie auch im hohen Alter. Die Definition des „Unheilbaren” wird ständig verändert. Krankheiten verschwinden nicht und machen einer generellen Gesundheit Platz, sondern sie werden durch andere abgelöst. Die gewonnene Lebenserwartung geht mit enorm steigenden Kosten einher. Heute vorherrschende chronische Leiden bestehen überhaupt erst durch das Zurückdrängen der akuten Infektionskrankheiten früherer Zeiten. Morbus Alzheimer z. B. war vor wenigen Jahrzehnten noch weitgehend unbekannt. Die Menschen, die heute mit dieser Verfallserscheinung des Gehirns leben (ca. 7 % aller 65-Jährigen), wären früher längst an anderen Erkrankungen gestorben - meist an der heute behandelbaren koronaren Herzerkrankung.

Der medizinische Fortschritt geht unaufhaltsam weiter, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Allein durch die Nanotechnik - der möglichen Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts - könnten sich in den nächsten Jahrzehnten unglaubliche neue therapeutische Innovationen ergeben. Auch die Gentherapie wird bisher Ungeahntes wahrscheinlich bald möglich machen. Der medizinische Fortschritt zieht eine enorme Steigerung von notwendigen Behandlungen nach sich, die in der Regel im Budget der Kostenträger noch gar nicht vorgesehen sind. Gesellschaft und Politik müssen bei der finanziellen Ausstattung des Gesundheitssystems berücksichtigen, dass die Innovationen im Gesundheitssektor zwangsläufig zu höheren Kosten führen. Wir sind dabei, die Auswirkungen der „Fortschrittsfalle” zu erleben, ohne uns wehren zu können. Nur mit einem angepassten Budget kann eine hochwertige medizinische Versorgung der Bevölkerung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft auch in Zukunft sichergestellt werden.

Prof. Dr. med. Ulrich Tebbe

Klinikum Lippe GmbH, Fachbereich Herz-Kreislauf

Röntgenstraße 18

32756 Detmold

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Fax: 05231/721214

Email: ulrich.tebbe@klinikum-lippe.de

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