Z Sex Forsch 2022; 35(04): 239-240
DOI: 10.1055/a-1959-2364
Bericht

Sexuelle Bildung 2030

Bericht zum Barcamp zu Zukunftsperspektiven in der Sexuellen Bildung vom 2. bis 4. September 2022
Eva Kubitza
1   Institut Erziehungswissenschaften, Europa-Universität Flensburg
2   Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur, Hochschule Merseburg
,
Sarah Huch
3   Didaktik der Biologie, Freie Universität, Berlin
› Author Affiliations

„Sexuelle Bildung revisited“ – unter diesem Titel entstand unter der Federführung von der Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp; https://gsp-ev.de/) und dem Institut für Sexualpädagogik (isp; https://www.isp-sexualpaedagogik.org/) im ersten Pandemiejahr 2020 der Versuch einer umfassenden Standortbestimmung von Sexueller Bildung. Diese Standortbestimmung begann zunächst auf der digitalen Austauschplattform Slack (https://slack.com/) und wurde in einer weiteren Phase in ein digitales Barcamp überführt. Damals diskutierten mehr als 60 Fachkräfte aus der Praxis, Wissenschaftler*innen und Studierende an ihren Monitoren über unterschiedliche Themen der Sexuellen Bildung. Viele setzten ihren angeregten Austausch bei einem Kaltgetränk in einer virtuellen Bar bis tief in die Nacht fort. Zum Ende des digitalen Barcamps wurde direkt der Wunsch nach einem weiterführenden Präsenz-Barcamp deutlich. So organisierten die gsp, das isp sowie der pro familia Bundesverband (https://www.profamilia.de/) gemeinsam das Barcamp „Zukunftsperspektiven in der Sexuellen Bildung“, das vom 2. bis 4. September 2022 in Münster in Präsenz stattfand.

Eingeleitet wurde das Barcamp am Abend des 2. September mit einem Get Together. Am Vormittag des 3. Septembers fand dann die sehr gut besuchte Mitgliederversammlung der gsp statt, bei der unter anderem der Vorstand gewählt wurde. Insgesamt fanden rund 80 Personen ihren Weg nach Nordrhein-Westfalen, wobei neben Deutschland auch Österreich und die Schweiz vertreten waren, die Generationen und sexuellen Identitäten sich bunt mischten.

Vielleicht wurde das große Interesse an der Veranstaltung zusätzlich durch das progressive, aus der IT-Szene stammende Barcamp-Format verstärkt. Sich zum fachlichen Gedankenaustausch mit anschließender Übernachtung (Camping) zu treffen, steckt hinter der Begrifflichkeit Barcamp. Im Vergleich zu gewohnten frontalen Konferenzformaten ist das Barcamp erfrischend anders. Im Sinne einer Ad-hoc-Konferenz zeichnet es sich dadurch aus, dass die Aufteilung in Teilnehmende und Referent*innen nicht existiert und es auch kein vorgefertigtes Programm gibt. Dafür steht der Begriff Bar, der als Leertaste oder Platzhalter zu verstehen ist und anzeigt, dass beim Barcamp viel Raum für Spontaneität besteht. Beim Barcamp verstehen sich alle Anwesenden als sogenannte Teilgebende, die auch ganz kurzfristig und ohne Vorbereitung eine Session zu einem selbst gewählten Thema anbieten können. So wurde das konkrete Programm für die gemeinsamen Tage in Münster zu Beginn partizipativ erstellt und auf Pinnwänden festgehalten. Den Rahmen dafür gestaltete die erfahrene Barcamp-Moderatorin Susanne Schmitt (https://www.susanneschmitt.org/), die den Teilgebenden die Möglichkeit bot, die Ideen für die eigenen Sessions vorzustellen und diese dann zusammen mit allen zeitlich zu strukturieren.

Insgesamt fanden an dem Wochenende 15 Sessions von jeweils rund einer Stunde statt. Meist gab es drei Parallelangebote, sodass die Teilgebenden die Qual der Wahl zu spüren bekamen. Da die Teilgebenden aus unterschiedlichen Professionsfeldern stammten, zeichneten sich die Angebote durch eine große Vielfalt aus. Theoretische, pädagogisch-praxisorientierte sowie methodisch-empirische Fokussierungen eröffneten hohes partizipatives Potenzial. So gab es eine Session zu den Theorien hinsichtlich der Entwicklung von Sexualität nach Gunter Schmidt, eine zur Sexualkultur, eine zum Durchbrechen patriarchaler Strukturen und auch ein Angebot zu Sexueller Bildung und Behinderung. Mit eher sexualpädagogisch-praxisorientierter Ausrichtung wurden beispielsweise spannende Sessions zur „Spurensuche nach dem Woher“ des eigenen Wissens über Sexualität, zu den Auswirkungen von Corona auf Jugendsexualität und zum Potenzial von Trickfilmproduktionen für die pädagogische Praxis angeboten – um nur einige wenige zu nennen.

