Pro
Chronisch ist retrospektiv lang dauernd und prospektiv unveränderbar
Nils Greve zitiert Bruno Hildenbrand [1] und erfasst damit einen Gutteil dessen, was die Sorgen darum ausmacht, ob das Modell
der chronischen Erkrankung geeignet ist, Hilfe- und Selbsthilfeanstrengungen optimal
zu nutzen.
Leider wird Chronizität häufig so interpretiert, als würde es bedeuten auf ewig schicksalhaft
einer Erkrankung und ihren unausweichlichen Folgen ausgeliefert zu sein. Ein Kreislauf
aus Hoffnungs- und Tatenlosigkeit kann zu Schwächungen führen und Verschlechterungen
im Gesundheitszustand nach sich ziehen bzw. zum Erhalt von Symptomen und Behinderungen
beitragen. Der aus einer solchen Interpretation resultierende Mangel an Zuversicht
in therapeutische Angebote kann rechtzeitige und nachhaltige Hilfesuche untergraben
und die Idee der Gesundheit sowohl als Ziel als auch als Ressource in den Hintergrund
drängen. Solche gesundheitsstörenden Missverständnisse entfalten ihre ungünstigen
Wirkungen unabhängig davon, dass aus klinischer Sicht Chronizität einer Störung oder
einer Vulnerabilität per se keineswegs im Widerspruch zu einem hohen Maß an Gesundheit
und zu Chancen auf Genesung steht.
Wie ein „Code der Chronizität” das Leben in einer psychiatrischen Einrichtung prägen
und Anstrengungen in Richtung Besserung untergraben kann, beschrieben 1966 Ludwig
und Farrelly [2] für eine Institution, in der PatientInnen genauso wie professionelle HelferInnen
einem solchen Code unterliegen: Der therapeutische Eifer erlahmt. Vorherrschend ist
der Wunsch nach Ordnung und das Abwehren von Veränderungen. Oberflächliche Compliance
führt zu einem reduzierten Leben in einem geschützten Rahmen mit einem Minimum an
Beanspruchung, Verantwortung und Risiko und einem Maximum an Ruhe und Vorhersehbarkeit.
Das Erkennen der negativen Folgen eines solchen Institutionalismus trug dazu bei,
dass es heute zumindest in der westlichen Welt keine derartigen Großinstitutionen
mehr gibt. Ob und in welchem Ausmaß Phänomene des Institutionalismus mit der Psychiatriereform
in die gemeindenahe Psychiatrie mitgegangen sind, ist eine wichtige Frage. Vieles
deutet darauf hin, dass auch in ambulanten Einrichtungen oder kleinen Institutionen
ähnliche Phänomene auftreten können.
Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen (Karl Valentin;
Nils Bohr)
Der Verlauf der meisten psychischen Störungen ist variabel. Remissionen sind möglich,
genauso wie Rückfalle und Langzeitbehinderungen. Die wissenschaftliche Forschung kämpft
mit Fragen der Definition von Verläufen und methodischen Problemen in Langzeitstudien.
Die klinische Nützlichkeit von prognostischen Indikatoren für individuelle PatientInnen
ist begrenzt. Aus Angst vor enttäuschten Hoffnungen die Prognose eher negativ zu halten,
ist keine seriöse Lösung dieser Probleme.
Argumente für die kürzlich prominent vorgeschlagenen Remissionskriterien für Schizophrenie
beinhalten nicht nur Daten, die der Annahme eines notwendigerweise chronischen Verlaufs
widersprechen, sondern berufen sich auch auf gute Erfahrungen mit der Einführung von
Remissionskriterien für affektive und Angststörungen und stellen eine Erhöhung der
Erwartungen sowie eine Intensivierung der therapeutischen Anstrengungen in Aussicht
[3]. Das ist sicherlich notwendig, wenn man bedenkt, dass nur ein kleiner Teil aller
PatientInnen tatsächlich Zugang zu allen Interventionen haben, von denen wissenschaftlich
erwiesen ist, dass sie wirksam sind, und viele darunter leiden, dass sie zu wenig
Unterstützung für individuelle Behandlungsentscheidungen erhalten, sodass ein nicht
geringer Teil ihrer Anstrengungen zur Überwindung der Störung und in Richtung Gesundheit
außerhalb der therapeutischen Beziehung stattfindet.
