Diabetes aktuell 2010; 8(6): 246-248
DOI: 10.1055/s-0030-1268089
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Patienten zu mehr Eigenveranwortung erziehen – Blutzucker-Selbstkontrolle heute - und in Zukunft?

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Publication Date:
25 October 2010 (online)

 

Nicht nur die Messgenauigkeit ist ein wichtiger Bestandteil im modernen Blutzucker-Selbstmanagement. Genau so wichtig ist eine genaue Information und Aufklärung der Patienten, damit sie die Ergebnisse richtig dokumentieren und analysieren können, um ihr Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu optimieren. Die Eigenverantwortung der Patienten steht im Mittelpunkt, das Selbstmanagement kann die Einstellung der Patienten und den Umgang mit ihrer Diabeteserkrankung positiv verändern. Nach einem Beschlussentwurf des G-BA sollen aber nicht insulinpflichtige Menschen mit Typ-2-Diabetes künftig die Teststreifen nicht mehr auf Rezept erhalten. Begründet wird dies damit, dass der Nutzen nicht belegt und die Blutzuckermessung damit als unwirtschaftlich einzustufen sei. Wie das Blutzucker-Selbstmanagement gestaltet werden muss, damit es Nutzen bringt, darüber sprach Susan Röse im Auftrag von Diabetes aktuell mit Prof. Stephan Martin.

Bild: Pitopia

? Kann sich der Patient bei modernen Blutzucker-Messgeräten auf die gemessenen Werte verlassen?

Martin: Die Genauigkeit von Blutzucker-Messgeräten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, Laborqualität wird jedoch noch nicht erreicht. Deshalb dürfen diese Geräte zur Diagnose des Diabetes mellitus nicht genutzt werden. Bei der Zulassung von Geräten und Teststreifen müssen die Firmen nachweisen, dass die Abweichungen weniger als 15 % betragen. Wie stark dies in der Praxis bei dem individuellen dann wirklich abweicht, ist wegen der fehlenden Kontrollmessungen schwer abschätzbar.

Für die Verlaufskontrolle kann sich der Patient bei Markengeräten und -teststreifen in der Regel auf die Werte verlassen. Bei Billiganbietern ist jedoch Vorsicht geboten, hier kann es zu erheblichen Abweichungen kommen. Wird dann die Insulinmenge aufgrund des gemessenen aktuellen Blutzuckerwertes und der geplanten Kohlenhydrataufnahme berechnet und spritzt der Patient bei einem zu hoch angezeigten Wert entsprechend zu viel Insulin, kann es zu schweren Unterzuckerungen kommen.

Die Frage des Nutzens der Blutzucker-Selbstmessung stellt sich für Personen anders, die Insulin spritzen oder andere Medikamente einnehmen, die zu Unterzuckerungen führen können, als für Personen, die keine entsprechenden Medikamente erhalten. In der ersten Gruppe stellt die Blutzucker-Selbstkontrolle ein Sicherheitsinstrument dar, das zur Vermeidung oder Früherkennung von Unterzuckerungen dient. Bei einer intensivierten Insulintherapie stellt der Blutzucker die Berechnungsgrundlage für die zu injizierende Insulinmenge dar. Zum Nutzen der Blutzucker-Selbstkontrolle bei Personen, deren Diabetes entweder nur mittels Diät oder mit Medikamenten ohne Unterzuckerungsgefahren behandelt wird, gibt es aktuell eine heftige Diskussion. Dabei muss man bedenken, dass die Blutzucker-Selbstkontrolle ein Diagnoseinstrument ist und dass sich daraus therapeutische Konsequenzen ergeben müssen. Im Rahmen einer großen epidemiologischen Kohortenstudie, der sogenannten ROSSO-Studie, konnten wir zeigen, dass bei Personen, die regelmäßig den Blutzucker messen, weniger Herzinfarkte oder Schlaganfälle auftraten als in der Vergleichgruppe ohne entsprechende Messungen. Sogar die Überlebensrate war statistisch signifikant höher. Da man den erhöhten Blutzucker nicht bemerkt, verhalten sich vermutlich Personen, die den Blutzucker regelmäßig messen, anders als Personen mit einer geringeren Eigenverantwortung.

? Was verstehen Sie unter einem modernen Blutzucker-Selbstmanagement? Welche Tipps geben Sie?

