Gesundheitswesen 2008; 70(12): 791-792
DOI: 10.1055/s-0028-1103271
Kommentar

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Empowerment – von Gandhi lernen?

Empowerment – Learning from Gandhi?M. Wildner 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim
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Publication Date:
11 December 2008 (online)

Am 30. Januar 2008 jährte sich der 60. Todestag von Mohandas Karamchand „Mahatma” Gandhi (1869–1948), des politischen und geistigen Führers der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Diese führte 1947 das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien herbei. „Die Ehrfurcht vor dem universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit hat mich in die Politik geführt” wird Gandhi zitiert [1]. Seinen Ehrennamen „Mahatma” (=Grosse Seele) erhielt er vom Philosophen und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore, der ihn bei seiner Ankunft in Indien 1915 so begrüßte.

Was kennzeichnete Gandhis erfolgreiches Wirken? Grundlegend war für ihn das „Festhalten an der Wahrheit” (Satyagraha) [2]. Dieses Konzept umfasste nicht nur die Gewaltfreiheit (Ahimsa), sondern auch andere ethische Forderungen wie die Fähigkeit und Bereitschaft zur individuellen und politischen Eigenkontrolle (Swaraj). Grundgedanke ist, Gegner sowohl aus einer langfristigen strategischen Perspektive heraus als auch aus ethischer Überzeugung am Ende als Verbündete und Freunde zu gewinnen. Gewaltlosigkeit war aus Gandhis Sicht daher eine Waffe der Starken, nicht der Schwachen. Er war sich der Konsequenz des Leidens um einer Sache willen bewusst.

Ist hier ein Brückenschlag zu den Themen Öffentliche Gesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention möglich? Ein solcher könnte in dreifacher Hinsicht versucht werden: zum einen hinsichtlich des politischen Selbstanspruches „Öffentlicher” Gesundheit, zum Zweiten hinsichtlich der Konzepte „Empowerment” und „Partizipation”, zum Dritten hinsichtlich der Idee des „Festhaltens an der Wahrheit”.

Die Verbindung zum politischen Selbstanspruch „Öffentlicher” Gesundheit auch für Deutschland wird deutlich, wenn man sich die programmatische Aussage Rudolf Virchows vor Augen hält: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medizin im Großen” [3]. Das Jahr dieses Ausspruches war 1848, 100 Jahre vor der Unabhängigkeit Indiens ebenfalls ein Jahr des Umbruches – das Jahr der bürgerlichen Revolution in Deutschland. Teil der damaligen Reformbewegung war der Anspruch auf eine verbesserte öffentliche Gesundheitspflege [4]. Diese politische Komponente öffentlicher Gesundheitspflege ist unverändert aktuell: Lokal und regional, national und überregional auch auf der europäischen Ebene. Eine Übersicht zu gesundheitsbezogener Politikorientierung wurde von der finnischen EU-Ratspräsidentschaft 2006 erstellt („Health in All Policies” – Gesundheit in allen Politikbereichen, www.euro.who.int/observatory/Publications/20060915_2).

In Anlehnung an Gandhis Unabhängigkeitsbewegung könnte man ein Leben in Gesundheit als „die größere Freiheit” charakterisieren, welche es zu gewinnen, zu erhalten und zu gestalten gilt. „Assuring the conditions in which people can be healthy” – Bedingungen schaffen, in denen Menschen gesund leben können, lautet eine bekannte Formulierung für den gesellschaftlichen Auftrag an Public-Health/Öffentliche Gesundheit [5]. Oder als Kurzformel der Verhältnisprävention: „make healthy choices easy choices” – gesunde Entscheidungen durch eine entsprechende Gestaltung der Umwelt leicht bzw. zur Normalität machen. Die darin enthaltene Bedeutung insbesondere der Verhältnisprävention wird durch die Ergebnisse der Evaluationsforschung zunehmend empirisch belegt. Für eine erfolgreiche Prävention haben multimodale, in den Lebenswelten („Settings”) umfassend verankerte Herangehensweisen hohe Bedeutung [6].

Die in manchen Fällen auch politische Tragweite einer Verhältnisorientierung haben z.B. die mit dem Jahresbeginn 2008 in Kraft getretenen Gesetze zum Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten deutlich gemacht. Als erstes Land weltweit hatte Irland am 29. März 2004 ein vollständiges Rauchverbot in der Gastronomie durchgesetzt. Italien und Schweden folgten kurz darauf. Überraschend war im Gefolge dieser gesundheitspolitischen Ausrichtung der unerwartet günstige Effekt auf die allgemeine Herzinfarktsterblichkeit und die Erkenntnis, dass die Passivrauchbelastung ein fast ebenso großes Risiko für die Herzinfarktrate bei Nichtrauchern darzustellen scheint wie das Rauchen bei Rauchern [7].

Dem steht eine herkömmliche, einseitig auf das individuelle Verhalten bzw. auf reine Informationsvermittlung beschränkte Präventionsstrategie gegenüber, der bei kritischer Überprüfung häufig Wirkungslosigkeit attestiert werden muss. Ein Beispiel dafür gibt das methodisch anspruchsvolle Hutchinson Projekt zur Raucherprävention in Schulen ab, welches trotz vielfältiger verhaltensbezogener Interventionen vom Schuleintritt bis zur 12. Klasse letztlich das Rauchverhalten nicht beeinflussen konnte [8]. Um Missverständnissen vorzubeugen: Als komplementäre Maßnahmen innerhalb einer multimodalen Strategie haben diese Herangehensweisen durchaus ihren guten Sinn.

