Pro
Es ist nicht zu leugnen: Rauchen hat schwerwiegende Folgeschäden und lange Zeit wurde
Nikotinabhängigkeit (ICD-10 F17.2) von den Psychiatern zu wenig als Suchterkrankung
wahrgenommen. Bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ist die Prävalenz des
Rauchens im Vergleich zur psychiatrisch gesunden Allgemeinbevölkerung zwei- oder mehrfach
erhöht; ungefähr 45 - 88 % der Schizophreniepatienten (bei Hospitalisierung: 82 %),
53 - 66 % der Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung und 40 - 60 % der
Depressionspatienten im Vergleich zu 23 % der Allgemeinbevölkerung sind Raucher; auch
andere psychiatrische Erkrankungen gehen mit einer erhöhten Prävalenz des Rauchens
einher (Daten aus den USA, zusammengefasst in [1]). Psychiatriepatienten sind oft sogenannte „heavy user”, d. h. die Anzahl an Zigaretten
pro Tag und die Menge an inhalierter psychoaktiver Substanz pro Zigarette ist im Durchschnitt
höher als bei vergleichbaren, psychiatrisch gesunden Kontrollpersonen, auch ist die
Rückfallrate nach Entzug erhöht. Der Schweregrad der psychischen Störung ist assoziiert
mit der Abhängigkeit von Nikotin. Schwere Nikotinabhängigkeit wird dabei als Ausdruck
der individuellen psychopathologischen Vulnerabilität erachtet [2].
So sehr es zu wünschen wäre, dass all diese Patienten auf das Rauchen verzichten könnten,
so halte ich dennoch die Forderungen für eine absolut rauchfreie Psychiatrie nicht
für sinnvoll, werden dabei doch wichtige Aspekte des Zusammenhanges zwischen Nikotinkonsum
und -entzug mit dem psychischen Befinden außer Acht gelassen. Folgende Argumente sprechen
gegen ein generelles Rauchverbot in der Psychiatrie:
-
Die erhöhte Prävalenz an Rauchern unter psychiatrisch Erkrankten und deren hohe Rückfallrate
nach Nikotinentzug ist kein Zufall. Neben der mangelnden sozialen Stimulierung, die
auch zum erhöhten Nikotinkonsum beitragen kann, gibt es biologische Faktoren, die
für die stärkere Abhängigkeit, den besonders belastenden Nikotinentzug und die selten
lang anhaltende Abstinenz bei Psychiatriepatienten relevant sind. Biologische Faktoren,
die eine Nikotinabhängigkeit begünstigen, sind bei der Schizophrenie gut untersucht
(zusammengefasst in [3]). Der cholinerge Nikotinrezeptor ist direkt involviert in die Pathophysiologie der
Erkrankung. Nikotinkonsum kann als eine Art „kurz anhaltende Selbstmedikation” verstanden
werden, um Störungen von Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit und Kognition -
also Basisdefizite dieser Erkrankung - zu verbessern. Nikotin hat auch einen neurobiologischen
Bezug zu anderen psychiatrischen Erkrankungen, z. B. setzen Patienten mit Depression
Nikotin zur Reduktion der Anhedonie ein [4].
-
Versuche einer rauchfreien Psychiatrie zeigen, dass die Patienten nach der Entlassung
aus der Institution nicht nikotinabstinent bleiben können. Psychiatrische Patienten,
die in einer rauchfreien psychiatrischen Klinik in Kalifornien hospitalisiert waren,
wurden nach Entlassung mittels Verlaufsuntersuchungen bezüglich ihrer Rauchgewohnheiten
untersucht: Nach drei Monaten hatten alle der 90 untersuchten Patienten wieder begonnen
zu rauchen, 76 % sogar schon am Tag nach der Entlassung, viele sogar schon innerhalb
von fünf Minuten nach ihrem Austritt aus der Klinik [5]. Dies zeigt, wie wenig nützlich ein generelles Rauchverbot in einer psychiatrischen
Klinik ist.
-
Rauchen verändert die Plasmaclearance einiger Psychopharmaka über eine durch den Zigarettenrauch
vermittelte Induktion der für den Abbau von Psychopharmaka relevanten Zytochrome P450 CYP1A2 und CYP2E1 und der Glukuronidierung (Pharmakokinetik). Außerdem kann die psychopharmakologische
Therapie aufgrund nikotinassoziierter pharmakodynamischer Prozesse verändert werden.