Martin: Eine Messung macht nur zu definierten Zeitpunkten einen Sinn, da sich der Blutzucker speziell nach Mahlzeiten sehr schnell verändert. So ist es sinnvoll, den Blutzucker strukturiert vor den Hauptmahlzeiten und ca. 90-120 Minuten danach zu messen. Dann kann man sehr gut erkennen, wie sich die Mahlzeit auf den Blutzucker ausgewirkt hat. Enthält die Mahlzeit Nahrungsmittel mit einem hohen glykämischen Index, zum Beispiel ein weißes Brötchen oder ein zuckerhaltiges Getränk, steigt der Blutzucker wesentlich schneller und höher an als bei Vollkornprodukten. Mit dieser Form der "erlebnisgesteuerten" Blutzuckermessung können die Betroffenen sehr schön sehen, was sich günstig und was sich weniger günstig auf den Blutzucker auswirkt. Auch das Potenzial von Bewegung ist schnell ablesbar, ein etwas längerer Spaziergang am Abend führt am kommenden Morgen zu deutlich niedrigeren Blutzuckerwerten. Broschüren mit weiteren Tipps können bei der Stiftung "Motivation zur Lebensstiländerung - Chance bei Diabetes", einer Tochterstiftung der Deutschen Diabetes-Stiftung, von der Homepage kostenlos herunter geladen werden (http://www.chance-bei-diabetes.de/).

? Welche Faktoren bestimmen die Qualität der Blutzucker-Selbstkontrolle?

Martin: Die Qualität der Blutzuckermessung hängt vom Gerät ab. Aber auch der Anwender kann eine Reihe von Fehlern machen, die zu falschen Ergebnissen führen. Wichtig ist beispielsweise, dass keine Zuckerrückstände an den Fingern sind. Deshalb sollten die Hände am besten kurz vor der Messung gewaschen werden. Wir erleben es in der Klinik immer wieder, dass unerklärlich hohe Blutzuckerwerte dadurch entstehen, dass kurz vorher ein Gummibärchen angefasst wurde. Wird dann an einem anderen, sauberen Finger erneut gemessen, liegt der Wert deutlich niedriger. Auch sollte man starkes Quetschen der Finger vermeiden, auch hierdurch können ungenaue Werte entstehen. Jedoch benötigen die modernen Blutzuckergeräte nur noch so wenig Blut, das dieses Problem immer stärker in den Hintergrund rückt.

? Gibt es Nachteile oder kritische Punkte bei der Blutzucker-Selbstkontrolle?

Martin: In einer Studie aus England hat man eine höhere emotionale Belastung bei Personen festgestellt, die man aufgefordert hat, sehr häufig den Blutzucker zu messen. Einige Wissenschaftler fordern daher, Personen mit Diabetes mellitus, die noch keine Insulintherapie benötigen, den Blutzucker lieber nicht messen zu lassen. In anderen Studien konnte dies aber nicht nachgewiesen werden, es gibt sogar Studien, die eine Verbesserung der emotionalen Belastung zeigen. Entscheidende Unterschiede in diesen Studien waren Hinweise an die Patienten, was sie mit den Ergebnissen der Blutuntersuchung machen sollten. Lässt man die Patienten mit den Ergebnissen alleine, dann steigt die Sorge. Gibt man jedoch Hinweise, wie man durch Lebensstiländerungen die Werte beeinflussen kann, dann sinkt das Sorgenpotenzial. Bei dieser Diskussion in der Ärzteschaft treffen in der Regel zwei Gruppen aufeinander, die unterschiedliche Therapiealgorithmen verfolgen: Die eine Gruppe verfolgt stärker die Intensivierung der pharmakologischen Therapie, die andere versucht, die Betroffenen zu Umstellungen im Lebensstil zu motivieren. Derzeit hat die erste Gruppe in den ärztlichen Gremien wie auch in der Gesundheitspolitik aktuell noch eine deutliche Mehrheit.

? Sie haben vorhin die ROSSO-Studie genannt. Können Sie dazu etwas sagen?