Eine zweite Brücke zu Mahatma Gandhis Denken lässt sich über moderne Begriffe der Gesundheitsförderung wie Partizipation („Teilhabe”) und Empowerment („Befähigung”) schlagen. Sein Begriff der Eigenkontrolle kommt solchen Konzepten nahe. Partizipation will die „Zielgruppen” von Prävention und Gesundheitsförderung aktiv einbinden in Programm- bzw. Projektentwicklung, Durchführung und Evaluation. Empowerment will die Beteiligten befähigen, Eigenkontrolle über ihre Gesundheit bzw. die Determinanten und gesundheitsrelevanten Lebensumstände zu entwickeln. Beide Elemente finden in der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung von 1986 und auch in späteren Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation regelmäßig Erwähnung (z. B. Evaluation in Health Promotion. Principles and Perspectives, www.euro.who.int/InformationSources/Publications/Catalogue/20010911_43). Dass Gandhi unter „Eigenkontrolle” gleichberechtigt auch das Ringen um die eigene persönliche Integrität und Authentizität verstand, sei der Vollständigkeit halber ebenfalls erwähnt.

Eine dritte Verbindung zu moderner Gesundheitsförderung und Prävention ließe sich an dem für Gandhi zentralen Begriff des „Festhaltens an der Wahrheit” festmachen. Auf die historisch und kulturell beeinflusste Vielschichtigkeit des philosophischen Grundbegriffes „Wahrheit” sei an dieser Stelle einschränkend hingewiesen. Dennoch kann in einer bewussten Reduktion der von Gandhi vermutlich sehr viel breiter gedachten Bedeutung auf den wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff eine Brücke geschlagen werden. In einem solchen Verständnis lässt sich Wahrheit als „interpersonale Verifizierung” bzw. „Homo-logie”, d. h. einvernehmliche Rede, unter vernünftigen und sachkundigen Personen auffassen. Solche vernünftige Rede ist gekennzeichnet durch Unvoreingenommenheit gegenüber der Sache, gegenüber den die Diskussion führenden Personen, gegenüber Emotionen, Traditionen und Moden einerseits und Begründbarkeit andererseits (dialogischer Wahrheitsbegriff der Erlanger Schule, [9]). Diese Beschreibung liest sich wie eine vorweggenommene Definition einer „evidenzbasierten” Prävention.

Dass die Suche nach und das Ringen um Wahrheit im Sinne wissenschaftlicher „Homologie” durch unvernünftiges Diskutieren unter dem Einfluss von Industrielobbyismus erschwert und verzögert werden kann und worden ist, ist Gegenstand einer anhaltenden wissenschaftsinternen Diskussion auch in der Epidemiologie. Dass idealerweise auch die Effektivität gesundheitspolitisch relevanter Gesetzgebung begleitend evaluiert werden sollte, ergibt sich aus dem Gesagten.

Diese drei Brückenschläge

die bisweilen auch politische Dimension bei der gesundheitsförderlichen Gestaltung der Lebenswelten, ein bisweilen notwendiges wohlverstandenes individuelles und politisches Empowerment und ein unabdingbares Festhalten an einer der Suche nach Wahrheit verpflichteten Forschungs- und Evaluationskultur

sind wie dieses Schwerpunktheft insgesamt vor allem als Impuls gedacht. Ob dieser Impuls zu überzeugen bzw. neugierig zu machen vermag, wird partizipativ von unserer „Zielgruppe” beurteilt werden – den sachkundigen Partnern und Multiplikatoren im Feld.

Literatur

  • 1 , Mahatma Gandhi, Ausgewählte Texte, Goldmann Verlag, München, 1983, 77
  • 2 Gandhi MK. Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Gladenbach, Verlag Hinder+Deelmann 2005
  • 3 Virchow R. , Die medizinische Reform; No. 1; 3. November 1848, 125
  • 4 Orth L. 150 Jahre Revolution 1848/49: Die demokratische Krankheit.  Dtsch Ärztebl. 1999;  96 ((14)) A-936/B-782/C-729
  • 5 Institute of Medicine .The Future of Public Health. Washington, National Academies Press 1988: 40
  • 6 Rosenbrock R. Erfolgskriterien und Typen moderner Primärprävention. In: Kirch W, Badura B, Hrsg. Prävention. Heidelberg, Springer 2005
  • 7 Barnoya J, Glantz SA. Cardiovascular effects of secondhand smoke: nearly as large as smoking.  Circulation. 2005;  111 2684-2698
  • 8 Peterson Jr AV, Kealey KA, Mann SL. et al . Hutchinson Smoking Prevention Project: long-term randomized trial in school-based tobacco use prevention – results on smoking.  J Natl Cancer Inst. 2000;  92 ((24)) 1979-1991
  • 9 Kamlah W, Lorenzen P. Logische Propädeutik – Vorschule des vernünftigen Redens.  Stuttgart, J. B. Metzler Verlag. 1996;  128

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85764 Oberschleißheim

Email: Manfred.Wildner@lgl.bayern.de

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