Sprache · Stimme · Gehör 2022; 46(03): 123
DOI: 10.1055/a-1821-1582
Editorial

Psychosoziale Beratung in der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie

Psychosocial Counselling in Voice-, Speech- and Language Therapy
Jürg Kollbrunner

Die meisten Logopäd*innen und Sprachheilpädagog*innen sind weder Profis in Sozialarbeit noch in Psychotherapie. Ein wesentlicher Teil ihrer Berufstätigkeit besteht aber aus psychosozialer Beratung, für die es wiederum eigenständige Ausbildungen gibt. Aber kaum jemand kann sich mehrere volle Berufsausbildungen leisten. Wenn es jedoch logopädischen Fachpersonen ermöglicht wird, Grundfertigkeiten psychosozialer Beratung zu erwerben, eröffnet sich ihnen eine einzigartige Möglichkeit: Sie können den Hilfesuchenden in einem niederschwelligen Angebot eine ganzheitliche Unterstützung bieten, was entscheidend mehr ist als nur die Korrektur von Symptomen und Defiziten. Den Autorinnen und Autoren dieses Heftschwerpunkts gelingt es, die Chancen, die sich aus einer solchen Beratung ergeben, packend zu beschreiben und damit Kollegen und Kolleginnen zur Erweiterung ihrer Beratungskompetenz zu ermutigen.

Claudia Iven berichtet zunächst von ihren irritierenden Lernerfahrungen als Berufseinsteigerin in der Therapie mit stotternden Kindern und deren Eltern. Heute, mit 35 Jahren Berufserfahrung, erkennt sie die elterliche Besorgnis als wesentlichen therapieindizierenden Faktor. Sie präsentiert berührende Therapieverläufe, die unter Berücksichtigung der Situation und Geschichte der betroffenen Familien zu besonders hilfreichen Ergebnissen geführt haben, manchmal über Handlungen, die von standardisierten Therapieverfahren abweichen.

Michael-M. Lippka-Zotti demonstriert im wörtlich protokollierten Verlauf eines Elterngesprächs, wie die Eltern zur Besprechung eines schwierigen Themas – hier die vernachlässigte Zahnpflege und allgemeine Hygiene des Kindes – eingeladen werden können. Als Türöffner dient ihm das Schaffen einer Wohlfühlatmosphäre im Besprechungsraum, zum Beispiel mit angebotenem Kaffee oder Tee. Er empfiehlt, dort, wo es angebracht ist, mit dem Loben elterlichen Verhaltens nicht zu sparen.

Verena Nerz zeigt in Fallbeschreibungen von Stimmtherapien mit Erwachsenen, wie sie ihre Schützlinge mit Hilfe transaktionsanalytischer Elemente in deren Suche nach Wohlbefinden und Freude sowie in ihrer Auseinandersetzung mit Blockaden, Trauer und Scham unterstützt. Neben Achtsamkeit für die Entwicklungschancen ihres Gegenübers sind ihr der Respekt vor deren Grenzen besonders wichtig.

Sylvia Sassenroth und Barbara Zollinger stellen das Konzept der triadischen Beratung in der frühen Sprachtherapie vor. Sprache wird dabei als Möglichkeit entdeckt, Getrenntheiten von zum Beispiel der Mutter zu ertragen, zu überbrücken und im Kontakt mit einer 3. Person (zum Beispiel dem Vater oder der Therapeutin) zu erfahren, wie Meinungen und Handlungsweisen der Drittperson zwar anders als jene der engsten Bezugsperson sind, aber auch hilfreich sein können.

Schließlich verdeutlicht Jürgen Kriz im Interview die Bedeutung ganzheitlicher Therapien aus der Sicht des humanistischen Psychologen. Zudem weist er darauf hin, dass die Sozialwissenschaften immer noch von reduktionistischen Menschenbildern dominiert sind. Der dadurch erschwerte Nachweis der Effektivität „weicher“ Behandlungsmethoden hat zur Folge, dass in Ausbildungen auch der psychosozialen Beratung noch zu wenig Gewicht beigemessen wird.

Dr. Jürg Kollbrunner



Publication History

Article published online:
02 September 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany