Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2007; 14(2): 61-62
DOI: 10.1055/s-2007-985760
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Erfahrunsgbericht einer Expedition auf den Cho Oyu - "Verlorene Handschuhe"

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Publication Date:
03 August 2007 (online)

 
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In großer Höhe und ganz speziell beim Bergsteigen in sehr großen Höhen werden manchmal absurde Entscheidungen getroffen. Der Sauerstoffmangel setzt die Reaktionsfähigkeit herab und es werden Entscheidungen getroffen, die so in Meereshöhe nie gefallen wären. Jeder Bergsteiger an 8000 Meter hohen Bergen weiß, dass im Ernstfall eine Rettung aus großen Höhen nur notdürftig und improvisiert durchgeführt werden kann. Zu welchen sonderbaren Leistungen ein höhenkrankes Gehirn dann doch noch fähig ist, erzählt die folgende Geschichte von einer Rettung am Cho Oyu (8201m) an der Grenze zwischen Tibet und Nepal. Der Autor der Geschichte vom verlorenen Handschuh ist Hajo Netzer. Hajo Netzer ist einer der renommiertesten Bergführer in Deutschland. Er leitet häufig kommerziell organisierte Expeditionen zu den großen Bergen im Himalaya.

Jörg Schneider, BExMe

Ich trotte das Schneefeld vom Gipfel des Cho Oyus herunter. Das Wetter ist unangenehm - windig und kalt. Gepaart mit der Erschöpfung ist meine Stimmung dementsprechend lausig. Am Ansatz des Grats treffe ich ein paar aus meiner Gruppe, die sich noch im Aufstieg befinden. Wir wechseln noch einige Sätze. Doch einer wirkt apathisch, scheint nicht mehr in dieser Welt zu sein. Offensichtlich ist G. akut höhenkrank. Ich fordere ihn mit Nachdruck auf, mich auf meinem Abstieg zu begleiten. Stoisch folgt er mir abwärts - langsam, aber konstant.

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Sind wir auf dem Wege zu einem grandiosen Mannschaftssturz?

Zunehmend wird er langsamer und auf halbem Wege zu Lager III setzt er sich in den Schnee. Nichts kann ihn dazu bewegen, den Abstieg fortzusetzen. Ich trete mit dem leitenden Sherpa Chuldim im Hochlager in Funkkontakt, er müsse noch einmal aufsteigen und mich tatkräftig unterstützen. Eine Tortur bei diesen Bedingungen. Ich sitze relativ hilflos neben G., rede ergebnislos auf ihn ein. Tabletten nimmt er nicht zu sich. Unser Doktor kommt im Abstieg von seinem Gipfelgang bei uns vorbei und pumpt ihn mit Kortison voll. Die Wirkung ist fatalerweise minimal. Zumindest können wir ihn dazu bewegen weiter zu stolpern.

Am späten Nachmittag erreichen wir die Abseilpiste am Gelben Band. Zusammen mit Chuldim, der inzwischen angekommen ist, lassen wir ihn Stück für Stück ab. Die Dunkelheit bricht herein und es dauert und dauert. G. ist zu keiner Mithilfe mehr fähig. Chuldim lässt mich immer zum nächsten benutzbaren Fixpunkt ab. Dort warte ich, um G. in Empfang zu nehmen, der von Chuldim abgelassen wird. In der Zwischenzeit richte ich die nächste Abseilstelle ein. Verzweiflung keimt in mir auf. Ohne Taschenlampe kann ich nicht erkennen, welche mickrigen Haken und verfaulten Seilreste ich zu einem Stand verknüpfe. Sind wir auf dem Wege zu einem grandiosen Mannschaftssturz?

Mit meinen drei Handschuhschichten bin ich auch nicht in der Lage, etwas zu spüren oder vernünftig zu fädeln. Trotz der beißenden Kälte ziehe ich meine mittlere Schicht, die Walkhandschuhe, aus und stopfe sie bei G. in den Rucksack. Mit letzter Kraft - Chuldim hat sich eine schmerzhafte Knieverletzung, unser Doc beim handschuhlosen Spritzen Erfrierungen zugezogen - erreichen wir gegen Mitternacht das rettende Lager III.

