Dtsch Med Wochenschr 2025; 150(21): 1314-1318
DOI: 10.1055/a-2650-1592
Medizin weltweit

Robert Koch und das Tuberkulin – Anatomie eines Fehlschlags

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  • Christoph Gradmann

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Für die Wissenschaftsgeschichte hat die Geschichte von Irrtümern und Fehlschlägen einen besonderen Reiz: Erfolgreiche Erfindungen oder Entdeckungen stellen scheinbar einfache Vorgeschichten unserer Gegenwart dar. Dagegen regt die Analyse von Irrtümern dazu an, die historische Realität wissenschaftlicher Ansichten in Augenschein zu nehmen, die den Zeitgenossen zutreffend, späteren Betrachtern jedoch als falsch erschienen. Die Geschichte solcher Phänomene besteht gerade darin, dass sie als „zutreffende“ entstanden und später zu „irrtümlichen“ wurden. Dabei verschwinden Irrtümer nicht notwendigerweise mit ihrer Aufklärung. Die Folge ist zumeist eher ein Konflikt von Meinungen, in dem einige Zeitgenossen weiterhin die angeblichen Irrtümer als Fakten betrachten, andere aber ihre einzelnen Bestandteile neu erklären und damit neue Forschungsgegenstände entwickeln.

In einer Wissenschaftsgeschichte der Irrtümer tritt also die Komplexität historischer Prozesse deutlicher hervor, als dies bei einer Wissenschaftsgeschichte der (erfolgreichen) Entdeckungen und Erfindungen üblicherweise der Fall ist.

Gegenstände der Forschung unterliegen einem steten Prozess der Um- und Neuformulierung. Der Irrtum stellt hierbei in gewisser Weise einen Sonderfall dar. Es hat den Anschein, dass Ansichten den Zeitgenossen besonders dann als Irrtümer erschienen, wenn sie sehr schnell oder sehr grundlegend korrigiert wurden. Dem Wissenschaftshistoriker bietet sich hier die Gelegenheit, den Normalprozess der Wissenschaft an seinem Extremfall zu studieren.

Das von Robert Koch 1890 als Heilmittel gegen Tuberkulose präsentierte Tuberkulin ist ein solches historisches Phänomen: Obwohl die Substanz – ein Extrakt aus Tuberkulose-Reinkulturen – von damals zu heute keine grundlegenden Unterschiede aufweist, so ist doch Kochs Verständnis der Wirkung des Mittels mit unserem heutigen kaum zu vereinbaren [1] [2] [3] [4].

Nicht wenige Autoren sind der Versuchung erlegen, Kochs Mittel in die Frühgeschichte der Erforschung des anaphylaktischen Schocks und der bakteriellen Allergie einzuordnen. Für seinen Erfinder war es aber etwas ganz anderes: ein Heilmittel gegen die größte Volksseuche des 19. Jahrhunderts, die Tuberkulose. Es diente eben nicht – wie heutzutage – der Erzeugung einer diagnostisch verwertbaren verzögerten Überempfindlichkeitsreaktion. Kochs Überzeugung, mit dem Tuberkulin ein Therapeutikum zu besitzen, wurde von seinen Zeitgenossen für einige Wochen im Herbst und Winter 1890/91 geteilt, und die Geschichte des Tuberkulins als Heilmittel ist damit auch die einer beispiellosen Euphorie, eines „Tuberkulin-Rausches“, auf die eine nicht minder dramatische Ernüchterung folgte [5] [6] [7] [8] [9] [10].



