Erfahrungsheilkunde 2009; 58(3): 153-156
DOI: 10.1055/s-0029-1213530
Das aktuelle Interview

© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Die neuesten Entwicklungen auf dem Selengebiet

Prof. Gerhard N. Schrauzer im Interview mit der EHK
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Publication Date:
10 June 2009 (online)

Prof. Gerhard N. Schrauzer lehrt und forscht an der Universität von Kalifornien in San Diego. Er gilt als einer der bedeutendsten Selenforscher.

EHK: Herr Prof. Schrauzer, Sie sind uns allen als Selenforscher bekannt, der schon seit vielen Jahren die Notwendigkeit einer optimalen Selenversorgung zur Gesundheitserhaltung propagiert und der insbesondere für den Einsatz von Selen zur Krebsprävention eintritt. Im letzten Jahr allerdings wurde berichtet, dass Selen möglicherweise das Risiko an Diabetes Typ 2 zu erkranken erhöht, und es Krebs, zumindest was das Prostatakarzinom betrifft, nicht verhütet. Wie stehen Sie zu diesen Befunden?

Prof. Schrauzer: Eigentlich hätte die Arbeit [12], wonach Selen Diabetes Typ 2 auslösen könnte, nicht veröffentlicht werden dürfen. Die Autoren gaben doch selbst zu, dass ihre Ergebnisse, statistisch gesehen, zufällig sein könnten. In den letzten 5 Jahrzehnten durchgeführte tierexperimentelle Studien zeigten jedenfalls nicht, dass Selen Diabetes auslöst. Im Gegenteil, man fand, dass Selen insulinmimetische Eigenschaften besitzt. Inzwischen ergab die Auswertung einer anderen Selen-Supplementations-Studie keinen Hinweis auf eine diabetogene Wirkung des Selens [3].

Man fand doch aber, dass in einer Studie die Probanden mit höheren Plasmaselenspiegeln ein höheres Risiko aufwiesen, an Typ 2 Diabetes zu erkranken.

In dieser Studie wurden die Probanden nicht in Bezug auf mögliche Risikofaktoren für Diabetes ausgewählt. Es waren vermutlich bereits Prädiabetiker unter ihnen. Da Diabetes mit Änderungen der Blutzusammensetzung verbunden ist, muss man bei der Interpretation der Selenwerte vorsichtig sein, denn man fand, dass bereits juvenile Diabetiker oft erhöhte Blut- oder Serumselenwerte aufweisen, ohne dass sie je Selen einnahmen [5].

Was haben Sie zu der Großstudie zu sagen, bei der Selengaben keine Erniedrigung der Prostatakrebsinzidenz bewirkte und die vorzeitig abgebrochen werden musste?

Das war die sog. SELECT-Studie [4]. Das Akronym SELECT steht für „Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial”. In dieser wollte man herausfinden, ob man durch Gaben von Selen oder Vitamin E bzw. von beiden zusammen, eine Senkung der Prostatakrebsinzidenz bei älteren Männern erzielen kann. Dass eine derartige Studie – zumindest was das Selen betrifft – Aussicht auf Erfolg hatte, wusste man aus den Ergebnissen der sog. Clark-Studie [2], die in den USA auch „NPC-Trial” genannt wird (NPC steht für „Nutritional Prevention of Cancer”). In dieser placebokontrollierten Studie erbrachte die Einnahme von 200 μg Selen nicht nur eine wesentliche Senkung der Inzidenz von Prostatakarzinomen, sondern auch von Lungen-, Dickdarm- und Rektumkarzinomen. Der Schutzeffekt des Selens war hier zu erkennen, weil man die Teilnehmer an dieser Studie aus natürlich selenarmen Gebieten der USA rekrutiert hatte. Die Teilnehmer von SELECT holte man sich dagegen aus selenadäquaten Gegenden der USA, Kanadas und Puerto Ricos. Dies hatte zur Folge, dass auch die Probanden in der Placebogruppe schon recht hohe Seleneinnahmen hatten und eine zusätzliche Schutzwirkung des Selens in den Verumgruppen nicht mehr zu beobachten war. Insgesamt war die Inzidenz von Prostatakarzinomen in allen Gruppen von SELECT vergleichsweise niedrig.

SELECT wurde dennoch vorzeitig abgebrochen – warum?