Daher können Veränderungen der Rauchgewohnheiten einen Einfluss auf die Medikamentenwirkungen
haben; der Einfluss des Rauchens wird insbesondere auf die Plasmakonzentrationen einiger
Antipsychotika wie Clozapin und Olanzapin, aber auch in geringerem Ausmaß bei Antidepressiva
wie Imipramin, Clomipramin, Fluvoxamin und Mirtazapin und verschiedenen Benzodiazepinen
beschrieben (zusammengefasst in [6]). So kann ein plötzlicher Nikotinentzug potenziell gefährlich sein, wenn der Spiegel
des Psychopharmakons deshalb in einen toxischen Bereich steigt [7]. Auch eine Veränderung in die andere Richtung, die Wiederaufnahme des Rauchens,
kann Folgen haben. Ein Beispiel: Ein in einer rauchfreien psychiatrischen Klinik mit
Clozapin eingestellter Schizophreniepatient beginnt nach der Entlassung zu Hause wieder
zu rauchen - wovon man aufgrund der extrem hohen Rückfallrate auszugehen hat [5] -, bei diesem kann es aufgrund der oben beschriebenen Interaktionen und der daraus
resultierenden Abnahme des Plasmaspiegels an Clozapin zu einer deutlichen Verminderung
der antipsychotischen Wirkung kommen. Deshalb wäre es für eine effiziente und nebenwirkungsarme
Einstellung der Pharmakotherapie sinnvoll, wenn Patienten keine größeren Veränderungen
der Rauchgewohnheiten während und nach dem Klinikaufenthalt hätten. Bei Veränderungen
der Rauchgewohnheiten muss die Psychopharmakotherapie sorgfältig monitorisiert werden.
-
Bis zu 30 % der Patienten kommen unfreiwillig in unsere psychiatrischen Kliniken.
Diese Menschen befinden sich meist in einer existenziellen Krise, sie erleben bei
ihrer Aufnahme oft bedrohliche psychotische Zustände oder quälende Suizidimpulse.
Der Eintritt in die meist geschlossenen Abteilungen unserer Kliniken ist für diese
Patienten ein großer Einschnitt in ihre persönliche Freiheit. Aufgabe der Klinik ist
es, die Grunderkrankungen zu behandeln und Einschränkungen der Autonomie nur dann
vorzunehmen, wenn sie relevant sind für eine effiziente Therapie oder wenn die Verhaltensweisen
unzumutbar für die Umwelt sind. Es erscheint ethisch und juristisch sehr fragwürdig,
ob die Persönlichkeitsrechte unter solchen ohnehin sehr schwierigen Umständen stärker
beschnitten werden dürfen, als unbedingt nötig.
Fazit
Ein erzwungenes Rauchverbot hat keinen nachhaltigen Nutzen für psychiatrische Patienten,
da die Rückfallrate sehr hoch ist. Erkenntnisse über die biologischen Zusammenhänge
zwischen der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen und dem Konsum von Nikotin
weisen zudem auf objektive und subjektive Effekte hin, die bei der individuellen Beurteilung
der Vor- und Nachteile eines ohnehin nur vorübergehenden vollständigen Nikotinentzugs
ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Schließlich können Veränderungen des Nikotinkonsums
zu gefährlichen Veränderungen der Serumspiegel von Psychopharmaka führen. Unter diesen
Voraussetzungen würde es sich bei einem generellen Rauchverbot in der Psychiatrie
um eine unzumutbare Einschränkung der Patientenautonomie handeln.
Diese Positionierung gegen ein generelles Rauchverbot schließt natürlich keineswegs
aus, psychiatrische Patienten zu motivieren und zu unterstützen, ihren Nikotinkonsum
zu reduzieren oder aufzugeben. In unserer eigenen Institution haben wir zudem sehr
gute Erfahrungen mit Rauchfreiheit in allen öffentlichen Zonen gemacht, was von Nichtrauchern
und Personal sehr geschätzt und selbst von den rauchenden Patienten praktisch ausnahmslos
akzeptiert und respektiert wird. Raucherentwöhnungen sollten nicht mit der Behandlung
einer akuten psychischen Erkrankung vermischt werden, sondern vor allem im ambulanten
Rahmen oder in Rehabilitationseinrichtungen bei motivierten Patienten in Phasen psychischer
Stabilität und - aufgrund der pharmakologischen Interaktionen - unter ärztlicher Überwachung
durchgeführt werden.
