Erfahrungsheilkunde 2024; 73(01): 2-3
DOI: 10.1055/a-2150-4404
Editorial

Heilfaktor Zeit

Peter W. Gündling

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Leserinnen, liebe Leser,

„Tempus fugit (Die Zeit fliegt)“, schrieb Vergil in seinem Werk Georgica vor über 2000 Jahren. Und ja, wieder ist ein Jahr vorüber. Und vermutlich fragen auch Sie sich, wo die Zeit denn geblieben ist. Bei dem, was man tagtäglich zu erledigen hat, vergeht die Zeit oft viel zu schnell. Vierundzwanzig Stunden sind häufig einfach zu wenig für die vielen Aufgaben und Vorhaben.

Aber die Wahrnehmung der Zeit ist relativ. Während sie im Alltag meist rast und ein Tag, eine Woche oder eben auch ein Jahr oft wie im Flug vergeht, scheint sie manchmal stillzustehen, beim Warten auf einen Zug, ein Taxi oder auf Genesung. Auch Heilung braucht Zeit – und Geduld –, selbst (oder gerade) bei guter Behandlung.

Unser Organismus verfügt über nahezu unendlich große Selbstheilungskräfte. Und wenn wir diese gekonnt unterstützen – und ihnen Zeit geben –, dann haben wir sehr gute Chancen, wieder vollkommen gesund zu werden. Das Dumme an der Sache ist, dass diese körpereigenen Reparatur- und Regenerationsmechanismen auch im schnelllebigen 21. Jahrhundert noch genauso lange brauchen wie vor 500 oder gar 10 000 Jahren, als das menschliche Leben noch eine deutlich gemächlichere Gangart hatte, ohne Autos, Flugzeuge und Internet.

Und dieser Zeitdruck (und damit unsere Ungeduld) ist es dann oft auch, der dazu verleitet, eine gute, aber eben zeitintensivere Therapie abzubrechen oder gar nicht erst anzufangen, weil sie einfach nicht schnell genug wirkt.

Gleichzeitig fehlt die Zeit für Sport, zur (echten) Entspannung oder auch zum ruhigen Essen und guten Kauen. Selbst für ausreichend Schlaf, der für die Ausschüttung des Regenerationshormons Somatotropin so wichtig ist, fehlt vielen die Zeit. Und wie oft gönnen gerade wir Ärztinnen und Ärzte uns nicht einmal die Zeit, uns bei einem Infekt einfach einmal ins Bett zu legen und auszukurieren. „Die Patienten brauchen uns ja.“

Doch diese Regenerationszeiten sind nicht verhandelbar, und jegliche Form der künstlichen Beschleunigung führt zu Belastungen an anderen Stellen. Das gilt insbesondere für den Darm.

Zweifellos kann die moderne Medizin durch ihre in den letzten Jahren deutlich gestiegene Schnelligkeit bei Notfällen Enormes leisten. Hier reichen Selbstheilungskräfte nicht aus, und hier hat sie sich ihre Lorbeeren in den letzten Jahrzehnten verdient.

Doch die ca. 99 % der anderen, nicht so hochakuten und bedrohlichen oder gar chronischen und funktionellen Erkrankungen benötigen Zeit. Und diese Zeit (und Geduld) für die Heilung benötigen nicht nur die Kranken, Zeit und Geduld benötigen auch die Heilenden, Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten. Zeit für eine vernünftige Patientenbetreuung, Zeit zum Zuhören, Zeit für eine gründliche Anamnese und körperliche Untersuchung, Zeit für die eingehende Beratung und Anleitung zur Selbsthilfe(!).

Immer weiter zunehmende Auflagen und Bürokratisierung sowie falsche Zielsetzungen und Anreize in unserem Gebührensystem, das Oberflächlichkeit, technische Leistungen und Massenabfertigung belohnt und die ureigenen ärztlichen Leistungen (durch schlechte Honorierung) bestraft, führen nicht nur zu einem Übermaß an Diagnostik und Ärzte-Hopping, sondern auch zu vorschneller und übermäßiger Arzneimittelverordnung. Das belastet einerseits unser Sozialsystem, was schlussendlich sehr viel mehr Geld kostet, und andererseits auch zunehmend alle medizinisch Tätigen – das interessiert allerdings die Krankenkassen infolge Budgetierung, Kostendeckelung und immer strengerer Vorgaben wenig.

Die Auswirkungen dieser Politik bekommt jede und jeder von uns spätestens seit der Corona-Krise deutlich zu spüren. Die Berufszufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte ist auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Nach den aktuellen Auswertungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung schätzen 55 % der Niedergelassenen ihre Situation als schlecht oder sehr schlecht ein. Hier ist es höchste Zeit, sich zu wehren und gegenzusteuern!

Gleichzeitig werden bewährte naturheilkundliche und komplementärmedizinische Verfahren verunglimpft, in den Bereich der Placebomedizin verdrängt oder zumindest von den Krankenversicherungen nicht übernommen. Begründet durch die Verleugnung vorhandener wissenschaftlicher Wirkbelege und durch (bewusst) fehlerhaft konzipierte wissenschaftliche Untersuchungen, die deren Unwirksamkeit oder gar Gefährlichkeit zeigen sollen.

Bei diesem Szenario einer echten Krise der Medizin bleibt nur zu hoffen, dass wir ganzheitlich orientierten und integrativ arbeitenden Ärztinnen und Ärzte nicht den Mut zu und die Freude an unserer Tätigkeit verlieren. Die Bestätigung der Richtigkeit unseres Tuns liefern uns tagtäglich unsere Patienten.

Wie wichtig dieser ganzheitliche Blick, dieses Eingehen auf die Individualität unserer Patientinnen und Patienten und das „Zeit-Nehmen“ sind, zeigt sich insbesondere im Bereich des Magen-Darm-Traktes. Wie wir durch das Vorhandensein der Darm-Hirn-Achse und die vielen funktionellen Magen-Darm-Krankheiten wissen, treffen hier Körper, Geist und Seele zusammen. Und durch die enorme Größe der Darmschleimhaut und deren vielfältige Funktionen in Kombination mit der unvorstellbaren Anzahl an Mikroorganismen, mit denen diese in ständigem Kontakt steht, ist es ganz wesentlich der Darm, der unsere Gesundheit in allen Richtungen (Stoffwechsel, Immunsystem, Psyche etc.) beeinflusst.

Wie wir speziell diesen Bereich noch besser unterstützen und behandeln können, ist Inhalt dieser Ausgabe, bei deren Lektüre ich Ihnen wieder viel Freude und neue Erkenntnisse – und nachträglich noch ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2024 – wünsche.

Herzlichst Ihr

Peter W. Gündling



Publication History

Article published online:
13 February 2024

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