Martin: Bei der ROSSO-Praxisstudie haben wir uns die Frage gestellt, ob es durch eine strukturierte Blutzuckermessung zu einer Änderung des Lebensstils kommt und ob dies einen Einfluss auf kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Blutzucker, Blutdruck und Blutfette hat. Das Ergebnis dieser an über 300 Personen mit Typ-2- Diabetes durchgeführten Studie hat auch uns überrascht: Es kam zu einer deutlich gesteigerten körperlichen Aktivität und einer gesünderen Ernährung und sowohl der mittlere HbA1c als auch die Blutdruck- und Blutfettwerte sanken signifikant ab. Die Ergebnisse wurden vor wenigen Wochen in einem internationalen wissenschaftlichen Journal publiziert (Diabetes, Technology and Therapeutics 2010; 12: 547-553). Das identische Studiendesign haben wir dann in der ROSSO International Studie in Bulgarien mit einem randomisierten Design und einer Kontrollgruppe durchgeführt. Die Ergebnisse, die wir auf der Jahrestagung der amerikanischen Diabetesgesellschaft im Juni in Orlando präsentiert haben, bestätigten eindrücklich die Ergebnisse der ROSSO-Praxisstudie.

? Wie sehen Sie die Blutzucker-Selbstkontrolle in der Zukunft? Wird es neue Studien und Erkenntnisse geben, vielleicht sogar prospektive Studien über einen Zeitraum von mehreren Jahren?

Martin: Ich hoffe, dass Ärzteschaft und Politik zunehmend erkennen werden, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Erkrankungen, die wie der Typ-2-Diabetes mit durch den Lebensstil ausgelöst werden, zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung motiviert werden müssen. Aktuell werden die Menschen, die sich für ihren Körper engagieren, eher bestraft. Zum Beispiel wird ein übergewichtiger Patient mit Typ-2-Diabetes, der nach der Insulinspritze verlangt, weil er keine Lust auf Lebensstiländerung hat, ohne Probleme Insulin und Blutzuckermessstreifen bekommen. Die jährlichen Kosten übersteigen dabei sehr schnell 2000 bis 3000 €. Der Patient dagegen, der sich bemüht und der versucht, durch mehr Bewegung und gesunde Ernährung die Erkrankung in den Griff zu bekommen, erhält noch nicht einmal die Kosten für die Teststreifen zur Blutzucker-Selbstkontrolle erstattet. Dabei ist die Bedeutung der Lebensstiländerung bei der Prävention und Behandlung des Typ-2-Diabetes wissenschaftlich sehr gut belegt. Und die Blutzucker-Selbstkontrolle ist integraler Bestandteil der Schulung und Motivation der Patienten. Es ist sehr schwierig, dies in großen Studien nachzuweisen, denn hier geht es nicht um eine Therapie, sondern um eine diagnostische Maßnahme, aus der sich therapeutische Konsequenzen ergeben müssen. Auch für die Darmspiegelung ist bisher eine Lebensverlängerung nicht nachgewiesen, aber sie wird dennoch als vernünftiges Vorsorgeinstrument von den gesetzlichen Krankenkassen empfohlen und finanziert. Wenn wir nun für die Blutzuckerselbstkontrolle eine prospektive randomisierte Studie planen würden, dann müsste diese unbedingt auch doppelblind sein. Das würde bedeuten, beide Gruppen messen den Blutzucker, wobei die eine Gruppe reelle Werte und die andere zufällige Blutzuckerwerte angezeigt bekommt. Eine solche Studie müsste über viele Jahre hinweg durchgeführt werden, um zu prüfen, wie häufig Herzinfarkte oder Schlaganfälle auftreten - und sie wäre mit einem solchen Design ethisch absolut nicht zulässig.

Ich wünsche mir für die Zukunft, dass im Gesundheitswesen irgendwann auch mal wieder die Vernunft Einzug hält und dass man sich die Ursachen der Erkrankungen vor Augen hält. Wir sitzen uns zu Tode und für unser im Durchschnitt geringes Ausmaß an Bewegung essen wir einfach viel zu viel. Hier sind nicht die Gene verantwortlich, sondern die Glotze. Wir werden keine Pille finden, die die Defizite dieses menschlichen Fehlverhaltens korrigiert. Da ist jeder für sich selbst verantwortlich und wenn die Nahrungsmittelindustrie so gerne angegriffen wird, dann sollten wir die Fernsehgesellschaften darüber nicht vergessen. Die durch das Fernsehen verursachte Inaktivität ist sicher für genauso viele Todesfälle verantwortlich wie die Zigarettenindustrie.

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