NOTARZT 2010; 26(3): 114-116
DOI: 10.1055/s-0030-1248437
Berufspolitik

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Gemeinsame Empfehlung zur Struktur einer zentralen interdisziplinären Notaufnahme

seitens der Fachgebiete mit hohem Notfallversorgungsanteil[1] Joint Recommendations for the Structure of a Central, Interdisciplinary Emergency Unit from the Viewpoint of Disciplines with High Contributions to Emergency ManagementA.  Gries1 , A.  Seekamp2 , T.  Welte3 , T.  Wygold4 , J.  Meixensberger5 , G.  Deuschl6 , M.  Galanski7 , G.  Sybrecht8 Mit Unterstützung des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten e. V. (BDA), des Berufsverbands der Deutschen Chirurgen e. V. (BDC) und des Berufsverbands der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (BVOU)
  • 1Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI)
  • 2Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e. V. (DGCH)
  • 3Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM)
  • 4Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, (GNP)
  • 5Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e. V. (DGNC)
  • 6Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN)
  • 7Deutsche Röntgengesellschaft e. V. (DRG)
  • 8Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI)
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 June 2010 (online)

Die Einrichtung zentraler Notaufnahmen ist vor 20–30 Jahren erstmalig beim Neubau von Großkliniken verwirklicht worden. Ausgangspunkt waren damals medizinische Überlegungen für Notfallpatienten so rasch wie möglich eine gezielte und fachspezifisch angemessene Behandlung gewährleisten zu können. Unter medizinischen und zunehmend auch unter wirtschaftlichen Aspekten scheint sich das Modell einer zentralen und interdisziplinären Notaufnahme unter bestimmten Voraussetzungen zu bewähren, wobei Daten zur Effizienz bezogen auf die Versorgungsstrukturen in Deutschland bislang über „Fallberichte” hinausgehend nicht verfügbar sind [1].

Unter dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck innerhalb des Gesundheitssystems einerseits und Änderungen bei der Verfügbarkeit ärztlicher Mitarbeiter andererseits, scheint es heute mehr als je zuvor erforderlich zu sein, medizinisch interdisziplinär genutzte Bereiche, dort wo es baulich und prozessual möglich ist, zu zentralisieren, d. h. gemeinsam zu nutzen [2]. Dies gilt auch für Notaufnahmen, die in Kliniken älterer Struktur noch für jedes Fachgebiet getrennt vorgehalten werden. Zentrale interdisziplinäre Notaufnahmen müssen vor allem die Fachkompetenz für die häufigsten und die relevanten medizinischen Bereiche tatsächlich an 365 Tagen und rund um die Uhr akut verfügbar vorhalten. Wird dies nicht gewährleistet, ist der Name irreführend! [3] [4]

Erfolgsberichte aus den USA oder anderen europäischen Ländern zum Thema Notfallaufnahme basieren auf teilweise sehr unterschiedlichen Versorgungsstrukturen und sind daher kritisch zu bewerten.

Aktuell setzen sich flächendeckend über das gesamte Bundesgebiet zahlreiche Klinika mit der Thematik zentraler Notaufnahmen auseinander [5]. Neben den erforderlichen strukturellen Veränderungen kam hiermit auch die Frage auf, ob der Bereich zentrale Notaufnahme nicht nur einen eigenen organisatorischen Bereich darstelle, sondern auch eine eigene medizinische Einheit bilde, die mit einer besonderen fachärztlichen Qualifikation auszustatten sei [6].

Vonseiten der Fachgebiete, die wesentlich an der Versorgung von Notfallpatienten beteiligt sind, wird dem Ansinnen eines eigenen Facharztes für die zentrale Notaufnahme – z. B. Facharzt für innerklinische Notfallmedizin – auf verschiedenen Ebenen entgegengehalten, dass eine rasche und qualifizierte Notfallversorgung von Patienten nach jeweiligem Facharztstandard weiterhin auch primär fachbezogen erfolgen muss und die Weiterbildung in diesem Sektor bereits fester Bestandteil einer jeden Facharztweiterbildung ist.

Häufig wird von den Befürwortern eines neuen Facharztes vor allem in der öffentlichen Diskussion auf die schlechte Qualität der Notfallversorgung und insbesondere ungeordnete Prozessabläufe – lange Wartezeiten hingewiesen [7]. Beide Argumente scheinen eher Ausdruck sowohl eines organisatorischen Defizits als auch eines Mangels an ausreichend vorgehaltenen personellen Ressourcen zu sein. Diese Defizite zu erkennen und im Sinne eines Qualitäts- und Risikomanagements zu beheben muss entschieden vor Ort angegangen werden.

