Einleitung/Hintergrund: Migranten sind unter gesundheitlichen Gesichtspunkten eine Gruppe mit besonderen
Risiken. Ein Grund dafür sind spezifische Expositionen in ihrem Lebenslauf. Die Anwendung
einer Lebenslaufperspektive bei der Erklärung gesundheitlicher Unterschiede ist in
anderen Themengebieten der Epidemiologie etabliert. Wir untersuchen, ob die bestehenden
Erklärungsmodelle aus dem Bereich Migration und Gesundheit, wie das „Health-Transition“-Modell,
für epidemiologische Studien zur Migrantengesundheit um eine Lebenslaufsperspektive
erweitert werden sollten. Methoden: Basierend auf bestehenden Erklärungsmodellen wurde ein neues Erklärungsmodell entwickelt.
Wir zogen anschließend empirische Ergebnisse aus eigenen epidemiologischen Arbeiten
zu Krebserkrankungen bei türkischen Kindern und Erwachsenen sowie der perinatalen
Gesundheit von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland heran und prüften,
inwieweit sie durch dieses um eine Lebenslaufperspektive erweiterte Modell erklärt
werden können. Ergebnisse: Expositionen vor, während und nach der Migration auf individueller und kontextueller
Ebene können durch das um eine Lebenslaufperspektive erweiterte Erklärungsmodell besser
in Beziehung zu den zeitlich dynamischen Risiken von Migranten gesetzt werden. Beispielsweise
können Unterschiede in frühkindlichen Expositionen vor der Migration zu Unterschieden
im Risiko für hämatologische Krebsarten, Magenkrebs und Leberkrebs bei türkischen
Migranten führen. Die ansteigende Rauchprävalenz türkischer Migrantinnen nach der
Migration erklärt deren in jüngeren Geburtskohorten steigenden Lungenkrebsinzidenzen.
Durch die Anwendung auf die Untersuchung von Geburtsoutcomes zeigt sich zudem, dass
das neue Modell in einer Variante nicht nur für die Situation selbsteingewanderter
Migranten (1. Generation), sondern auch für die derer Kinder (Migranten der 2. die
Generation), anwendbar ist. Diskussion/Schlussfolgerungen: Das neue Erklärungsmodell hat sich bei der Diskussion der empirischen Ergebnisse
bewährt. Die Erweiterung um eine Lebenslaufperspektive bietet der Migrationsepidemiologie
neue Ansätze bei der Interpretation und Erklärung von Studienergebnissen, aber auch
neue Möglichkeiten bei der Planung und Durchführung von Studien. Durch eine weitere
Entwicklung und weitere empirische Absicherung des neuen Modells, zum Beispiel durch
neue Studienansätze unter Einbeziehung der Situation in den Herkunftsländern der Migranten,
entstehen neue Perspektiven für die Theoriebildung und die Migrationsepidemiologie
insgesamt.