Aus der Recovery-Forschung wissen wir auch, dass Hoffnung eine wesentliche Voraussetzung
für Veränderungen in Richtung Gesundheit ist [4]. In Zeiten, in denen unser Wissen um Resilienzentwicklungen auch im Erwachsenenleben
stark zunimmt und in denen die Erkenntnisse der Gesundheitsförderung sowie die Expertise
für primäre, aber vor allem sekundäre und tertiäre Prävention immer wichtiger werden,
sollte demoralisierender Pessimismus von rationalem Optimismus [5] abgelöst werden: Integrative multidimensionale Konzepte psychiatrischer Behandlung
sollten ihre Basis finden in einer positiven Haltung und in einer Reduktion der vorherrschenden
Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Gesundung [6].
Eine Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung hindert einen nicht daran, Resilienz
zu entwickeln. Wenn man sich jedoch zu vollständig mit der Krankheit und deren implizierten
Beschränkungen identifiziert, kann dies einen davon abhalten, den negativen Erfahrungen
und Gefühlen sinnvolle eigene Reaktionen und Antworten entgegenzusetzen [7]
Die Erfahrungen von Menschen, die selbst „in Recovery” leben, haben für die Identifizierung
von Genesungspotenzial und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Eigeninitiative
auch in Menschen, die sich in als aussichtslos erscheinenden Situationen befinden,
große Bedeutung [8]. Sie können dem „bias” der KlinikerInnen, die in ihrer Einschätzung auf klinische
Erfahrungen mit Risiken, Krisen und Krankheit begrenzt sind, ihre Erfahrungen mit
erfolgreichen Aufbrüchen aus solchen Situationen entgegensetzen ohne die Mühen einer
über lange Zeit bestehenden Leidenssituation zu unterschätzen. Ihr Blick für zu stärkende
Tendenzen zur Gesundheit auch in Phasen der Demoralisierung kann als peer support
für Betroffene aber auch als Input in Betreuungsteams die Dynamik von Enttäuschung
und Resignation verändern. Recovery-orientierte Einrichtungen arbeiten daher mit Betroffenen
mit Recovery-Erfahrung zusammen, eine Entwicklung, die von vielen professionellen
HelferInnen optimistisch eingeschätzt wird und im Kampf gegen Stigma und Diskriminierung
eine entscheidende Rolle spielen könnte [9].
Die Begriffe „Schizophrenie” und „chronische Erkrankung” sind vom Mythos der Unheilbarkeit
umgeben – unabhängig davon, was ihre medizinische Bedeutung ist. „Schizophrenie” wird
es möglicherweise als diagnostischen Begriff bald nicht mehr geben. In Großbritannien
gibt es derzeit eine kritische Diskussion um das medizinische Modell der „chronischen
Erkrankung”, das neben Diabetes und Herzerkrankungen auch Depression und Angststörungen
zusammenfasst und das durch ein „kollaboratives Recovery-Modell” für psychische Störungen
ersetzt werden könnte [10].
Selbstbestimmung und Wahlfreiheit im Hinblick auf Behandlungsangebote, Orientierung
an individuellen Lebenszielen und Ressourcen ebenso wie Hoffnung, Gesundheits- und
Resilienzförderung sind wesentliche Kriterien recovery-orientierter Praxis. Das Recovery-Modell
und seine Expertise für den persönlichen und gesellschaftlichen Kontext von Störung,
Behinderung und Genesung könnte besser geeignet sein als das Modell der „chronischen
Krankheit”, um die Anstrengungen von PatientInnen, ihren Familien und Freunden sowie
der unterschiedlichen Gruppen professioneller HelferInnen optimal zu bündeln.
Kontra
Die Behandlungsstrategien in der Psychiatrie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten
dramatisch gewandelt und mit ihnen die Philosophie psychiatrischer Rahmenkonzepte.
