Aktuelle Dermatologie 2008; 34(1/02): 26-28
DOI: 10.1055/s-2007-995461
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pfeilschwanzkrebs-Onychodystrophie

Horseshoe Crab-Like OnychodystrophiaL.  Kowalzick1 , B.  Schell1 , L.  Eickenscheidt1 , H.  Ziegler1
  • 1Klinik für Hautkrankheiten und Allergologie, (Chefarzt: Prof. Dr. med. habil. L. Kowalzick) HELIOS Vogtland-Klinikum Plauen GmbH, (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. habil. L. Kowalzick)
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Prof. Dr. med. habil. Lutz Kowalzick

Klinik für Hautkrankheiten und Allergologie

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08505 Plauen

Email: lutz.kowalzick@helios-kliniken.de

Publication History

Publication Date:
10 March 2008 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Wir berichten über eine morphologisch ungewöhnliche, symmetrische, isolierte Onychodystrophie beider Großzehennägel bei einer 16-jährigen Patientin. Die Nagelformveränderung erinnert stark an die Form von Pfeilschwanzkrebsen (Limulidae). Daneben bestand eine Auftreibung der Großzehenendglieder und eine geringe Paronychie. Mykologisch fand sich eine massive Besiedelung mit Candida parapsilosis. Orthopädisch bestand ein angeborener beidseitiger Hallux valgus interphalangeus. Es könnte ein besonderer Fall der Großzehennageldystrophie der Kindheit (angeborener Großzehennägelschiefstand) vorliegen. Es kann angenommen werden, dass dies stets mit einem Hallux valgus interphalangeus assoziiert ist.

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Abstract

We report on a clinically unusual symmetric, isolated onychodystrophia of both first toes in a 16-year old girl. The change in the shape of the nails strongly resembled that of horseshoe crabs (Limulidae). Additionally, a swelling of the end phalange, and a mild paronychia were present. Mycological culture revealed masses of Candida parapsilosis. X-ray examination disclosed a congenital symmetrical Hallux valgus interphalangeus. A special case of congenital malalignment of the toenail (big toenail dystrophy) might be assumed. It could be speculated that this condition is always accompanied by Hallux valgus interphalangeus.

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Einleitung

Nagelwachstumsstörungen können verschiedene Ursachen haben. Wir berichten hier über einen morphologisch ungewöhnlichen Fall einer erworbenen symmetrischen isolierten Onychodystrophie beider Großzehennägel bei einer adoleszenten Patientin und diskutieren die möglichen Pathomechanismen.

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Kasuistik

Eine 16-jährige Patientin wurde vorgestellt mit einer im Wesentlichen symptomlosen, symmetrischen Onychodystrophie beider Großzehennägel. Diese hätte zwei bis drei Jahre zuvor von der Nagelmatrix her begonnen. Schwerwiegende sonstige Erkrankungen traten weder in diesem Zeitraum noch zuvor auf. Lokale Traumata oder besondere mechanische Belastungen, z. B. durch Sport oder enges Schuhwerk, wurden ausdrücklich negiert. In der Familie der Patienten seien gleichartige oder sonstige Nagelwachstumsstörungen oder andere Erbkrankheiten unbekannt. Wiederholte mykologische Präparate von Nagelmaterial seien negativ gewesen. Außer einmaliger podologischer Behandlung i. S. eines Abschleifens der Nägel durch die Fußpflegerin sei bisher keine Therapie erfolgt. Außer der kosmetischen Beeinträchtigung und allenfalls gelegentlichen und geringen Beschwerden durch Druck wurden subjektiv keine Symptome angegeben.