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
10. Oktober 2025

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  • Literatur

  • 1 Kochs Veröffentlichung: Koch, Über bakteriologische Forschung, 1912 (1890); Vgl. zu der grandiosen Kulisse von Kochs Rede: Winau 1990, 370.
  • 2 Über Kochs Geheimhaltung und die Verfahren zur Gewinnung von Tuberkulin: Brock 1988, 201–5. Kritische Bewertungen: Elkeles 1990; Opitz und Horn 1984. Vgl. Koch, Weitere Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose, 1912 (1890).
  • 3 Koch an Althoff, 31.10.1890, GStAPK, I. HA, Rep. 76, VIII B, 2892, Bl. 13.
  • 4 Koch, Fortsetzung der Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose, 1912 (1891), (DMW 1891, Nr. 3). Koch veröffentlichte seine Arbeit in Teilen und verzögerte die Veröffentlichung seiner Arbeit über Tuberkulin bis Ende 1891: Koch, Weitere Mitteilung über das Tuberkulin, 1912 (1891), (DMW 1891, Nr. 43). Zur Herstellung und zum Inhalt von Tuberkulin im Detail: Gradmann 2000b.
  • 5 Vgl. die Unterlagen des Bau-Ausschusses, die in den Akten der Charité enthalten sind (HUA, Char., Fasc. 2204).
  • 6 Vossische Zeitung, 21.11.1890 (Nr. 545).
  • 7 Die Rezeption und Kritik von Tuberkulin wurde zuletzt und am besten bewertet von Elkeles 1990. Die Meinungsverschiedenheiten lassen sich gut anhand einer Sammlung von Artikeln nachvollziehen, die veröffentlicht wurden in Deutsche Medizinsche Wochenschrift: DMW 1890/1891.
  • 8 Der wahre Jacob, ein süddeutsches Humor-Magazin, das Koch in der Neujahrsausgabe ein kleines Gedicht gewidmet hat: „Herrn Professor Koch! / Mögest Du ein Mittel enthüllen / Gegen die Schwindelsuchtbazillen!“ (Der wahre Jacob Nr. 116, vom 3.1.1891). Der Ulk, ein Berliner Humor-Magazin, berichtete am 16. Januar 1891: „Einzelne Heilkünstler, denen das Geschäft über alles geht, haben zu Gunsten ihres Geldschrankes beschlossen, die Einspritzungen künftig mit Hilfe der Feuerwehr zu besorgen“. Der Text ist der Untertitel für einen Cartoon über Anwendungen von „Bacillen-Lymphe“, d.h. Tuberkulin. Ulk, Nr. 3, vom 16.1.1891.
  • 9 Die Kritik wurde von Virchow vorgebracht. Sein Schüler Johannes Orth prägte den Begriff „Tuberkulinschwindel“ (tuberculin fraud): Schadewaldt 1975, 1930; vgl. Elkeles 1990, 1731; Schmidt 1991, 780.
  • 10 Die Wirksamkeit des Kochʼschen Heilmittels gegen Tuberkulose. Amtliche Berichte der Kliniken, Polikliniken und pathologisch-anatomischen Institute der preußischen Universitäten, 1891, wo z.B. Ernst von Leyden das Tuberkulin offen kritisierte. Eine scharfe Attacke eines Propagandisten der Alternativmedizin wurde bereits im Dezember 1890 veröffentlicht: Lahmann 1890.
  • 11 Heymann B. Robert Koch. I. Teil 1843–1882. 1932. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt;
  • 12 Koch R. 1912 (1890), Über bakteriologische Forschung, in: Schwalbe J. (ed), Gesammelte Werke von Robert Koch, 2 Bände, Leipzig, Verlag von Georg Thieme, Band 1, 650–660.
  • 13 Koch R. 1912 (1890), Weitere Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose, in: Gesammelte Werke von Robert Koch, Band 1, 661–668.
  • 14 Koch R. 1912 (1891), Fortsetzung der Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose, in: Gesammelte Werke von Robert Koch, Band 1, 669–672.
  • 15 Koch R. 1912 (1891), Weitere Mitteilung über das Tuberkulin, in: Gesammelte Werke von Robert Koch, Band 1, 673–682.
  • 16 Eine Berliner Zeitung, die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), berichtete am 30. November 1890, dass die beiden französischen Forscher in der „Revue Rose“ behauptet hatten, zuvor erfolglos ein Tuberkulose-Antiserum an Tieren getestet zu haben. Dies hatten sie tatsächlich getan, und zwar 1888, vgl. Bulloch 1960 (1938), 261.
  • 17 GStAPK, I. HA, Rep. 92 Althoff, A I, Nr. 256, Bl. 11/2.
  • 18 Koch H. Mein Weg mit Robert Koch. Göttingen: Wallstein Verlag; 2023
  • 19 Baumgarten P. Neuere experimentell-pathologische Arbeiten über Tuberculinwirkung. Berliner klinische Wochenschrift, 28 (1891), S. 1206–1208.
  • 20 Althoffs Memorandum vom 21.3.1891. GStAPK, I. HA, Rep. 92 Althoff, AI, Nr. 233a, Bl. 53–64. Vgl. Eschenhagen 1983, 136.
  • 21 Elkeles Barbara. Der „Tuberkulinrausch“ Von 1890. Deutsche Medizinische Wochenschrift 115 1990; 1729-1732