Präventive und multidisziplinäre Behandlungsmodelle gehören nun weitenteils zum Standard.
Seit einiger Zeit werden nun auch vermehrt recovery-orientierte Behandlungsmodelle
vorgestellt, als Gegengewicht oder gar zur Ablösung der Vorstellung von Chronizität
beispielsweise schizophrener Erkrankungen. Recovery-orientierte Behandlungsmodelle
sind hierbei auf die Wiederherstellung von „Normalität” ausgerichtet. Die Schizophrenie
wird in diesem Kontext als lediglich temporäre Phase im Leben eines Erkrankten angesehen,
die durch entsprechende Unterstützungs- und Behandlungsangebote überwunden werden
kann und nach welcher der Betroffene dann wieder ein „normales” Leben wie vor seiner
Erkrankung führen kann. Im Unterschied zum Chronizitätskonzept, das bei der Schizophrenie
von einer in den meisten Fällen lebenslangen, chronischen Erkrankung ausgeht, bietet
die Idee von Recovery mehr Raum für Optimismus und Hoffnung, was zunächst als durchaus
positiv zu bewerten ist. Hoffnung zu vermitteln ist eine basale Aufgabe ärztlichen
und psychiatrischen Handelns. Die vermittelte Hoffnung sollte jedoch auf realistischen
Grundannahmen beruhen, da sie sonst schnell enttäuscht und in therapeutisch kontraproduktive
Entwicklungen umschlagen kann. Die Befürworter recovery-orientierter Ansätze vermitteln,
dass Ziele der Behandlung die stabile Remission der Symptomatik, ein unabhängiges
Leben, die Rückkehr in den Arbeitsprozess und stabile partnerschaftliche und zwischenmenschliche
Beziehungen etc. sind [11].
Diese Definition erinnert an die zu Recht vielfach kritisierte Definition von Gesundheit
der WHO. Und angesichts allgemein hoher Arbeitslosenzahlen und über 50 % Single-Haushalten
in Großstädten fragt man sich unwillkürlich, wie viele psychisch gesunde Menschen
diese Recovery-Kriterien wohl erfüllen mögen? Für die Mehrheit schizophren erkrankter
Menschen erscheinen diese Kriterien unrealistisch hochgesteckt und eher dazu geeignet
eine unerfüllbare Aufgabe als eine positive Herausforderung zu sein, wodurch das Gegenteil
dessen, was ursprünglich intendiert war, erreicht wird.
Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang jedoch fairerweise, dass die zuvor umrissene
Definition von Recovery lediglich eine unter vielen, recht unterschiedlichen Definitionen
darstellt, was aber nur auf ein weiteres Problem hinweist: Die Unklarkeit und Problematik
dessen nämlich, was unter Recovery eigentlich zu verstehen ist. Recovery bedeutet
im Wortsinn die Wiederherstellung eines Zustandes vor Eintritt eines bestimmten Ereignisses.
Schon dies erscheint unrealistisch, da das Erleben einer Psychose und der damit verbundenen
Ereignisse bereits für sich genommen Veränderungen bei dem Betroffenen, dessen Leben
und der Wahrnehmung seiner durch andere bedingt, die eine Recovery im zuvor genannten
Wortsinn verunmöglichen. Eine Recovery in diesem Sinne mag für einen Computer sinnvoll
und möglich erscheinen, bei Menschen geht es jedoch eher darum, das einmal Erlebte
sinnvoll in das weitere Leben zu integrieren und auch zu lernen, dass das Leben trotz
chronischer Erkrankung sinnvoll und erfüllend sein kann. Dieser Lernprozess kann freilich
nur dann nachhaltig erfolgreich gemeistert werden, wenn der Charakter der Erkrankung
nicht negiert und die avisierten Therapieziele realistisch gehalten werden. Vom Optimismus
der Mission der Recovery getragen suggerieren nun manche Autoren weiter, dass der
Verlauf der Schizophrenie in der Regel überhaupt nicht chronisch sei und 50 % oder
gar mehr Patienten mit Schizophrenie günstige Verläufe aufweisen (z. B. [10]). Hierbei wird die Evidenzlage zum Verlauf der Schizophrenie allerdings sehr selektiv,
um nicht zu sagen verzerrt dargestellt. Ausgeblendet werden von diesen Autoren beispielsweise
Metaanalysen, die für schizophrene Erkrankungen Recovery-Raten von deutlich unter
40 % [12] oder gar lediglich von um die 20 % („complete Recovery”, [13]) berichten. Bei Krankheitsverläufen von über zwei Jahren wurden in einer neueren
Übersicht zu First-episode-Studien günstige Verläufe in nur 25 % der Betroffenen gefunden
[14]. Robinson et al. [15] fanden, dass in ihrer Verlaufsstudie zu ersterkrankten schizophrenen und schizoaffektiven
Erkrankungen lediglich 13,7 % der Patienten im 5-Jahres-Zeitraum eine „full recovery”
erreichten (Symptomremission und adäquates soziales Funktionsniveau für einen Zeitraum
von mindestens 2 Jahren).