Klinisch fanden sich beide Großzehennägel vollkommen symmetrisch in der Weise dystroph verdickt, dass jeweils 3 konvexe, an den Nagelseiten sichelförmig nach hinten gebogene, am jeweiligen Hinterrand konkav ausgehöhlte, wie abortive Nägel wirkende, „Glieder” mit einer festen Platte mit dem folgenden konkaven Anteil verbunden waren. Die proximale verdickte Platte schob sich beidseits unter den Nagelfalz ([Abb. 1 a, b]). Insgesamt erinnerte die Nagelform stark an jeweils drei aufeinandergeschobene Rückenpanzer von Pfeilschwanzkrebsen ([Abb. 2 a - c]). Die Nagelwälle und Nagelfälze fanden sich im Sinne einer Paronychie verdickt und beidseits gering gerötet, die Nagelhäutchen fehlten beidseits völlig. Die Nagelfarbe war homogen milchig-hellgelb, nur linksseitig am freien Nagelrand etwas grünlich-bräunlich tingiert. Die Großzehenendglieder fanden sich beidseits insgesamt deutlich geschwollen und ihre Achse etwas nach lateral verschoben ([Abb. 1 a, b]). Nennenswerter Druckschmerz im Bereich der Großzehennägel und -endglieder wurde nicht angegeben.

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Abb. 1 a, b Symmetrische beidseitige isolierte Dystrophie der Großzehen bei einer 16-jährigen Patientin mit begleitender Paronychie und ungewöhnlicher Morphologie, die an drei hintereinander angeordnete Rückenpanzer von Pfeilschwanzkrebsen erinnert. Aufsicht von oben (a) und von proximal (b).

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Abb. 2 a - c Unter- (a) und Oberseite (b) des heutigen Pfeilschwanzkrebses Limulus sowie versteinertes Exemplar einer verwandten Art (Mesolimulus walchi) aus den Solnhofer Plattenkalken (150 Millionen Jahre alt; Foto: Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie, München) (c).

Das knöcherne Röntgen der Großzehen in 2 Ebenen zeigte eine weitestgehend regelrechte Darstellung der knöchernen Strukturen ohne Nachweis knöcherner Erosionen, Exostosen oder Fremdkörper, die stark verdickten Nägel waren auch im Röntgen zum Teil nachweisbar. Allerdings fand sich ein beidseitiger Hallux valgus interphalangeus ([Abb. 3]), sodass orthopädischerseits eine Hypertrophie des dorsolateralen Anteils der Strecksehne der Großzehe nicht ausgeschlossen werden konnte. Bei dieser angeborenen Zehenfehlstellung weicht die Achse des proximalen Großzehengrundglied-Gelenks nach lateral von der des distalen Gelenks zum Endglied ab.

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Abb. 3 Frontal-Röntgenaufnahme der Großzehen bds.: Hallux valgus interphalangeus beidseits, d. h. Abweichen der Endglieder nach lateral. Keine Exostosen. Die Nageldystrophie ist schwach erkennbar.

Aus dem Bereich des Nagelfalzes wurden nach „Massieren” ein mykologisches und ein bakteriologisches Abstrichpräparat entnommen. In der mykologischen Kultur ließ sich massenhaft die pathogene Hefe Candida parapsilosis nachweisen. In der bakteriologischen Kultur ließen sich jeweils reichlich Staphylococcus haemolyticu und warneri nachweisen.

Wir empfahlen eine systemische Therapie mit Fluconazol (Diflucan derm®) 2 × 50 mg/die über 3 Wochen und anschließender Fortsetzung mit 1 × 150 mg/wöchentlich für 9 Monate. Lokal empfahlen wir die zusätzliche topische Anwendung von Amorolfin- (Loceryl®) Nagellack 1 - 2 × wöchentlich.

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Diskussion

Die isolierten symmetrischen Nagelverformungen beider Großzehen unseres Falles erinnern an jeweils drei nacheinander angeordnete zweiteilige Rückenpanzer von Pfeilschwanzkrebsen.

