Sprache · Stimme · Gehör 2009; 33(3): 153-154
DOI: 10.1055/s-0029-1241778
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Einseitige und minimale Schwerhörigkeiten

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Publication Date:
12 October 2009 (online)

Wie man bei Kindern mit deutlichen Schwerhörigkeiten, d.h. geringgradig bis hochgradig, zu verfahren hat, ist geregelt und die Erfahrung zeigt, dass diese Versorgungen in der Regel auch erfolgreich sind. Doch was ist zu tun, wenn Hörverluste an der Nachweisgrenze vorliegen, sog. minimale Hörverluste (minimal hearing loss), oder sie nur einseitig vorhanden sind (unilateral hearing loss)? In solchen Fällen gehen die Meinungen über die Behandlung - oder Nichtbehandlung - unter Ärzten, Audiologen und Akustikern weit auseinander.

? Frau Meier, unter einer einseitigen Schwerhörigkeit werden sich die meisten Leser etwas vorstellen können, aber was ist eine "minimale" Schwerhörigkeit überhaupt?

Die Einteilung der Schwerhörigkeit kann sehr grob anhand des mittleren Hörverlusts im Tonaudiogramm im Frequenzbereich von 500Hz bis 4000Hz eingeschätzt werden. Bei einer mittleren Hörschwelle von 0-20dB wird allgemein von einer Normalhörigkeit gesprochen und bei 20-40dB von einer geringgradigen Schwerhörigkeit. Die mittelgradige Schwerhörigkeit liegt zwischen 40dB und 60dB. Oberhalb 60dB liegt eine hochgradige Schwerhörigkeit vor und oberhalb 90dB spricht man von einer Resthörigkeit.

Die minimale Schwerhörigkeit liegt nun im Bereich von 16-30dB, also im Übergangsbereich zwischen Normalhörigkeit und geringgradiger Schwerhörigkeit. Wichtig ist zu wissen, dass die minimale Schwerhörigkeit im Rahmen des universellen Neugeborenen-Hörscreenings nicht entdeckt wird.

? Häufig werden die Schwerhörigkeiten als nicht bedeutsam eingestuft und sehr zurückhaltend behandelt. Ist dies etwa falsch?

In klassischen Lehrbüchern geht man davon aus, dass geringgradige und minimale Schwerhörigkeiten nicht zu Spracherwerbsstörungen oder anderen Nachteilen führen. Neue Untersuchungen weisen aber nach, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Kinder doch unter diesen "leichten" Schwerhörigkeiten leidet.

Folgende Auswirkungen sind nachgewiesen worden:

entfernte Sprecher werden nicht richtig verstanden, häufige Missverständnisse Nachfragen notwendig, das als Unaufmerksamkeit getadelt wird, mehr als 25% der Unterrichtsinhalte können fehlen, "Hast Du nicht gehört?" – "Doch, aber nicht verstanden!", Zuhören im Störschall und bei Nachhall strengt an, schnellere Erschöpfung bzw. Ermüdung durch den Unterricht, Kinder benötigen nach dem Kindergarten- oder Schulbesuch eine "Hörpause" bzw. "Hörerholung", Verhaltensauffälligkeiten und Überforderung, ähnlich ADHS, AVWS oder Lernbehinderung.

Diese Kinder erreichen aufgrund ihrer minimalen Schwerhörigkeit ihr eigentliches Leistungsniveau nicht.

Diese neuen Erkenntnisse werden offensichtlich im deutschsprachigen Raum von vielen nicht gelesen und nicht beachtet, ganz anders als z.B. in Nordamerika, in England, Australien und Neuseeland.

? Sie sprechen mir aus der Seele! Um was für Schwerhörigkeiten handelt es sich? Sind es immer Innenohrschwerhörigkeiten?

Nein, eben nicht. Bei einem großen Anteil handelt es sich um Schallleitungsschwerhörigkeiten, die entweder aufgrund von Tubenventilationsstörungen oder nach operativer Behandlung vorhanden sind. Die minimale Innenohrschwerhörigkeit nimmt nur einen geringen Anteil ein.

? Wann sollte man an eine Behandlung mit Hörsystemen denken?

Zuerst muss eine Abklärung erfolgen, ob andere medizinische Behandlungen erfolgreich sind. Spracherwerbs-, Verhaltens- oder Lernstörungen sind ein deutliches Zeichen, dass diese Kinder die fehlenden akustischen Informationen ohne zusätzliche Unterstützung nicht mehr kompensieren können.

? Gibt es für geringgradige, minimale und einseitige Schwerhörigkeit spezielle Hörsystemtechniken und Anpassungsstrategien?