Die Studie musste beendet werden, weil in der Vitamin-E-Gruppe etwas mehr Prostatakrebsfälle auftraten als in den übrigen Gruppen [4]. Vermutlich war die Dosierung des Vitamin E zu hoch. Ich will damit nicht sagen, dass Vitamin E Prostatakarzinome verursacht, sondern nur, dass man es langfristig nicht in pharmakologischer Dosierung einnehmen sollte.

Kann das schlechte Abschneiden von Vitamin E in der SELECT-Studie daran gelegen haben, dass synthetisches und kein natürliches verwendet wurde?

Der Grund war meines Erachtens, dass Vitamin E langfristig in zu hoher Dosierung eingenommen wurde.

Gerade eben wurden die Ergebnisse einer europäischen prospektiven Großstudie veröffentlicht, bei der aber keine Zusammenhänge zwischen niedrigen Plasmaselenspiegeln und dem Prostatakrebsrisiko gefunden wurden. Was haben Sie hierzu zu sagen?

Es handelte sich hier um die sog. EPIC-Studie (European Prospective Investigation Into Cancer and Nutrition) [1]. An dieser nahmen 8 Staaten teil (Dänemark, Niederlande, Italien, Spanien, Großbritannien, Griechenland, Deutschland und Schweden). Was man bei dieser Studie leider übersah, ist dass die Selenaufnahmen in den Mitgliedsstaaten dank der Regelungen der Europäischen Union fast gleich und diese außerdem noch recht niedrig sind. Die bei den männlichen Probanden in den 8 Staaten gemessenen Serumselenwerte lagen nur zwischen 63,2 und 76,3 μg/l. Berücksichtigt man außerdem, dass die Fehlergrenzen bei den Selenbestimmungen bei ± 4,8 % lagen, musste diese Studie wegen den zu geringen Unterschieden der Serumselenwerte der Teilnehmer schief gehen.

Wie müsste, Ihrer Meinung nach, eine Studie zur Prostatakrebsprävention konzipiert werden?

Zunächst: Ich bin kein Freund von Großstudien, nicht nur, weil diese außerordentlich aufwendig sind, sondern auch weil die dabei möglichen Fehlerquellen sehr groß sind. Eine Studie zur nutritiven Prostatakrebsprävention müsste, weil die Krankheit sich langsam über viele Jahre hinweg entwickelt, schon mit ganz jungen Männern, möglichst vor dem Beginn ihrer Pubertät, beginnen. Eine derartige Studie würde dann aber 4–5 Jahrzehnte dauern müssen und wäre somit praktisch nicht durchführbar. Es gibt aber doch schon genügend Hinweise, dass Selen das Prostatakrebsrisiko mindert. So ist die Prostatakarzinominzidenz in Japan niedrig, weil die Selenaufnahme von Japanern, die sich traditionell ernähren, 2- bis 3-mal höher ist als die von Amerikanern oder Europäern. Wandern Japaner aber in andere Länder aus, so verringert sich deren Seleneinnahme wegen unvermeidlicher Änderungen ihrer Ernährungsweise und ihr Risiko an Krebs zu erkranken erhöht sich. So zeigte eine Untersuchung von in Sao Paulo lebenden Japanern, dass diese eine im Vergleich zu nicht emigrierten Japanern niedrigere Serum-Selen-Werte und höhere Krebsinzidenz der Prostata, des Dickdarms und der Lunge aufwiesen [13].

Gibt es ähnliche Beobachtungen auch für Brustkrebs?

Dass Japanerinnen, die in die USA auswanderten, nach einer Generation das Brustkrebsrisiko ihres Gastlands aufweisen, weiß man schon seit geraumer Zeit. Die zunehmende „Verwestlichung” der japanischen Ernährung in den letzten Jahrzehnten hat inzwischen dazu geführt, dass sich die Selenaufnahmen auch der ansässigen Japaner verringerten und Brustkrebs und andere in Japan vorher seltene Krebsarten nunmehr häufiger auftreten.

Was würden sie dementsprechend zur Brustkrebsverhütung empfehlen?