Der Pfeilschwanzkrebs (syn. Hufeisenkrebs, Königskrabbe oder Seemaulwurf, lat. Limulus polyphemus [= kleiner schielender Cyclop], engl. [American] horseshoe crab) zählt zu den sogenannten lebenden Fossilien. Bereits vor 150 Millionen Jahren lebteb im Oberjura fossile Arten von Limulus, die gegenüber den heute lebenden Arten nur geringe morphologische Unterschiede aufweisen. Vorgängerformen der Familie der Limulacea reichen bis ins Perm (vor 390 Millionen Jahren) zurück.

Neben der Gattung Polyphemus, die an der nordamerikanischen Atlantik-Küste von Maine bis Yucatan vorkommt, gibt es an den Küsten Südostasiens auch die Gattungen Trachypleus (2 Arten) und Carcinoscorpinus (Molukkenkrebse). Die vordere gewölbte Rückenpanzerplatte, die als Prosoma bezeichnet wird, und die hintere Opisthosoma erinnern an die beiden morphologischen Komponenten der pathogischen Nagelform unseres Falls. Den Abschluss bildet der Schwanzstachel (Telson). Unter der konkaven Panzerinnenseite befinden sich Scheren, Beinpaare, Kiemen und innere Organe. Während die fossilen Arten nur wenige cm Länge erreichten, messen heutige Tiere bis zu 60 cm. Die Tiere legen mehrere hundert Eier, aus denen sich in 9 bis 12 Jahren geschlechtsreife Tiere entwickeln. Hauptnahrung sind Muscheln und kleine Fische, natürliche Feinde sind Schildkröten, Seevögel und Haie [3] [7] [8] [9] [11]. Medizinische Bedeutung erlangten die Tiere durch den Limulus-Amoebozyten-Lysat-Test zum In-vitro-Nachweis von Endotoxinen und Pyrogenen sowie als elektrophysiologisches Modell für menschliche Sehvorgänge und Augenerkrankungen (K. Hartline, Nobelpreis für Medizin 1967) [8]. Die archaisch-exotische Form der Tiere ist auch Gegenstand der Kunst ([Abb. 4 a, b]).

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Abb. 4 a, b Darstellung von Pfeilschwanzkrebsen in der Kunst: Aus dem Zyklus „MIKROmakro” von Jens Harder, Berlin, e. o. plauen Förderpreisträger 2007.

Was die morphologisch ungewöhnliche Nageldystrophie unseres Falles angeht, so ist die massive Besiedelung mit Candida parapsilosis mögliche primäre Ursache oder nur sekundär bei vorbestehender Nagelerkrankung mit möglicherweise genetischer Ursache. Gegen die erste Annahme könnte die anamnestische Angabe sprechen, dass die Nagelveränderungen nicht am freien Nagelrand, sondern am Nagelfalz begannen, wobei andererseits eine Candida-Paronychie das primäre Ereignis gewesen sein könnte.

Neben der Verdickung, Verfärbung, Glanzlosigkeit und Verformung der Nagels fallen die nach proximal gebogen verlaufenden Querfurchen auf. Diese könnten als Beau'sche Linien oder Mees'sche Querbänder nach wiederholten, vorübergehenden Schädigungen der Matrixzellen aufgefasst werden. Gegen eine solche Annahme würde sprechen, dass nur isoliert die Großzehennägel betroffen waren, und dass anamnestisch keinerlei Angaben zu schweren Infekten, Systemerkrankungen, Medikamenten oder Intoxikationen zu erheben waren.