Kontra
Die Prävalenz des Rauchens ist bei Personen mit psychiatrischen Erkrankungen höher
als in der psychisch gesunden Bevölkerung. Dies trifft insbesondere auf Patienten
mit einer schizophrenen Psychose, mit einer Abhängigkeit von Alkohol oder illegalen
Drogen sowie mit affektiven Störungen zu. Die Ursachen für die hohen Raucherprävalenzen,
aber auch den überdurchschnittlich hohen Tageszigarettenkonsum und die geringen Abstinenzquoten
bei Aufhörversuchen liegen dabei z. T. in störungsspezifischen Bedingungen: die antidepressive
Wirkung des Nikotins und vermutlich auch weiterer Komponenten des Tabakrauchs, die
synergistische Stimulation des „Belohnungszentrums” (Ncl. accumbens) durch Nikotin
und Alkohol bzw. illegale Drogen und die positiven Wirkungen des Rauchens auf die
kognitiven Funktionen sowie manche neuroleptikainduzierten Nebenwirkungen bei Patienten
mit einer Schizophrenie sind nur einige Beispiele für neurobiologische Befunde, die
den Zusammenhang des Rauchens mit psychiatrischen Erkrankungen erklären helfen [8]
[9]. Daneben sind aber auch soziale Bedingungen und letztlich auch die permissive Umgebung
für die hohen Konsumraten verantwortlich zu machen. So wird das Rauchen oft auch als
ein Ausdruck der Lebensqualität angesehen [10]. Behandler in psychiatrischen Einrichtungen halten eine Intervention nicht selten
für aussichtslos oder angesichts der akuten psychischen Problematik für nachrangig.
In den letzten Jahren hat ein Umdenken eingesetzt: die Belege für die tabakrauchbedingte
gesundheitliche Gefährdung der psychiatrischen Patienten sind eindeutig [11] und unterstützen die Forderungen, auch dieser Zielgruppe Tabakentwöhnungen anzubieten
[12]. Einige Studien konnten zeigen, dass die Bereitschaft zur Abstinenz groß ist und
Entwöhnungsangebote durchaus erfolgreich sein können [13]. Im Ausland liegen bereits Erfahrungen mit der Einführung rauchfreier psychiatrischer
Kliniken vor: Erste versuchsweise Rauchverbote in US-amerikanischen psychiatrischen
Krankenhäusern werden in der Literatur positiv bewertet - das Rauchverbot unmittelbar
nach stationärer Aufnahme führte wider Erwarten nicht zu einer signifikanten Verschlechterung
der psychiatrischen Symptomatik, auch wenn ein Nikotinentzug auftrat [14]. Hempel et al. [15] beschreiben die Effekte eines Rauchverbotes, das 1998 in einer geschlossenen forensischen
Einrichtung ausgesprochen wurde: Überraschenderweise tolerierten nicht nur Patienten
(und Personal) das Rauchverbot, es kam in der Folge sogar zu einer Reduktion gewaltsamen
Verhaltens in der Einrichtung. Mittlerweile liegen mehr als 26 Studien zum Effekt
eines Rauchverbotes in psychiatrischen Kliniken auf die Psychopathologie, Behandlungscompliance
und die langfristige Tabakabstinenz vor [16]. Die im Vorfeld geäußerten Befürchtungen des Personals hinsichtlich einer Eskalation
von Gewalt und Unruhe traten nicht ein.
Im Zuge der allgemeinen Bestrebungen, einen wirksamen Gesundheitsschutz vor Tabakrauch
zu schaffen, beschloss die deutsche Regierung, dem Beispiel anderer Länder folgend,
ein Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen, in Verkehrsmitteln, in der Gastronomie
sowie in Schulen und in Krankenhäusern. Das Rauchverbot in Krankenhäusern könnte dabei
nicht nur Patienten und Mitarbeiter vor der Tabakrauchexposition schützen, sondern
zugleich die zahlreichen professionellen Multiplikatoren animieren, Rauchern Angebote
zum Ausstieg zu vermitteln [17].