Zunächst wäre es hilfreich, wenn die Klassenraumakustik durch bautechnische Maßnahmen verbessert wird (passive Maßnahmen). Dazu gibt es Richtlinien, die aber kaum bekannt sind bzw. umgesetzt werden. Daneben wäre der Einsatz einer Klassenhöranlage auch an Regelschulen sinnvoll. Dazu wird die Sprache des Lehrers über Lautsprecher wiedergegeben. Dies wird in anderen Ländern z.T. auch schon umgesetzt (aktive Maßnahmen). Dies würde allen Schülern helfen, den Unterricht leichter zu verfolgen.

Als individuelle Lösung kann eine persönliche Höranlage (FM-Anlage) oder ein Hörsystem/Hörgerät angepasst werden. Bei der FM-Anlage wird die Sprache über Funk direkt in die Ohren des Schülers übertragen. Für die Hörsystemanpassung wird eine sog. "offene" Versorgung empfohlen. Dabei wird der Gehörgang so offen wie möglich gehalten, damit der Schall auch auf direktem Weg das Ohr erreichen kann und die Technik die hohen Frequenzen, die für die Verständlichkeit wichtig sind, verstärkt über die Hörhilfe liefert. Liegen schallleitungsbedingte Schwerhörigkeiten vor, werden Knochenleitungsversorgungen z.B. bei Gehörgangsatresien vorgenommen. Bei einer beidseitigen Schwerhörigkeit werden die Hörsysteme beidseitig angepasst.

Bei einseitiger Schwerhörigkeit werden bei Kindern – im Gegensatz zur Erwachsenenversorgung – trotzdem Trageversuche durchgeführt. Dafür wird zunächst nur das schwerhörige Ohr versorgt. Dies gelingt meist bis zu einer mittelgradigen Schwerhörigkeit. Bei hochgradigen Hörverlusten muss aufgrund des Überleitungseffekts (ab ca. 50dB wird der Schall auf die andere Seite übertragen) an eine Versorgung mit einer FM-Anlage auf der normalhörenden Seite gedacht werden. Gelegentlich werden auch sog. CROS (contralateral routing of signals)-Versorgungen durchgeführt. Dabei wird der Schall von der Seite mit dem Hörverlust auf die Gegenseite übertragen. Dies geschieht meist mit einer Brille, in der das Kabel verborgen ist. Auch Funklösungen sind möglich.

Weiß jeder Akustiker darüber Bescheid?

Die allgemeinen Grundlagen für die Hörsystemanpassung werden sowohl in der Gesellen- als auch in der Meisterausbildung gelehrt. Da die Anpassung bei Kindern zusätzliche Qualifikationen erfordert, wird eine spezielle Weiterbildung zum Pädakustiker empfohlen.

? Neuerdings sieht man Versorgungen mit dünnem Schallschlauch oder mit Gehörgangslautsprecher. Wann ist dies sinnvoll? Welche Vor- und Nachteile gibt es?

Diese Systeme sind aus kosmetischen Gründen sehr vorteilhaft. Die Verwendung eines Hörers/Lautsprechers im Gehörgang führt zu einer akustischen Erweiterung in der Übertragung. Die Systeme, bei denen ein dünner Schlauch zum Einsatz kommt, sind nicht so leistungsstark und können daher nur bei geringem Verstärkungsbedarf eingesetzt werden. Bei Erwachsenen werden sie häufig mit "Standardhalterungen" angepasst. Die Fixierung in der Ohrmuschel ist dabei nicht so fest wie mit einem individuellen Ohrpassstück. Dies ist aber bei Kindern besonders wichtig, da die Hörsysteme sonst aus dem Ohr herausfallen können und verloren gehen. Ob diese Systeme in Frage kommen, richtet sich nach der individuellen Gehörgangsgröße, dem Verstärkungsbedarf und dem Trageverhalten des Kindes.

? Wie groß ist die Erfolgsaussicht einer Behandlung bei minimaler/einseitiger Schwerhörigkeit?

Ein Erfahrungswert aus der Praxis sagt, dass bei der Hälfte der Kinder mit einseitigen bzw. minimalen Schwerhörigkeiten eine Verordnung für Hörsysteme im Sinne eines Behandlungsversuchs angezeigt ist. Davon wiederum wird die Hälfte den Trageversuch fortführen, weil sie mit den Hörsystemen Verbesserungen im schulischen Bereich erfahren. D.h. etwa ein Viertel der Kinder mit einseitiger oder minimaler Schwerhörigkeit benötigen Hörsysteme.

Das Interview führte Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck.

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