Isolierte, genetisch bedingte Deformationen der Großzehennägel wurden gelegentlich beschrieben. Bei der Großzehennägeldystrophie der Kindheit (angeborener Großzehennagelschiefstand) [1] [4] [10] besteht eine opaque gelblich-grünliche Verfärbung, Verdickung, vermehrte Wölbung der Nägel mit austernschalenartigen Querrillen, Verschmälerung nach distal und Schiefstand der Nagelachse nach lateral. Diese Nagelwachstumsstörung wird verursacht durch eine autosomal-dominant vererbte Hypertrophie des dorsolateralen Anteils der Streckersehne des Hallux mit Zug der lateralen Nagelmatrix nach proximal. Wenn auch die meisten dieser morphologischen Veränderungen auch in unserem Fall zutreffen könnten, fehlt jedoch eine positive Familienanamnese, und die Erkrankung trat nicht - wie bei dieser Entität zu erwarten - bereits kurz nach der Geburt, sondern erst im 13. Lebensjahr auf, in einem Alter, in dem häufig bei der Großzehennageldystrophie der Kindheit bereits eine Spontanheilung zu beobachten ist [5] [6]. Spontan auftretende Fälle ohne positive Familienanamnese wurden jedoch berichtet [10] [12]. In unserem Fall konnte orthopädischerseits ein angeborener beidseitiger Hallux valgus interphalangeus bestätigt werden, sodass eine Hypertrophie des dorsolateralen Anteils der Strecksehne der Großzehe nicht ausgeschlossen werden kann. Wir sind nach Ansicht der publizierten Fälle der Auffassung, dass der angeborene Großzehennagelschiefstand stets mit einer Fehlstellung auch der Großzehenendglieder nach lateral, im Sinne eines Hallux valgus interphalangeus, einhergeht. Zusammenfassend würden wir unseren Fall einer erst später im Leben manifestierten, möglicherweise als Spontanmutation aufgetretenen, genetisch bedingten Großzehennageldystrophie der (hier späteren) Kindheit mit sekundärer, durch Candida parapsilosis bedingter, Paronychie zuordnen wollen.

Es bleibt daher abzuwarten, ob die von uns empfohlene lokale und systemische antimykotische Therapie einen Effekt nicht nur auf die Paronychie, sondern auch auf die Onychodystrophie haben wird. Für die von anderen Autoren empfohlene operative Therapie durch Rotation der Nageleinheit nach medial [2] oder eine Verlängerung der Sehne würden wir angesichts des geringen funktionellen Leidensdrucks und der Möglichkeit der Spontanremission zur Zeit keine Indikation sehen. Therapieversuche mit intraläsional injiziertem Triamcinolon brachten in anderen Händen keinen Therapieerfolg [12].

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Danksagung

Wir danken der Hautarzt-Praxis Dres. med. Ott und Kluge, Rehau, für die Zuweisung der Patientin und Herrn Priv.-Doz. Dr. med. Efstathios Savvidis, Aachen, für die orthopädische Interpretation und Erläuterung der Röntgenbilder.

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Literatur

Prof. Dr. med. habil. Lutz Kowalzick

Klinik für Hautkrankheiten und Allergologie

HELIOS Vogtland-Klinikum Plauen GmbH

Postfach 100153

08505 Plauen

Email: lutz.kowalzick@helios-kliniken.de

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Literatur

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Abb. 1 a, b Symmetrische beidseitige isolierte Dystrophie der Großzehen bei einer 16-jährigen Patientin mit begleitender Paronychie und ungewöhnlicher Morphologie, die an drei hintereinander angeordnete Rückenpanzer von Pfeilschwanzkrebsen erinnert. Aufsicht von oben (a) und von proximal (b).

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Abb. 2 a - c Unter- (a) und Oberseite (b) des heutigen Pfeilschwanzkrebses Limulus sowie versteinertes Exemplar einer verwandten Art (Mesolimulus walchi) aus den Solnhofer Plattenkalken (150 Millionen Jahre alt; Foto: Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie, München) (c).

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Abb. 3 Frontal-Röntgenaufnahme der Großzehen bds.: Hallux valgus interphalangeus beidseits, d. h. Abweichen der Endglieder nach lateral. Keine Exostosen. Die Nageldystrophie ist schwach erkennbar.

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Abb. 4 a, b Darstellung von Pfeilschwanzkrebsen in der Kunst: Aus dem Zyklus „MIKROmakro” von Jens Harder, Berlin, e. o. plauen Förderpreisträger 2007.