Vergessen wird bei der Propagierung der Recovery und Infragestellung des Chronizitätskonzeptes
gelegentlich auch, dass zahlreiche Leistungen der Gesundheits- und Sozialsysteme nur
bei chronischen Erkrankungen erbracht werden. Die prinzipielle Infragestellung des
Chronizitätskonzeptes bei der Schizophrenie kann insofern auch dazu führen, dass Ressourcen
aus der Versorgung chronisch Kranker abgezogen werden und die Hürde für bestimmte
Leistungen immer höher gelegt wird, was Ansporn, für viele Betroffene aber auch Überforderung
bedeuten kann. Schon heute wird die Verteilung der Ausgaben dem Bedarf in der Basisversorgung
nicht gerecht und insbesondere chronisch psychisch Kranke werden benachteiligt [16]. Diese Situation verschärft sich weiter, wenn mehr und mehr Ressourcen in lediglich
für hochselektierte Patientengruppen zugängliche, öffentlichkeitswirksam darstellbare
recovery-orientierte Versorgungsangebote fließen, deren Wirksamkeit im Hinblick auf
eine nachhaltige Verbesserung der Krankheitsverläufe, nebenbei bemerkt, empirisch
kaum ausreichend belegt ist.
Die Polarisierung von recovery-orientierter Behandlung als quasi „bessere” oder „modernere”
Psychiatrie da und dem Chronizitätskonzept folgender Behandlung als „schlechtere”
oder „überkommene” Psychiatrie dort erscheint nicht nur aufgrund der Evidenzlage,
sondern und auch deswegen artifiziell, da natürlich auch unter der Vorstellung der
Chronizität schizophrener Erkrankungen prinzipiell angestrebt wird, dem Patienten
ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Andererseits geht die Vorstellung von
Chronizität möglicherweise allzu häufig, im Sinne einer Self-Fulfilling Prophecy,
mit Pessimismus bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten und langfristig erreichbaren
Ziele einher, sodass ungünstige Verlaufsentwicklungen vielleicht zu schnell akzeptiert
und als zu erwartende Konsequenz einer chronischen Erkrankung hingenommen werden,
ohne dass zuvor bereits sämtliche zur Verfügung stehenden Behandlungs- und Unterstützungsoptionen
ausgeschöpft wurden. Diesem dem Chronizitätskonzept sicherlich innewohnenden Pessimismus
und Fatalismus muss entgegengesteuert werden und hier leistet die Idee von Recovery
zweifelsohne einen wertvollen Beitrag. Dies bedeutet allerdings nicht, dass deswegen
das Konzept von der Chronizität der Schizophrenie, das ja empirisch hinreichend belegt
ist, aufzugeben ist. Das Chronizitätskonzept sollte vielmehr durch andere Konzepte
beispielsweise das der Recovery sinnvoll gegengewichtet und ergänzt werden. Eine Polarisierung
beider Konzepte in dem weiter oben genannten Sinne kann dabei nur abträglich sein.