Eine übergeordnete Ausrichtung schien die Teilgebenden verstärkt zu beschäftigen: Sexualität und Sexuelle Bildung im Kontext digitaler Medien (Internet). Mehrere Sessions griffen dieses Feld explizit auf. So beleuchteten die Zwischenergebnisse des Forschungsprojekts „BeSPa – Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung während der COVID-19-Pandemie aus Sicht von Beratungsfachkräften und Sexualpädagog*innen“ u. a. den spezifischen Einsatz digitaler Angebote Sexueller Bildung (https://www.forschung.sexualaufklae​rung.de/forschungsthemen/auswirkun​gen-der-corona-pandemie/bespa-ausge​waehlte-ergebnisse). Inwiefern Sexuelle Bildung digital mithilfe der dafür neu entwickelten App KNOWBODY (https://www.knowbody.app/) im Schulunterricht ab der 6. Klasse stattfinden kann, wurde intensiv in einer weiteren Session analysiert und diskutiert. Auch jugendliche Pornografie-Nutzung rückte in einer Doppelsession in den Fokus. Um sich der Thematik adäquat nähern zu können, reflektierten die Teilgebenden eigene Erfahrungen und Haltungen zur Pornografie. Im Austausch über Jugendliche und ihren Umgang mit Pornografie wurde deutlich, dass die anwesenden Sexualpädagog*innen eine eher positive Einstellung gegenüber Pornografie hatten und den Bedarf sahen, Pornografiekompetenzen von Jugendlichen zu fördern. Es ist aber bisher empirisch nicht geklärt, welche Anforderungen unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen an pornografiebezogene Bildungsangebote haben, weshalb dazu weitere Forschung notwendig ist. Neben dem Austausch über Hass und mediale Shitstorms, denen Sexuelle Bildung im Internet immer wieder ausgesetzt ist, wurde auch konstruktiv über das Verhältnis von Medien- und Sexualpädagogik diskutiert.

Digitale Medien und vor allem Social Media waren nicht nur in den thematisch darauf ausgelegten Sessions Thema, sondern tauchten auch immer wieder in anderen Zusammenhängen auf. In der Session „Juicy details“, in der es um die Kunst ging, explizite Fragen von Jugendlichen zu beantworten und das eigene Wissen über Sexualität zu reflektieren, wurden Social Media als eine zentrale Informationsquelle identifiziert. Und die Teilgebenden nutzten auch digitale Tools, allen voran die digitale Plattform Padlet (https://de.padlet.com/), um Barcamp-Ergebnisse zu dokumentieren.

Neben sexualitätsbezogenen Online-Kontexten lag auf dem Thema Körperarbeit ein weiterer Schwerpunkt des diesjährigen Barcamps. In unterschiedlichen Sessions wurde der Einsatz von Körperübungen nicht nur diskutiert, sondern auch praktisch erprobt. Viele Teilgebende sahen die Notwenigkeit, den Körper in Angeboten der Sexuellen Bildung wieder stärker in den Fokus zu bringen, was auf sehr unterschiedlichen Ebenen passieren kann. So befasste sich beispielsweise die Session „Humor – Lust“ mit der Aktivierung und Einbeziehung des Körpers durch Übungen aus der Clownpädagogik. Im Kontext der Körperarbeit wurden auch Chancen, Risiken und Grenzen diskutiert. So wurde Körperarbeit in institutionalisierten Kontexten mit wenig Mitbestimmungsrecht, wie beispielsweise der Schule, eher kritisch betrachtet.

Resümierend erwies sich das Barcamp als ein geeignetes und inspirierendes Tagungsformat zur Sexuellen Bildung. Die überschaubare Gruppengröße der Sessions und die Themenzentriertheit beförderten eine konstruktive, wertschätzende und positive Atmosphäre und luden zu einem fachlich dichten und intensiven persönlichen Austausch ein. Anregungen und kritische Denkanstöße konnten vielfach gewonnen werden, davon zeugen die „Bäume der Erkenntnisse“, an denen die Take-Home-Messages der Teilgebenden auf Post-its festgehalten wurden. Viel Raum zur Vernetzung bot nicht nur das abwechslungsreiche Tagungsgeschehen am Tag, sondern auch das Abendprogramm.

In der hauseigenen Bar des Tagungshauses gab es neben Cocktails zuerst einen Workshop in Lindy Hop, einem Tanzstil aus den 1930er-Jahren, der als der Ausgangspunkt des Swings gilt. Und für die, die sich dachten: „Wenn ich schon mal auf der Tanzfläche stehe, kann ich hier gleich mal bleiben“, wurde die Musik aufgedreht und die Bar verwandelte sich bis tief in die Nacht in einen Club.

Das Motto des diesjährigen Barcamps lautete „Zukunftsperspektiven in der sexuellen Bildung“. In den Sessions wurde nicht nur in die Ferne geblickt, sondern ganz konkret über aktuelle Phänomene, Bedarfe und Erfahrungen gewinnbringend diskutiert. Es lässt sich festhalten, dass die Verknüpfung von Medienkompetenz und Sexualpädagogik als ein zentraler Aspekt für das Gelingen einer zeitgemäßen Sexuellen Bildung erachtet wird. Aber nicht nur die Beschäftigung mit dem virtuellen Raum wurde als bedeutsam formuliert, sondern ebenfalls die unmittelbare Beschäftigung mit dem eigenen Körper und seine Integration in Sexuelle Bildung. Hervorgehoben wurde auch, dass eine fruchtbare bedarfsorientierte und zielgruppenadäquate Ausgestaltung von Angeboten der Sexuellen Bildung gesellschaftliche Entwicklungen wie die COVID-19-Pandemie mit ihren vielfältigen Auswirkungen mitdenken muss. Resümierend wird zukünftiges Potenzial darin gesehen, die empirische sexualwissenschaftliche Forschung noch intensiver mit der sexualpädagogischen Bildungs- und Beratungsarbeit zu verzahnen. In einem wechselseitigen Dialog können so Praxis- und Theorieentwicklungen mit innovativen Erkenntnissen und Fragestellungen entstehen. Vielleicht gelingt es ja schon auf der nächsten Tagung.



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Article published online:
06 December 2022

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