NOTARZT 2020; 36(04): 190
DOI: 10.1055/a-1145-7731
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Benzodiazepine in der Notfallmedizin

Benzodiazepine sind fester Bestandteil besonders der präklinischen Notfallmedizin. Hinweise auf unerwünschte Nebenwirkungen, die es dabei zu beachten gilt, sind seit fast 40 Jahren bekannt. Dazu gehören Kompromittierung der respiratorischen Funktion, die Entwicklung einer Abhängigkeit und eines Delirs sowie eine prolongierte kognitive Dysfunktion. Es scheint auch eine Korrelation zwischen der Anwendung der Benzodiazepinen und der Entwicklung einer Demenz zu bestehen. Daneben scheinen im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen Anschlags- und Halbwertszeiten eine wichtige Rolle zu spielen. Midazolam hat eine Halbwertszeit (HWZ) von 2 – 3 Stunden, Lorazepam 12 – 16 Stunden. Lorazepam bukkal/sublingual erreicht seine maximale Serumkonzentration erst nach 1 – 2 Stunden. Aus klinischer Sicht sollten in der Notfallmedizin Benzodiazepine mit kurzer HWZ eingesetzt werden, um mögliche Überdosierung in der klinischen Phase zu vermeiden. Eine Indikation von Benzodiazepinen bei Notfallpatienten ist die präklinische Sedierung, bei der jedoch intrakranielle Pathologien übersehen werden könne. Nicht jedes Benzodiazepin ist dafür zugelassen. So besitzt z. B. Midazolam keine Zulassung für psychiatrische Indikationen. Angst-, Spannungs- und Erregungszustände sind typische Indikationen von Tranquilizern. Die rein symptomatische Behandlung therapiert nicht die ursächlichen Pathologien und kann sogar zu einer weiteren Verschlechterung des Zustandes führen. Aus diesem Grund muss die Sinnhaftigkeit einer Anxiolyse grundsätzlich infrage gestellt werden, da sie zu einer Chronifizierung von Angst und der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung führen kann. Dies trifft nicht nur bei Intensivpatienten, sondern auch nach kurzfristigem Einsatz nach einem traumatischen Ereignis zu. Häufig werden Benzodiazepine bei starker Trauer eingesetzt. Es gibt jedoch Hinweise, dass diese Behandlung den Verarbeitungsprozess eher behindert und die normative Belastungssituation chronifizieren kann. Die Indikation zur rein symptomatischen Sedierung eines Notfallpatienten kann ausschließlich bei akuter Eigengefährdung und nur als letzte Option gewählt werden. Gefährliche Nebenwirkungen sind Hypoxie und Atemwegsverlegung; besonders bei Patienten mit Alkohol- und Drogenanamnese ist das Suchtpotenzial stark ausgeprägt. Benzodiazepine bei einem Alkoholentzugsdelir sind ausschließlich situativ und diskontinuierlich zur Kontrolle schwerer Entzugserscheinungen einzusetzen und bei einem Delir mit einem potenten Neurolepticum (z. B. Haldol®) zu kombinieren. Bei Krampfanfällen, bei denen der Notarzt den Patienten meist nicht rechtzeitig erreicht, ist eine antikonvulsive Akut-Pharmakotherapie nicht indiziert. Allerdings wird in verschiedenen Leitlinien die Anwendung von Benzodiazepinen als „first-line“-Strategie empfohlen. Die Narkoseaufrechterhaltung mit Benzodiazepinen wird zwar immer wieder erwähnt, wobei es sich um reine Expertenvorschläge handelt, die auf dem Boden wissenschaftlicher Daten nicht die einzige Alternative abbilden. Laut aktuellem Stand der Wissenschaft insbesondere aus intensivmedizinischer und geriatrischer Sicht verdichten sich die Hinweise auf ein ausgeprägtes Nebenwirkungsspektrum mit prolongierter negativer Auswirkung selbst bei Einmalgabe. Eine Überdosierung ist in jedem Fall zu vermeiden, weshalb eine vorsichtige Titration und eine protrahierte Überwachung erforderlich sind.



Publication History

Article published online:
12 August 2020

Georg Thieme Verlag KG
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