In einer 1985 durchgeführten Studie fanden wir bei gesunden Japanerinnen Blutselenwerte von 0,25–0,30 μg/ml [9], was einer mindestens 3-fach höheren Selenaufnahme entspricht als man sie in Deutschland erreicht. Hauptselenquellen der Japanerinnen sind Seefische und Reis. Die traditionelle japanische Diät ist aber auch fettarm und der Zuckerverzehr ist niedrig. Zur Bestätigung der These, wonach die japanische Diät das Brustkrebsrisiko erniedrigt, führten wir Versuche mit Mäusen eines Stammes durch, in dem weibliche Tiere mit hoher Inzidenz spontan Adenokarzinome der Brustdrüse entwickeln. Fast alle Tiere, die ein der typischen amerikanischen Ernährungsweise entsprechendes Futter erhielten, entwickelten Tumoren der Brustdrüse. Bei „japanisch” ernährten Mäusen war die Tumorinzidenz signifikant niedriger, und wir konnten zeigen, dass dies auf den höheren Selengehalt des Futters zurückzuführen war [8]. Ich empfehle Frauen zur Minderung ihres Brustkrebsrisikos, sich möglichst nach japanischer Art zu ernähren, was in Deutschland recht gut möglich ist.

Die Selenspiegel sind in Amerika im Durchschnitt ja viel höher als in Deutschland. Gibt es in den USA dann auch viel weniger Brust-, Prostata- und Kolonkrebs als in Deutschland?

In den USA gibt es selenreiche und selenarme Gebiete und natürlich auch einen Mittelbereich. In den selenarmen Gebieten entsprechen die Selenaufnahmen mit der Nahrung etwa denen in Deutschland. In den selenreichen, die weniger dicht besiedelt sind, betragen sie das 2- bis 3-Fache. Durch Selenbestimmungen im Vollblut von gesunden Erwachsenen in verschiedenen US-Staaten konnten wir wesentliche Unterschiede beobachten und zeigen, dass z. B. die Brustkrebssterblichkeiten in den selenarmen Staaten um 50–70 % höher sind als in den selenreichen [10]. Mit Daten aus 19 US-Staaten war der inverse Zusammenhang zwischen den alterskorrigierten Brustkrebssterblichkeiten und den Blutselenwerten statistisch hoch signifikant r = 0,70, p < 0,001. Signifikante inverse Zusammenhänge wurden auch zwischen den Blutselenwerten und den alterskorrigierten Todesraten für Krebs des Dickdarms, Rektums, der Eierstöcke, Krebs im Mund-Hals-Bereich, der Blase, der Bauchspeicheldrüse gefunden. Bei einigen Krebsarten waren die inversen Zusammenhänge weniger signifikant, z. B. bei Lungenkrebs der Männer betrug der Korrelationskoeffizient r = 0,43, was p = 0,06 entspricht. Bei Frauen betrug r = 0,42, p = 0,08. Mit Daten aus 22 Ländern war der inverse Zusammenhang zwischen den Blutselenwerten und der Lungenkrebssterblichkeit bei Männern mit r = 0,72 statistisch hoch signifikant (p = 0,001), bei Frauen − 0,43 (p = 0,05). Die Prostatakrebssterblichkeiten in diesen 19 US-Staaten korrelierten mit den Blutselenwerten nur schwach invers (r = 0,10, p = 0,67), was wohl daher kommt, dass die meisten Männer erst operiert wurden und nicht eigentlich an Prostatakrebs verstarben, sondern an dessen Folgekrankheiten. Mit internationalen Daten aus 22 Ländern war der inverse Zusammenhang zwischen der Prostatakrebssterblichkeit und den Blutselenwerten jedoch statistisch hoch signifikant, mit r = − 0,72, p < 0,001 [10].

Würden Sie somit zur Erniedrigung des Prostatakrebsrisikos auch deutschen Männern empfehlen, sich nach japanischer Art zu ernähren?

Unbedingt. Wer das nicht will – und dies gilt auch für Frauen – sollte weniger Fleisch, Zucker und Fett verzehren und stattdessen mehr Vollkornprodukte und Gemüse essen, und dazu pro Tag 200 μg Selen einnehmen, weil der Selengehalt europäischer Getreideprodukte niedrig ist.

Was ist über den Mechanismus der antikanzerogenen Krebswirkungen des Selens bekannt?

Selen hat ein ungewöhnlich breites Wirkungsspektrum. Am besten bekannt ist, dass es Sauerstoffradikalschädigungen verhütet und dadurch antimutagen wirkt. Selen wird jedoch auch für die Aufrechterhaltung der Immunfunktionen benötigt, schützt vor toxischen Schwermetallen und anderen Umweltschadstoffen. Selenenzyme sorgen dafür, dass die Zellteilung geordnet abläuft und nicht zu rasch, sodass DNS-Reparaturvorgänge stattfinden können. Bei den Schutzwirkungen gegen toxische Schwermetalle ist zu beachten, dass das Selen hierdurch selbst metabolisch inaktiviert wird. Bei Schwermetallbelastungen muss also mehr Selen zugeführt werden.

