Balint Journal 2008; 9(2): 68
DOI: 10.1055/s-2008-1004700
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leserbrief zu W. Schüffel, S. Stunder: Verändert sich die Arzt-Patient Beziehung beim Hausbesuch? - Das Element der Zeitlichkeit: Brägele und Maultaschen. S. Scheerer Balint 2007; 8: 44-53

B. Maoz
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Publication Date:
20 June 2008 (online)

Ich fand den Artikel von Schüffel und Stunder gut und wichtig, aber zu schwierig zu lesen. Vielleicht kommt das dadurch, dass ein „Besuchsarzt” bei den Hausbesuchen Gast war, und diese aus seiner Ecke observiert und beschrieben hat. Dieser „Besuchsarzt” (Wolfram Schüffel) hat, soweit ich weiß, immer in der Klinik gearbeitet und war darum von den Hausbesuchen fasziniert. Er beschreibt auf künstlerische Weise aus einer philosophischen Perspektive ein sehr praktisches Geschehen.

Früher waren ja Hausbesuche ein großer und wichtiger Teil der hausärztlichen Praxis. Heutzutage werden, in Israel und ich denke auch in Deutschland, immer weniger Hausbesuche gemacht. Sie kosten viel Zeit und werden in unserem System schlecht bezahlt; Kollegen haben manchmal den Eindruck, dass der Hausbesuch nicht nötig und überflüssig war und dass man sie manipuliert hat. Der Hausbesuch findet auf dem Territorium des Patienten statt, und manche Ärzte fühlen sich nur in ihrem eigenen Territorium gut und sicher. Ich kenne das Problem gut aus unseren Balint-Gruppen.

Auf der anderen Seite wurde die Arbeit des Dorfarztes in einer Zahl von Romanen und Novellen beschrieben, das Fahren durch die oft so schöne Dorfslandschaft, (die Gedanken beim Fahren) die Erlebnisse in den Häusern und Wohnungen inklusive Gerüche und Essen. Durch diese Beschreibungen, die wir ja auch in dem Artikel von Schüffel und Stunder lesen, kann man etwas übermitteln, das beim Vermelden von trockenen wissenschaftlichen Daten nicht „herüber kommt” und verloren geht.

Bei einem Hausbesuch kann man besonders viel, konzentriert lernen: Über die Atmosphäre im Haus und in der Gegend, die Beziehungen in der Familie, die Einteilung der Zimmer und der Betten, den Stiel der Einrichtung, eventuell die Bücher im Bücherschrank, etc. Man sieht sehr schnell ob der Haushalt gepflegt oder vernachlässigt ist, ob der Kühlschrank gefüllt ist, etc.

Bei Besuchen des Patienten in der Praxis, die nach einem Hausbesuch stattfinden, sieht der Hausarzt seinen Patienten in einem ganz anderen, neuen Licht; er kennt jetzt die tägliche Umgebung, in der der Patient lebt. Das ist ein besonderes Privilegium des Hausarztes, das beinah kein in der Klinik arbeitender Facharzt hat.

Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass die Familientherapie, früher oft mit einem Hausbesuch angefangen hat, indem man sich mit der ganzen Familie in einem Wohnzimmer traf, (z. B. gegen Abend, wenn alle zu Hause sind). Es ist legitim, dass man bei solchen Besuchen etwas zum Essen angeboten bekommt.

Illustration: Ein Kollege erzählte in unserer letzten Balint-Gruppe, dass er von einer Familie, mit der er eine sehr gute und langlaufende Beziehung hat, plötzlich abends um 23.00 Uhr gerufen wurde. „Die Mutter kann nicht mehr atmen” sagten die Kinder am Telefon; sie wollte nicht in die Aufnahme fahren, nur der Hausarzt müsse sie (bei einem dringenden Hausbesuch) untersuchen. Wie unser Kollege eintraf, fand er die Patientin in einem schlechten Zustand und wollte sie gleich hospitalisieren, aber die Patientin weigerte sich. Schließlich sagte sie zu ihm: „nur wenn sie jetzt hier eine von den von mir zubereiteten Maultaschen essen, werde ich ins Krankenhaus gehen”. Der Arzt stimmte zu, und wie die Ambulanz kam, wunderten sich die Krankenwärter, dass der Doktor am Tisch saß und Maultaschen aß.

Leider sind durch die neuen administrativen-ökonomischen strengen Kontrollen Hausbesuche kaum noch möglich. Die Hausärzte leben oft unter solch einem Zeitdruck, dass sie von der inhaltsreichen und erlebnisreichen Zeit des Hausbesuches nicht mehr profitieren können. Leider müssen sie oft auf diese wichtige und bereichernde Resource für das Verstehen des Patienten und der guten Arzt-Patient-Beziehung verzichten.

B. Maoz, Even Yehuda (Israel)

Prof. Dr. B. Maoz

16, Haela Str.

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Even Yehuda 40500

Israel

Email: bmaoz@zahav.net.il

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