Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(05): 280-287
DOI: 10.1055/s-0043-105793
Originalarbeit
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Russische Forschungen zur Massenpsychologie aus dem 19. Jahrhundert

19th century Russian research about collective behavior
Birk Engmann
1   Fachklinikum Brandis, Abt. für Neurologie und Psychosomatik, Am Wald, 04821 Brandis
,
Holger Steinberg
2   Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Klinik für Psychiatrie, Medizinische Fakultät der Universität Leipzig, Semmelweisstraße 10, 04109 Leipzig
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Publication Date:
23 May 2017 (online)

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Zusammenfassung

Im 19. Jahrhundert erlebte die Massenpsychologie als wenngleich randständiges sozialpsychologisches und psychiatrisches Forschungsfeld doch eine beachtenswerte Publikationstätigkeit. Heute beschränkt sich die medizin- und psychologiehistorische Darstellung vor allem auf deutsch-, französisch- und englischsprachige Beiträge über induzierte psychische Massenerscheinungen. In modernen Erklärungsmodellen nehmen aber weiterhin die im 19. Jahrhundert postulierten Thesen einen hohen Stellenwert ein bzw. behielten ihre Gültigkeit. Da jedoch die diesbezüglichen russischen Arbeiten in der Rezeptionsgeschichte fehlen, sollen diese hier näher beleuchtet werden.

Wie in vergleichbaren westeuropäischen Publikationen, so wurden von den russischen Autoren Erklärungsmodelle wie Nachahmung, Suggestion und erbliche Prädisposition diskutiert. Eine besondere Stellung nimmt dagegen die Monographie von Viktor Kandinskij aus dem Jahr 1881 ein. Kandinskij unterbreitete darin eine eigene Hypothese zur Entstehung psychologischer Massenphänomene, die einen fließenden Übergang zwischen normal und pathologisch auf hirnanatomischer Grundlage postulierte, was bedeutet, dass prinzipiell kein Individuum vor „psychischer Ansteckung“ in der Masse geschützt ist. Kandinskij beschrieb dabei eine Kausalkette, beginnend mit Exaltiertheit über Ekstase, Illusionen bis – in der Extremform – hin zu Halluzinationen. Mit der Exaltiertheit ist die Vorbedingung erfüllt, die aufgrund der gleichzeitigen Schwächung des Willens die Person für andere Ideen leicht empfänglich macht. Sind mehrere Leute bereits exaltiert, reiche dann eine einzige Person aus, die z. B. zu halluzinieren beginne und die anderen anstecke. Menschen mit starken religiösen Gefühlen, mit einer Neigung zum Mystizismus und mit der Leidenschaft zum Geheimnisvollen und Ungewöhnlichen sah Kandinskij als besonders empfänglich an.

Abstract

In the 19th century, collective behavior or crowd psychology was given a broad interest in psychiatric research. But until today the focus had always been on French, English or German publications neglecting the comprehensive Russian research that exists. That’s why, the authors wish to elaborate 19th century Russian points of view on crowd psychology.

Our research revealed that most of the Russian authors discussed imitation, suggestion, and hereditary predisposition – as did their colleagues in the West. Contrary to that, the 1881 monograph by Viktor Kandinsky could be regarded as an outstanding work because it presents an independent hypothesis on crowd psychology. Kandinsky postulated a gradual transition from normal to pathological based on neuro-anatomical und physiological presumptions. He postulated a causal chain which starts with exaltation followed by ecstasy, illusions, and at least hallucinations. He regarded exaltation to be a precondition in which a person accepts notions uncritically. Thus, in an exalted crowd one person that hallucinates may “infect” the others easily. People prone to mysticism, with a passion for mysterious things or on outstanding skills would be at a high risk of being infected. On the other hand, Kandinsky’s hypothesis also implies that no one is exempt from such infection.