Sie empfehlen somit nach wie vor Selen zur Krebsvorsorge?

Unbedingt, denn Deutschland ist ein selenarmes Land, und seit man wegen der EU-Abkommen keinen kanadischen Weizen mehr importiert und ihn stattdessen aus Mitgliedsstaaten der EU bezieht, hat sich die Selenversorgung deutlich verschlechtert.

Halten Sie den Einsatz von Selen auch bei onkologischen Patienten für sinnvoll?

Krebspatienten weisen meist bereits vor der Therapie Selendefizite auf. Krankheitsbedingt kann sich auch die Selenretention verschlechtern, d. h. sie scheiden mehr Selen aus als Gesunde und können somit leicht in einen Mangelzustand geraten. Vor jeder Therapie sollten Selendefizite durch Substitution beseitigt werden. Auch während der Therapie sind Selengaben angezeigt. Selen setzt die Nebenwirkungen der Chemotherapie herab, ohne deren Wirkungsweise negativ zu beeinflussen. Die Einnahme von Selen vor, während und nach der Strahlentherapie sowie zur Behandlung des chronischen Lymphödems wird an deutschen Kliniken bereits durchgeführt.

Wie wichtig ist die vorherige Bestimmung des Selenspiegels vor der Selensubstitution bei Tumorpatienten? Sollte eher der Vollblut- oder der Serumspiegel bestimmt werden?

Selen wird vor der Behandlung und meist im Serum oder Plasma bestimmt. Diese Bestimmungen sind wichtig, damit der Arzt bei Regressforderungen einen Beweis in Händen hat, dass bei dem Patienten eine Selensubstitution notwendig war. Zur Selenbestimmung kann auch Fastenblut verwendet werden. Der Patient sollte befragt werden, ob er bereits von sich aus ein Selenpräparat einnimmt.

Krebskranke weisen häufig erniedrigte Serumselenwerte auf, man beachte aber, dass die Selenspiegel bei Nieren- und Leberkranken sowie bei Alkoholikern erhöht sein können. Falsch erhöhte Selenspiegel werden auch nach der Einnahme von Diuretika oder nach ungenügender Flüssigkeitszufuhr beobachtet. Selenbestimmungen im Vollblut zeigen den Selenstatus besser an, dennoch wird das Selen zumeist nur im Serum oder Plasma bestimmt, was eigentlich bedauerlich ist.

Wie sind die Dosierungsempfehlungen, insbesondere bei onkologischen Patienten?

Selen in der Onkologie muss man individualisieren, denn man wird sowohl mit übergewichtigen als auch kachektischen Patienten zu tun haben. Krebspatienten weisen im Vergleich zu Gesunden meist erniedrigte Serumselenspiegel auf, da sowohl die Krankheit als auch deren Therapie den Selenstatus negativ beeinflussen. Die Selenretention ist bei Krebspatienten allgemein vermindert, eine Strahlenbehandlung führt zu weiter vermehrter Selenausscheidung. Bestimmte Chemotherapeutika, z. B. die alkylierenden, können mit Selen reagieren und es metabolisch inaktivieren. Chirurgische Eingriffe können den Selenstatus ebenfalls verschlechtern. So kommt es wohl, dass erfahrene Onkologen mir immer wieder berichten, dass sie Krebspatienten mehr als üblich geben müssen, um die Selenspiegel zu optimieren. So sind denn auch Dosierungen von 1000 μg und mehr keineswegs ungewöhnlich.

Welche Kontraindikationen bestehen während der Chemotherapie oder bei Bestrahlung?

Es wird allgemein und zu Recht empfohlen, dass Patienten z. B. während der Strahlentherapie keine Antioxidanzien, wie etwa Vitamin E oder Vitamin A, einnehmen sollen. Nun wird aber leider auch vom Selen oft behauptet, dass es ein Antioxidans sei. Daher zögern manche Ärzte, ihren Patienten Selen zu geben. Selen ist aber kein Antioxidans im eigentlichen Sinne und gerade bei der Strahlentherapie haben sich Selengaben als besonders segensreich erwiesen. Man hat auch festgestellt, dass man mit Selen bestehende Resistenzen gegen bestimmte Chemotherapeutika aufheben kann. Kurz gesagt: Es gibt keine Kontraindikationen. Es muss jedoch darauf geachtet werden, dass das Natriumselenit nicht zusammen mit Vitamin C gegeben wird, weil dieses Selenit rasch zu elementarem Selen reduziert.

