Z Sex Forsch 2022; 35(04): 197-208
DOI: 10.1055/a-1964-1277
Originalarbeit

Geschlechtsspezifische sexuelle Gesundheitsförderung in geschlossenen Einrichtungen. Ein systematisches Review zum internationalen Forschungsstand

Gender-Specific Sexual Health Promotion in Closed Institutions. A Systematic Review of the International State of Research
Anne Kaplan
1   Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Technische Universität Dortmund
,
Lisa Schneider
2   Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik („Emotionale und soziale Entwicklung“), Universität Siegen
,
Madeline Scharnberg
3   Professur für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik („Lernen“), Universität Siegen
,
Franka Metzner
2   Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik („Emotionale und soziale Entwicklung“), Universität Siegen
4   Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Zusammenfassung

Einleitung Freiheitsentziehende Institutionen haben einen rechtlich normierten Auftrag zur sexuellen Gesundheitsförderung und Bildung. Maßnahmen zur sexuellen Gesundheitsförderung sollen gemäß der Ottawa-Charta der [World Health Organization von 1986] ganzheitlich auf einem breiten und intersektionalen Verständnis von Sexualität und sexueller Gesundheit gründen. Nachgewiesene geschlechtsspezifische Unterschiede in der sexuellen Gesundheitskompetenz und im Sexualverhalten sollen darin berücksichtigt werden. Angebote sexueller Gesundheitsförderung in geschlossenen Einrichtungen sind bisher allerdings kaum dokumentiert.

Forschungsziele In diesem Beitrag soll der internationale Forschungsstand zu geschlechtsspezifischer sexueller Gesundheitsförderung in geschlossenen, freiheitsentziehenden Einrichtungen zusammengefasst und diskutiert werden.

Methoden Es wurde ein systematisches Literaturreview durchgeführt, um publizierte Konzepte und Studien zum genannten Themenspektrum zusammenzutragen. Dazu wurden sechs wissenschaftliche Datenbanken bis zum Stichtag 6. Oktober 2021 nach relevanten Publikationen auf Deutsch und Englisch durchsucht. Von k = 365 identifizierten Publikationen entsprachen k = 3 Studien nach der Bewertung durch zwei Reviewerinnen*1 allen 13 a priori festgelegten Einschlusskriterien (z. B. Publikation mit Peer-Review).

Ergebnisse Festgestellt wurde ein großes Desiderat hinsichtlich evidenzbasierter Maßnahmen zur sexuellen Gesundheitsförderung in freiheitsentziehenden Einrichtungen. Es mangelt bei den wenigen, ausschließlich im nordamerikanischen Raum untersuchten Programmen an einem breiten Verständnis von Sexualität und sexueller Gesundheit. Die identifizierten Programme sind hauptsächlich auf einen Gefahren abwehrenden Sexualitätsbegriff gerichtet.

Schlussfolgerung Menschen in Freiheitsentzug erscheinen von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen über Sexualität und sexuelle Gesundheit bisher weitgehend ausgeklammert zu sein. Evidenzbasierte Programme der sexuellen Gesundheitsförderung in geschlossenen Einrichtungen des Freiheitsentzuges sollten daher entwickelt und implementiert werden. Zentrale Themen wie (eigene) Geschlechtsidentitäten, Bindung und Partnerschaft oder Geschlechterrollen gilt es darin zu verhandeln und gemeinsam mit den Menschen in Freiheitsentzug kritisch zu reflektieren.

Abstract

Introduction Institutions that involve the deprivation of liberty have a legal mandate to promote sexual health and sex education. According to the Ottawa Charta of the [World Health Organization from 1986], sexual health promotion must be viewed holistically and is to be based on a broad and intersectional understanding of sexuality and sexual health. Proven gender-specific differences in sexual health competence and sexual behavior must be taken into account. So far, however, programs of sexual health promotion in closed facilities have hardly been documented.

Objectives This contribution aims to present and to discuss the international state of research on gender-specific sexual health promotion in closed, liberty-depriving institutions.

Methods A systematic literature review was conducted and existing concepts and studies on the range of topics mentioned were compiled. For this purpose, six scientific databases were searched for relevant publications in German and English by the deadline of October 6th, 2021. Of the k = 365 publications identified, k = 3 studies met all 13 a priori inclusion criteria (e. g. publication with peer review) after assessment by two reviewers*.

Results A great desideratum regarding evidence-based measures and programs for sexual health promotion in institutions involving deprivation of liberty could be determined. Overall, a broad understanding of sexuality and sexual health is lacking, even in the few programs that exist exclusively in North America. The aims of the present programs are mainly based on a concept of sexuality and sexual health that intends to avert danger.

Conclusion Until now, people in detention have largely been excluded from scientific and social discourses on sexuality and sexual health. The development and implementation of evidence-based programs and measures for sexual health promotion in closed prison facilities appear to be indicated. Central topics such as (own) gender identities, attachment and partnership or gender roles should be discussed and critically reflected on together with the people affected by living in prison.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
06. Dezember 2022

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