Gesundheitswesen 2010; 72 - V158
DOI: 10.1055/s-0030-1266338

Die Lebenslaufperspektive bei der epidemiologischen Untersuchung von gesundheitlichen Verhaltensweisen und Outcomes von Migranten

J Spallek 1, A Reeske 1, H Zeeb 1, O Razum 2
  • 1Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), Bremen
  • 2Universität Bielefeld, Bielefeld

Einleitung/Hintergrund: Migranten sind unter gesundheitlichen Gesichtspunkten eine Gruppe mit besonderen Risiken. Ein Grund dafür sind spezifische Expositionen in ihrem Lebenslauf. Die Anwendung einer Lebenslaufperspektive bei der Erklärung gesundheitlicher Unterschiede ist in anderen Themengebieten der Epidemiologie etabliert. Wir untersuchen, ob die bestehenden Erklärungsmodelle aus dem Bereich Migration und Gesundheit, wie das „Health-Transition“-Modell, für epidemiologische Studien zur Migrantengesundheit um eine Lebenslaufsperspektive erweitert werden sollten. Methoden: Basierend auf bestehenden Erklärungsmodellen wurde ein neues Erklärungsmodell entwickelt. Wir zogen anschließend empirische Ergebnisse aus eigenen epidemiologischen Arbeiten zu Krebserkrankungen bei türkischen Kindern und Erwachsenen sowie der perinatalen Gesundheit von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland heran und prüften, inwieweit sie durch dieses um eine Lebenslaufperspektive erweiterte Modell erklärt werden können. Ergebnisse: Expositionen vor, während und nach der Migration auf individueller und kontextueller Ebene können durch das um eine Lebenslaufperspektive erweiterte Erklärungsmodell besser in Beziehung zu den zeitlich dynamischen Risiken von Migranten gesetzt werden. Beispielsweise können Unterschiede in frühkindlichen Expositionen vor der Migration zu Unterschieden im Risiko für hämatologische Krebsarten, Magenkrebs und Leberkrebs bei türkischen Migranten führen. Die ansteigende Rauchprävalenz türkischer Migrantinnen nach der Migration erklärt deren in jüngeren Geburtskohorten steigenden Lungenkrebsinzidenzen. Durch die Anwendung auf die Untersuchung von Geburtsoutcomes zeigt sich zudem, dass das neue Modell in einer Variante nicht nur für die Situation selbsteingewanderter Migranten (1. Generation), sondern auch für die derer Kinder (Migranten der 2. die Generation), anwendbar ist. Diskussion/Schlussfolgerungen: Das neue Erklärungsmodell hat sich bei der Diskussion der empirischen Ergebnisse bewährt. Die Erweiterung um eine Lebenslaufperspektive bietet der Migrationsepidemiologie neue Ansätze bei der Interpretation und Erklärung von Studienergebnissen, aber auch neue Möglichkeiten bei der Planung und Durchführung von Studien. Durch eine weitere Entwicklung und weitere empirische Absicherung des neuen Modells, zum Beispiel durch neue Studienansätze unter Einbeziehung der Situation in den Herkunftsländern der Migranten, entstehen neue Perspektiven für die Theoriebildung und die Migrationsepidemiologie insgesamt.