Ist die Kombination mit anderen biologischen Therapien z. B. mit Mistel oder Enzymen möglich?

Es wird manchmal behauptet, entgegen den oft über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen guter Vertreter dieser Heilmethoden, dass biologische Therapien eigentlich nutzlos sind. Das Problem ist deren oft mangelnde Reproduzierbarkeit. Ich gehe so weit zu behaupten, dass eine biologische Therapie nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn zuvor der Selenstatus des Patienten optimalisiert wird. Der Grund hierfür ist, dass das Selen immunpotenzierende Wirkungen besitzt, und die Wirkung biologischer Therapien wesentlich davon abhängt, wie gut das Immunsystem des Patienten funktioniert.

Gibt es Unterschiede zwischen Selensalz und biologisch gebundenem Selen? Sind sie austauschbar oder gibt es Situationen, in denen die Gabe als Salz oder biologisch gebunden besonders wichtig ist?

Unter Selensalz verstehen Sie wohl v.  a. das Natriumselenit, was wichtig ist, denn eines der in Deutschland bekanntesten Präparate (Selenase®) wurde kürzlich zum Arzneimittel des Jahres gewählt. Je nach der Dosierung kann das Natriumselenit sowohl zur Nahrungergänzung als auch als Arzneimittel verwendet werden. Unter biologisch gebundenem Selen ist das Selenomethionin die in Nahrungsmitteln und in der Selenhefe hauptsächlich vorkommende natürliche Selenverbindung [6]. Mit Selenhefe wurde in der Clark-Studie die krebsverhütende Wirkung des Selens nachgewiesen. Selenomethionin hat den Vorteil, dass es in das Körpereiweiß anstelle von Methionin eingebaut wird, sodass im Organismus Selenreserven aufgebaut werden können. Das geht mit Selenit nicht. Das Selen im Selenomethionin ist aber nicht unmittelbar bioverfügbar. Somit eignen sich selenomethioninhalte Supplemente v. a. zur Nahrungsergänzung, weniger zu therapeutischen Zwecken, da das Selenomethionin aus dem Körpereiweiß zu langsam freigesetzt und in reaktive Formen des Selens umgewandelt wird.

In der SELECT-Studie wurde ja organisches Selen verwendet. Kann das ein Grund für die nicht so gute präventive Wirkung auf das Prostata-Ca. gewesen sein?

In SELECT nahm man übrigens synthetisches Selenomethionin. Es ist aber nicht anzunehmen, dass die Studie deswegen versagte. Das Hauptproblem, wie schon erwähnt, lag bei der Rekrutierung der Teilnehmer.

Welche Gefahren, welches Nebenwirkungspotenzial besteht bei Selengabe?

Es gibt wohl kein anderes Spurenelement, dessen toxische Wirkungen gründlicher untersucht wurden als das Selen. Die häufigsten Vergiftungsfälle beim Selen werden durch Dosierungsfehler verursacht, z. B. weil unerfahrenes Personal Mikrogramm mit Milligramm verwechselt. Bei sachgemäßer Handhabung sind dagegen Vergiftungsfälle sehr selten, weil die Zeichen einer beginnenden Selenbelastung bei zu hohen Einnahmen sehr auffällig sind (Haarausfall, Störungen der Nagelbildung, übler Mundgeruch), dabei aber voll reversibel sind. Bei zu hohen Gaben von Natriumselenit stellen sich zudem rasch Übelkeit und Erbrechen ein. Eine Patientin, die irrtümlich einen Esslöffel Natriumselenit, ca. 12 g, in Wasser gelöst einnahm, erbrach sich unmittelbar danach heftig und entledigte sich rasch von etwa 90 % der eingenommenen Menge. Im akut vergifteten Zustand mit schwerster Übelkeit, Schweißausbrüchen, zeitweiliger Bewusstlosigkeit, Bauchschmerz, intestintalen und rektalen Blutungen wurde sie in die Intensivklinik eingeliefert, aber sie überlebte [7]. Chronische Selenvergiftungen traten in den Jahren 1961–1964 im Bezirk Enshi in der südchinesischen Provinz Hubei auf, als man stark selenhaltige Kohlenasche als Düngemittel für den Maisanbau verwendete. Die Selenaufnahmen erreichten bei einigen Bewohnern bis zu 38 mg pro Tag. Hauptsymptome der Vergiftung waren Haarverlust, Abfallen der Fingernägel und Störungen des ZNS, es kam jedoch zu keinen Todesfällen [7].

