Zentralbl Chir 2012; 137(4): 322
DOI: 10.1055/s-0032-1315216
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beckenbodenfunktionsstörungen

Functional Disorders of the Pelvic Diaphragm
G. Ruf
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Publication Date:
29 August 2012 (online)

Funktionelle Störungen des Beckenbodens und der Beckenorgane werden unter Anderem als Entleerungsstörung des Darmes symptomatisch. Zu differenzieren ist hierbei die Inkontinenz von der Obstruktion (ODS). Die enge topografische Beziehung der benachbarten Organe und Strukturen erklärt die Komplexität der Störungen.

Als Stuhlinkontinenz bezeichnet man die fehlende oder ungenügende Fähigkeit, den Darminhalt zu speichern und selbst zu bestimmen, wann und wo er entleert werden soll. Die Prävalenz wird in Deutschland auf 4–5 Millionen Betroffene geschätzt, genaue epidemiologische Daten liegen nicht vor.

Die Stuhlinkontinenz ist in erster Linie ein Symptom verschiedener Ursachen und keine Diagnose. Zentrale Fragen sind die Lokalisation der Ursache – Beckenboden oder Kolon – und die Unterscheidung morphologischer und funktioneller Störungen. Morphologische Ursachen lassen sich in muskuläre oder neurologische Läsionen differenzieren, die funktionelle Störung ist auf einen Prolaps unterschiedlichen Ausmaßes zurückzuführen.

In der Diagnostik hat neben der proktologischen Untersuchung mit Endosonografie zur Beurteilung der Sphinkterintegrität bzw. Funktion die dynamische MR-Defäkografie eine zentrale Stellung erhalten. Mit dieser Methode ist es möglich, das Zusammenspiel der Beckenorgane/des Beckenbodens zu visualisieren. Die Manometrie dient weniger der Diagnosestellung (Schweregrad) als vielmehr der Beurteilung des Therapieergebnisses.

Die Behandlung der Stuhlinkontinenz erfolgt in Abhängigkeit vom Schweregrad konservativ und/oder operativ. Die Maßnahmen Ernährungsberatung, Stuhlregulation, Physiotherapie mit Elektrostimulation bzw. Biofeedback-Therapie sind von besonderer Bedeutung. Durch konsequente Anwendung dieser Maßnahmen ist bei vielen Patienten eine ausreichende Kontinenzleistung zu erzielen, die es dem Patienten ermöglicht, weitgehend ungestört am sozialen Leben teilzuhaben.

In den anderen Fällen reichen die chirurgischen Therapieoptionen bei direkter Muskelschädigung von der Rekonstruktion des Sphinkters über die sakrale Nervenstimulation bis zur dynamischen Schließmuskelersatzplastik (Musculus gracilis). Als Ultima Ratio ist die Implantation eines artifiziellen Sphinkters anzusehen.

Von besonderem chirurgischen Interesse ist zunehmend die Tatsache, dass Kontinenzstörungen nach tiefen anterioren Rektumresektionen bei Rektumkarzinomen mit der sakralen Nervenstimulation erfolgreich beseitigt werden können. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass bei unbefriedigender Wiederherstellung der Kontinenzleistung ein gut funktionierendes Kolostoma die bessere Option darstellt.

Die obstruktive Entleerungsstörung (ODS) hat eine multifaktorielle Ätiologie und weist ein weites Symptomenspektrum auf. Die pathognomonische Bedeutung der „Zele-Entitäten“ (Sigmoidozele, Rektozele, Enterozele) mit und ohne Intussuszeption ist im Einzelnen bisher nicht geklärt, da sie in unterschiedlichem Ausmaß und überwiegend in Kombination miteinander auftreten. Mit der dynamischen Beckenkernspintomografie lässt sich auch in diesen Fällen die Komplexität und die daraus abzuleitende Therapie bestimmen. Eine weitere häufige Ursache der Obstruktion ist der Rektumprolaps.

Als Standardtherapie für die obstruktive Defäkationsstörung gilt die laparoskopische Rektopexie und Sigmaresektion (Operation nach Frykman-Goldberg), die im Vergleich zu den perinealen Verfahren wie Altemeier-Resektion und Rehn-Delorme die besten funktionellen Langzeitergebnisse mit der geringsten Rezidivrate mit sich bringt. Die guten funktionellen Frühergebnisse nach S. T. A. R. R.-Operation scheinen nach einem Jahr ungünstiger zu werden. Die strenge Selektion der Patienten und insbesondere die Kombination der pathologischen Veränderungen sind wohl ausschlaggebend für ein gutes funktionelles Ergebnis. Als Nebeneffekt einer Rektopexie lässt sich aufgrund der Korrektur der Beckenbodensenkung sehr häufig sowohl eine Verbesserung einer simultanen Stuhl- als auch einer Harninkontinenz beobachten.

Durch die differenzierte Anwendung chirurgischer Therapiemöglichkeiten lassen sich Beckenbodenfunktionsstörungen in Koordination mit Urologie und Gynäkologie bei über drei Viertel der Patienten erheblich verbessern.

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Günther Ruf