In Deutschland tun wir uns offenbar schwer mit der radikalen Umsetzung eines totalen
Rauchverbotes: insbesondere mit Hinweis auf die Freiheit des Einzelnen wird für Patienten,
die in einer akuten psychischen Krise - häufig gegen ihren Willen - in einer psychiatrischen
Klinik untergebracht sind, eine Ausnahmeregelung gefordert. Dies hat Auswirkungen
auf die Gestaltung der derzeit auf Länderebene verabschiedeten „Nichtraucherschutzgesetze”,
die einerseits ein Rauchverbot in Krankenhäusern, andererseits Ausnahmen für psychiatrische
Kliniken vorsehen. Im baden-württembergischen Landesnichtraucherschutzgesetz ist folgende
weitreichende Ausnahme verankert (§ 6 Abs. 2): „Abweichend … können in Krankenhäusern
Ausnahmen für solche Patientinnen und Patienten zugelassen werden, die … sich zu einer
psychiatrischen Behandlung oder aufgrund einer gerichtlich angeordneten Unterbringung
in einer geschlossenen Abteilung des Krankenhauses aufhalten oder bei denen die Untersagung
des Rauchens dem Therapieziel entgegensteht. Die Entscheidung, ob im Einzelfall das
Rauchen erlaubt werden soll, trifft die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt.”
Trotz mancher Vorbehalte wurde in Tübingen im Jahr 2001 der Versuch unternommen, die
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie „rauchfrei” zu machen. Geraucht
wurde bis dahin in fast allen Bereichen der Klinik. Eine Arbeitsgruppe von rauchenden
und nicht rauchenden Mitarbeitern der Verwaltung, des Pflegedienstes und des Ärztlichen
Dienst sowie Personalratsangehörigen initiierte einen demokratischen Prozess zur Änderung
der „Rauchkultur” in der Klinik. Über 300 Mitarbeiter des Hauses wurden zur Notwendigkeit
und Akzeptanz von Rauchregulationen in der Klinik befragt. Fast alle Nichtraucher
(94,7 %) und die Mehrheit der Raucher (73,5 %) sprachen sich für Rauchregulationen
und die Einrichtung eines Raucherbereiches im Garten der Klinik aus. Daraufhin wurde
ein generelles Rauchverbot im Gebäude verfügt - Ausnahmen blieben die Raucherzimmer
auf den beschützenden Stationen. In die Betriebsvereinbarung wurden dafür Therapieangebote
zur Tabakentwöhnung für Mitarbeiter und Patienten aufgenommen. Rauchende Patienten
erhalten auf Wunsch eine temporäre Nikotinsubstitution und können nach Abklingen der
akuten Symptomatik und noch während ihres stationären Aufenthaltes kostenfrei an einem
Tabakentwöhnungskurs teilnehmen. Den Mitarbeitern stehen Angebote zur Teilnahme an
Tabakentwöhnungskursen während ihrer Dienstzeit offen. Die medikamentöse Unterstützung
wird ebenfalls subventioniert. Die Dienstvereinbarung wurde sowohl von Rauchern (58
%) als auch Nichtrauchern (82,2 %) positiv bewertetet.
Nach erfolgreicher Umsetzung der „Rauchfreien Psychiatrie” (mit wenigen ausgewiesenen
Raucherbereichen als Ausnahmeregelung und Angeboten zur Beratung und therapeutischen
Unterstützung) wurde der Klinik im Jahr 2005 das Silberzertifikat des „Deutschen Netzes
Rauchfreier Krankenhäuser” verliehen.
Faktoren, die den Erfolg der Maßnahme bestimmt haben könnten, könnten die Einbeziehung
aller Berufsgruppen, die Transparenz bezüglich der einzelnen Umsetzungsschritte und
die Verbindung des Rauchverbotes mit therapeutischen Angeboten für Mitarbeiter und
Patienten sein.
Obgleich das Rauchen bei Patienten mit psychischen Störungen u. a. auch die Funktion
einer „Selbstmedikation” übernimmt, scheint ein weitgehendes Rauchverbot in einer
psychiatrischen Klinik realisierbar. Internationale Erfahrungen (und der eigene Versuch,
eine vertretbare Lösung - eine „rauchfreie Klinik” mit möglichst wenig definierten
Ausnahmen - zu finden), zeigen deutlich, dass heute möglich ist, was lange als unvorstellbar
galt.
Wichtig für eine erfolgreiche Umsetzung des Rauchverbotes in einer Klinik ist der
Grundsatz: Ein Rauchverbot dient dem Nichtraucherschutz, nicht der Benachteiligung
der Raucher. Daneben besteht die Hoffnung, die Selbstverständlichkeit des Rauchens
infrage stellen und ein klares Signal bezüglich der Unvereinbarkeit des Rauchens mit
einer gesunden Lebensführung setzen zu können.