Bei welchen anderen Erkrankungen (neben Tumorerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, Autoimmunerkrankungen) ist eine Selengabe sinnvoll?

Sie greifen hier ein heißes Eisen an, denn bei dem ungewöhnlich breiten Wirkungsspektrum des Selens kann man viele Erkrankungen nennen, bei denen es positive Wirkung zeigen könnte. Man läuft dann Gefahr, von Kollegen als unkritisch oder überenthusiastisch angesehen zu werden. So möchte ich Ihre Frage dahingehend beantworten, dass das Problem nicht die Krankheiten, sondern die in vielen Ländern und Bevölkerungsschichten ungenügende Selenversorgung ist. Bei jedem Patienten sollte daher vor jeder Therapie ein bestehendes Selendefizit beseitigt werden. Auch während der Therapie sind Selengaben angezeigt. Das gilt sowohl für chronische als auch akute, lebensbedrohliche Krankheitszustände.

Herr Schrauzer, zum Schluss noch eine persönliche Frage, die Sie aber nicht beantworten müssen. Es wurde uns zugetragen, dass Sie im Oktober vorigen Jahres erkrankten, und es sich dabei um eine Selenvergiftung handelte. Ist etwas wahr an diesem Gerücht?

Wahr ist, dass ich am 31.10.2008 in Baden-Baden an einer kardialen Durchblutungsstörung erkrankte, wohl mit hervorgerufen durch zu geringe Flüssigkeitszufuhr während meiner langen Anreise. Sobald ich dies bemerkte, nahm ich 2 × 200 μg Selen ein, denn die inotropen Wirkungen des Selenits waren mir bekannt. Das war aber keineswegs eine toxische Selendosis! Schon wenige Minuten danach ging es mir besser und nach weiterer, guter medizinischer Versorgung durch Prof. Keller und seinem Team im Kreiskrankenhaus Rastatt erholte ich mich rasch, sodass ich schon nach einer Woche meinen Rückflug antreten konnte, und inzwischen wieder „ganz der Alte” bin.

Herr Professor Schrauzer, es freut uns, dass es Ihnen wieder gut geht und wir bedanken uns für dieses Interview.

Literatur

  • 01 Allen N E, Appleby P N, Roddam A W. et al . Plasma selenium concentration and prostate cancer risk: results from the European Prospective Investigation into Cancer and nutrition (EPIC).  Am J Clin Nutr. 2008;  88 1567-1575
  • 02 Clark L C, Combs Jr G F, Turnbull B W. et al . The nutritional prevention of cancer with selenium 1983–1993: a randomized clinical trial.  J Am Med Assoc. 1996;  276 1957-1963
  • 03 Combs G F, Watts J J, Johnson L K, Canfield W K, Davis C D, Milner J A. Absence of diabetes indicators in a selenium-supplementation trial.  Journal of Federation of American Societies for Experimental Biology. 2008;  22 696.4
  • 04 Lippman S M. et al . Effect of selenium and vitamin E on risk of prostate cancer and other cancers. The selenium and vitamin E cancer prevention trial (SELECT).  JAMA. 2009;  301 (1) 39-51
  • 05 Lippman S M, Goodman P J, Klein E A. et al . Designing the Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial (SELECT).  J Natl Cancer Inst. 2005;  97 94-102
  • 06 Schrauzer G N. The nutritional significance, metabolism and toxicology of selenomethionine.  Advances in Food and Nutrition Res. 2003;  47 73-112
  • 07 Schrauzer G N. Selen – Neue Entwicklungen aus der Biologie, Biochemie und Medizin. 32. Aufl. Heidelberg, Leipzig; Johann Ambrodius Barth 1998: 55-56
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  • 10 Schrauzer G N, White D A, Schneider C J. Cancer Mortality Correlation Studies, III. Statistical associations with dietary selenium intakes.  Bioinorg Chem. 1977;  7 23-34
  • 11 Schrauzer G N. Selen – Neue Entwicklungen aus der Biologie, Biochemie und Medizin. 32. Aufl. Heidelberg, Leipzig; Johann Ambrodius Barth 1998: 51-53
  • 12 Stranges S, Marshall J R, Natarajan R. et al . Effects of long-term selenium supplementation on the incidence of type 2 diabetes: a randomised trial.  Ann Intern Med. 2007;  147 217-223
  • 13 Tsugane S, Souza J de M P, Costa M L. et al . Cancer incidence rates among Japanese immigrants in the City of Sao Paulo, Brazil.  Cancer Causes & Control. 1990;  1 189-193
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