Einzelne Fachgesellschaften haben zu dem hier diskutierten Thema aus ihrer fachspezifischen Sicht bereits Stellung genommen [8] [9]. Bei verschiedenen Krankheitsbildern konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass die adäquate und fachbezogene initiale Behandlung das patientenbezogene Behandlungsergebnis signifikant positiv beeinflusst [10] [11] [12] [13]. Dies gilt für den Herzinfarkt und den Schlaganfall, ebenso wie für die akute intrazerebrale oder intraabdominelle Blutung oder die Mehrfachverletzung eines Unfallopfers. Zeitliche Verzögerungen im Rahmen der Notfallbehandlung führen zu einer signifikanten Verlängerung der gesamten Behandlungsdauer und damit des stationären Aufenthaltes. Eine zentrale Notaufnahme, in der die Interdisziplinarität der Notfallversorgung gewährleistet wird, birgt daneben für die Patienten mit akuten und lebensbedrohenden Erkrankungen oder Verletzungen die Chance einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit („golden hour” der Schwerverletztenversorgung, der Behandlung von intrazerebralen Blutungen oder akuter respiratorisch / kardialer Erkrankungen).

Wichtig ist weiterhin die Feststellung, dass es bei der Mehrzahl der in einer Notaufnahme behandelten Patienten um die fachspezifische Entscheidung geht, ob eine stationäre Aufnahme erforderlich ist oder eine ambulante Versorgung ausreichend ist. Dazu ist eine entsprechende fachspezifische Kompetenz unverzichtbar.

Mit dem Ziel zum Thema zentrale interdisziplinäre Notaufnahme eine gemeinsame Empfehlung abzugeben, hat sich ein Arbeitskreis aus Vertretern der Fachgebiete der Anästhesiologie, der Chirurgie, der Inneren Medizin, der Neurochirurgie, der Neurologie, der Pädiatrie und der Radiologie etabliert und die hier dargestellten Thesen für die inhaltliche Ausrichtung einer zentralen Notaufnahme im gemeinsamen Konsens ausformuliert.

Geleitet sind diese Empfehlungen von dem Grundsatz, dass die Notfallbehandlung aller Patienten nach Klinikeinlieferung fachbezogen bzw. bei komplexen Erkrankungen / Verletzungen interdisziplinär erfolgen muss und hierzu die entsprechenden Maßnahmen – Organisation, Qualitäts- / Risikomanagement und bedarfsgerechte Allokation von fachärztlicher und pflegerischer Kompetenz – zwingend umgesetzt werden müssen. Eine zusätzliche fachärztliche Qualifikation als die in der jeweiligen Facharztqualifikation abgebildete Kompetenz der fachspezifischen Notfallbehandlung ist in unserem Versorgungssystem entbehrlich. Vielmehr garantiert die interdisziplinäre Kooperation der Fachgebiete, wie sie in der DIVI organisiert sind, die bestmögliche Versorgung.

Diese Erklärung stellt auf Grundlage bisheriger externer und interner Evidenz die strukturellen und personellen Voraussetzungen dar, die eine zentrale interdisziplinäre Notaufnahme zu erfüllen hat.

Dabei soll das Ziel einer bedarfsgerechten, qualitätsgesicherten Versorgung von verletzten oder akut erkrankten Patienten nachhaltig durch entsprechende organisatorische, strukturelle und qualifizierende Maßnahmen gefördert werden. Eine zentrale interdisziplinäre Notaufnahme kann hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Die begleitende Evaluation ist notwendig, um die auf Erfahrungen anderer Nationen basierenden Empfehlungen gegenüber den an unserer Versorgungswirklichkeit orientierten berufspolitischen Wünsche zu verifizieren oder falsifizieren. Diese als äußerst dringlich einzustufenden Untersuchungen müssen weiterhin analysieren, inwieweit der für eine kompetente Vorhaltung notwendige finanzielle Aufwand im derzeitigen G-DRG-System abgebildet wird.

Autorenschaft

Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI, Prof. Andre Gries*)

Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e. V. (DGCH#, Prof. Andreas Seekamp*)

Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM, Prof. Tobias Welte*)

Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, (GNPI, Dr. Thorsten Wygold*)

Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e. V. (DGNC, Prof. Jürgen Meixensberger*)

Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN, Prof. Günther Deuschl*)

Deutsche Röntgengesellschaft e. V. (DRG, Prof. Michael Galanski*)

Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI, Prof. Gerhard Sybrecht*)

* offiziell Beauftragter der genannten Fachgesellschaft

# als Dachgesellschaft der chirurgischen Fachgesellschaften: DGAV, DGG, DGKCH, DGNC, DGOOC, DGOU, DGPRÄC, DGT, DGTHG, DGU.

Mit Zustimmung der Berufsverbände Deutscher Anästhesisten (BDA), Deutscher Chirurgen (BDC) und der Orthopäden und Unfallchirurgen (BVOU).