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Er versinkt in seiner Welt, seine Augen verlieren sich starr in der Ferne

Die Nacht ist für alle Beteiligten ein Horror. Doch G. stabilisiert sich mithilfe von Sauerstoff und weiteren Medikamenten einigermaßen. Der Doc und Chuldim müssen aufgrund ihrer Verletzungen am nächsten Morgen sofort absteigen. Ich bin mit G. allein. Ich merke recht bald, wie mutterseelenallein ich hier auf 7400 Metern bin. Zunächst steigen wir kontinuierlich ab und können glücklicherweise den zugigen, schwach ausgeprägten Pfeiler verlassen. In der großen Flanke oberhalb von Lager II sind wir windgeschützter und das rettende Lager lacht mich hoffnungsvoll an. Weit kann es eigentlich nicht mehr sein.

Doch G. geht nicht mehr weiter. Er steht. Ich rede einfühlsam auf ihn ein. Ich versuche, ihn von der Notwendigkeit des Weitergehens zu überzeugen. Er bleibt stehen. Ich schreie ihn an, beschimpfe ihn. Er bleibt stehen. Er schaut unbeteiligt in die Ferne. Oh, wie ich ihn hasse!

Wenn er wenigstens einen Ton sagen oder eine Gefühlsregung zeigen würde, wenn ich ihm Beleidigungen an den Kopf werfe. Nichts dergleichen. Ich erinnere mich an die schöne Zeit mit ihm im Basislager, an seine ruhige und nette Art. Ich versöhne mich innerlich mit ihm, mache ihm das nahe Lager schmackhaft. "Komm, geh fünf Schritte und dann können wir ja wieder Pause machen".

Irgendwann tapst er wieder ein oder zwei Schritte vorwärts. Das ist es dann wieder für eine Weile. Er versinkt komplett in seiner Welt, seine Augen verlieren sich starr in der Ferne. Unsere Lage spitzt sich laufend zu - auch ich bin ja psychisch und physisch an meiner Belastungsgrenze angekommen. Panik kommt in mir auf. Plötzlich entlädt sich diese Anspannung in einem heftigen Bedürfnis nach Entleerung. Hektisch reiße ich alle hemmenden Gegenstände wie Klettergurt und Hosen herunter. Ich ziehe meine Handschuhe aus und übergebe sie ihm. Er nimmt sie wortlos entgegen - und lässt sie wieder los. Der Wind nimmt sie sofort mit und treibt sie vor sich her, bis sie im Gletscherbruch von einer Spalte geschluckt werden. Fassungslos und hilflos verfolge ich ihr Verschwinden.

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Letztlich bleibt nur die grausame Frage: er oder wir?

Meine sowieso schon kalten Hände sind schutzlos dem kalten Wind ausgesetzt und ich habe keine wärmenden Gegenstände mehr im Rucksack. Ich gehe alle Lösungsmöglichkeiten durch, doch letztendlich bleibt nur die grausame Frage, die mich ja schon seit 24 Stunden innerlich quälte: er oder wir? Seit Stunden hat es mich umgetrieben, wie ich reagieren werde, wenn sich die Lage in dieser Art und Weise verschärfen würde. Ich habe die ganze Zeit auf mich eingehämmert, ich müsse nicht als heiliger Samariter sterben. Warum sollte ich jetzt meine Hände opfern? Doch schaffe ich es wirklich, ihn jetzt sitzen zu lassen ohne zu wissen, wann die Rettung von unten eintrifft? Unsere Augen treffen sich - sie spiegeln blankes Entsetzen und Schuldgefühl. Wie lang und intensiv können Sekunden sein. Plötzlich öffnet sich sein Mund und er sagt: "Du hast noch Handschuhe bei mir im Rucksack, die du gestern Abend deponiert hast."

Wir können unsere Odyssee fortsetzen. Am Nachmittag erreicht uns mein Kollege Andreas mit einem Gast, sodass wir auf einen effektiveren Abtransport umstellen können. Dank der weiteren professionellen Unterstützung der Sherpas und des unermüdlichen Einsatzes des auf uns wartenden Doktors können wir das ganze Drama noch zu einem glücklichen Ende führen. Doch der entscheidende Punkt ist, dass G. trotz aller Bewusstseinseintrübung im entscheidenden Moment aus seinem Hirnarchiv das richtige Bild hervorkramen konnte. Welch kleiner, kaum messbarer elektrischer Impuls mit so weitreichenden Konsequenzen.

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Hajo Netzer, Waakirchen

Alle Fotos: Hajo Netzer

 
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