Thesen zur interdisziplinären zentralen Notaufnahme 1. Die zentrale Notaufnahme (ZNA) ist zentrale Anlaufstelle eines Klinikums für alle ungeplant eintreffenden Patienten oder Notfallpatienten. Diese verbleiben entweder im Klinikum oder werden in ambulante Behandlung entlassen. In der ZNA erfolgt eine fachspezifische Behandlung und Diagnostik. Dafür steht ein multidisziplinäres Team der Fachrichtungen zur Verfügung, die dem Versorgungsauftrag der Klinik entsprechen. Wesentlich an der Versorgung beteiligte Fachgebiete sind: Anästhesiologie, Chirurgie, Innere Medizin, Neurologie, Neurochirurgie, Pädiatrie. Im Minimum muss die Notfallbehandlung in den Fachgebieten Anästhesiologie, Innere Medizin und Chirurgie sichergestellt sein. Die Versorgung in der ZNA muss rund um die Uhr vorgehalten werden. 2. Der zentralen Notaufnahme sollte eine Aufnahmestation zugeordnet sein. Hier sollen in der ZNA aufgenommene Patienten in der Regel unter 24 Stunden verbleiben bis der weitere Behandlungsweg medizinisch und organisatorisch geklärt ist. 3. Die Patientenbehandlung muss direkt und ohne Verzug fachbezogen und nach Facharztstandard erfolgen. Die medizinische Verantwortung verbleibt kontinuierlich bei der behandelnden Fachabteilung. 4. Für die Fälle bei denen die eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Fachabteilung nicht möglich ist, obliegt es der organisatorischen Verantwortung des Notaufnahmeleiters die Erstdiagnostik / -einschätzung und Behandlung sicherzustellen bzw. zu organisieren und eine Zuordnung vorzunehmen. 5. Die fachspezifische Notfallversorgung ist fester Bestandteil einer jeden Facharztausbildung und fachspezifischer Fortbildungsprogramme. Deshalb werden ein Facharzt für Notfallmedizin oder vergleichbare Weiterbildungen abgelehnt. Eine Mindestqualifikation für die Sicherstellung der Versorgungsqualität in der ZNA wird für erforderlich gehalten. Diese ist von den Fachgesellschaften zu definieren und muss von den in der ZNA tätigen Mitarbeitern erbracht werden. 6. Die Leitung einer zentralen Notaufnahme kann hauptamtlich einer Person übertragen werden. Hiermit verbunden sind in erster Linie organisatorische Aufgaben. Die betreffende Person sollte eine Facharztqualifikation in einem der in der Notaufnahme wesentlich beteiligten Fachgebiete aufweisen, darüber hinaus erscheint eine Zusatzqualifikation in Managementaufgaben sinnvoll. Das Curriculum für eine solche Zusatzqualifikation ist von den Fachgesellschaften unter Beachtung europäischer Empfehlungen gemeinsam auszugestalten.

1 Erstveröffentlichung des Beitrags in „Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie” 2010; 39 (2): 96–98.

Literatur

  • 1 Gimmler C, Somasundaram R, Wölfl C. et al . Interdisziplinäre Notfallaufnahme – aktueller Stand und Ausblick.  Anästhesiol Intensivmed. 2009;  50 108-119
  • 2 Lackner C K, Wendt M, Ahnefeld F W. et al . Von der Rettungskette zum akutmedizinischen Netzwerk.  Notfall Rettungsmed. 2009;  12 25-31
  • 3 Bernhard M, Pietsch C, Gries A. Die Interdisziplinäre Notfallaufnahme. Organisation, Struktur und Prozessoptimierung.  Anesthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2009;  44 454-459
  • 4 Zylka-Menhorn V. Die Leitlinien müssen eingehalten werden. Das Papier „Eckpunkte Notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung in Klinik und Präklinik”.  Dtsch Ärztebl. 2008;  38 A1956-A1957
  • 5 Platz E, Bey T, Walter F G. International report: current state and development of health insurance and emergency medicine in Germany. The influence of health insurance laws on the practice of emergency medicine in a European country.  J Emerg Med. 2003;  25 203-210
  • 6 Bey T A, Hahn S A, Moecke H. The current state of hospital-based emergency medicine in Germany.  Int J Emerg Med. 2008;  1 273-227
  • 7 Fleischmann T, Fulde G. Emergency medicine in modern Europe.  Emerg Med Australas. 2007;  19 300-302
  • 8 Deuschl G, Topka H, Heide W. et al . Die Versorgung neurologischer Patienten in der Notaufnahme.  Akt Neurol. 2009;  36 1-4
  • 9 Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin DGfC .Zur Problematik Zentraler Notaufnahmen. Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. 2006 (5. Okt. 2008): http:// http://www.dgch.de/downloads/dgch/Aktuelles/ZentrNotaufnahme_DGCH-DGIM_Vs_17_10_06.pdf
  • 10 Hacke W, Donnan G, Fieschi C. et al . Association of outcome with early stroke treatment: pooled analysis of ATLANTIS, ECASS, and NINDS rt-PA stroke trials.  Lancet. 2004;  363 768-774
  • 11 Marler J R, Tilley B C, Lu M. et al . Early stroke treatment associated with better outcome: the NINDS rt-PA stroke study.  Neurology. 2000;  55 1649-1655
  • 12 Proulx N, Frechette D, Toye B, Chan J, Kravcik S. Delays in the administration of antibiotics are associated with mortality from adult acute bacterial meningitis.  QJM. 2005;  98 291-298
  • 13 Velmahos G C, Fill C, Vassiliu P. et al . Around the clock attending radiology coverage is essential to avoid mistakes in the care of trauma patients.  Am Surg. 2001;  67 1175-1177

1 Erstveröffentlichung des Beitrags in „Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie” 2010; 39 (2): 96–98.

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