Rehabilitation (Stuttg) 2014; 53(02): 131-132
DOI: 10.1055/s-0034-1372605
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nehmen Psychische Störungen zu?

Are Mental Disorders Increasing?
M. Linden
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Publication Date:
10 April 2014 (online)

Muskel-Skelett-Erkrankungen sind immer noch die Hauptursache für ­Arbeitsunfähigkeit, jedoch weisen psychische Störungen aktuell den höchsten Zuwachs bei den Ursachen für einen Arbeitsausfall auf. Zudem sind ­psychische Erkrankungen Ursache Nummer 1 für gesundheitsbedingte Frühverrentungen. Psychisch Erkrankte weisen im Durchschnitt 22 Fehltage pro Jahr auf. Um einer Chronifizierung vorzubeugen, sind v. a. frühzeitige Diagnostik und Therapie wichtig. Was bedeutet das für die Weiterentwicklung der Rehabilitation? Im Interview mit Professor Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe „Psychosomatische Rehabilitation“ an der Charité ­Universitätsmedizin Berlin und Ärztlicher Direktor des Rehazentrums Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund in Teltow/Berlin hat die „Rehabilita­tion“ nachgefragt.

Nehmen psychische Störungen in Deutschland – wie oft behauptet – wirklich zu?

Es sind gerade neu die Ergebnisse des Deutschen Gesundheitssurveys unter Leitung des Bundesgesundheitsamtes publiziert worden. Im Vergleich zu dem vor einem Jahrzehnt durchgeführten Bundesgesundheitssurvey gibt es keinerlei Hinweise auf eine Zunahme psychischer Störungen.

Warum spielen psychische Störungen bei Rehabilitation, Arbeitsunfähigkeitszeiten und Erwerbsminderung eine immer größere Rolle?

Ein wichtiger Grund ist die bessere Erkennung und Diagnostik. Die Fachgesellschaften haben seit einer Reihe von Jahren umfangreiche Aktionen durchgeführt mit dem Ziel, dass psychische Erkrankungen besser erkannt, besser behandelt und weniger stigmatisiert werden. Beispiele sind die öffentlichen Veranstaltungen anlässlich des Todes des Fußballspielers Enke, die öffentlichen Werbeauftritte von Harald Schmidt oder die Aktivitäten des „Bündnisses gegen Depression“. Hintergrund ist, dass wiederholt gezeigt werden konnte, dass weniger als die Hälfte der psychischen Erkrankungen erkannt und adäquat behandelt werden. Sowohl bei den Behandlungszahlen in Arztpraxen, den AU-Raten wie den EM-Raten sieht man nun, dass es nicht um eine Erhöhung der Morbidität insgesamt geht, sondern um eine Verschiebung zwischen den verschiedenen Diagnosegruppen. Die absoluten AU- und EM-Raten sind über das letzte Jahrzehnt hin sogar stetig gefallen. Es hat nur einen Anstieg des relativen Anteils der psychischen Diagnosen an allen Behandlungsfällen gegeben.

Welche Rolle spielen Veränderungen in der Arbeitswelt?

Für psychische Erkrankungen gilt, dass sie ihrer Natur nach nahezu zwingend zu Leistungsminderungen führen. Ein Hypertonus oder Diabetes beeinträchtigt die Arbeitsfähigkeit nicht unmittelbar. Eine Angsterkrankung, Depression, Persönlichkeitsstörung oder hirnorganische Störung geht immer sofort mit Einschränkungen der Leistungsfähigkeit oder interaktionellen Problemen einher. Dies erklärt, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen häufiger und länger arbeitsunfähig sind als andere Kranke.Seit 2007 kommt mit Einführung der dezentralen omnipräsenten Computer nun hinzu, dass die Arbeitswelt zunehmend zu einer qualitätsgesichert-kontrollierten Umwelt wird. Kassiererinnen werden per Computer überwacht, Mitarbeiter von Versandhäusern tragen Bewegungsmelder an der Hand, Kliniken werden einem zunehmenden externen Monitoring unterworfen, Strategiegespräche und Zielvereinbarungen sind alltägliche Routine usw. Gesunde Menschen können damit umgehen. Für Menschen mit Angsterkrankungen, somatoformen Störungen, Depressionen usw. ist dies unerträglich. Sie reagieren mit Versagenserleben, Bedrohungserleben und Arbeitsplatzangst. Hinzu kommt, dass Menschen mit psychischen Störungen wegen der Qualitätssicherung schneller einmal auffallen und dann unter Druck gesetzt oder sogar freigesetzt werden. Die moderne Art der Qualitätssicherung führt zu Teilhabebeeinträchtigungen.

Wie werden sich die Fallzahlen in der Rehabilitation bei psychischen Störungen entwickeln?

Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass etwa 25% der Menschen in der Bevölkerung unter einer psychischen Erkrankung leiden. Wenn diese ­Patienten jetzt einerseits korrekt identi­fiziert werden und andererseits die ­Toleranz an den Arbeitsplätzen immer geringer wird, dann muss die Zahl der Menschen mit chronischen psychischen ­Erkrankungen, die mit Teilhabestörungen assoziiert sind, zunehmen und damit werden auch die Zahlen in der psychosomatischen Rehabilitation steigen. Hinzu kommt, dass die Krankenkassen mit dem Instrument des AU-Managements diese Patienten immer früher erfassen und entweder motivierend-unterstützend oder nach § 51 SGB V in eine Rehabilita­tion bringen.

Welche Aufgaben hat die medizinische Rehabilitation bei psychischen Störungen und welche nicht?

Psychische Störungen sind ihrer Natur nach komplexe Erkrankungen und dies gilt insbesondere für chronische Zustände, die immer mehrdimensional bedingt und beeinträchtigend sind. Wenn die Patienten über ein AU-Management kommen, dann ist zudem die ambulante Behandlung an ihre Grenzen gekommen. Die Patienten haben regelhaft umfangreiche Vorbehandlungen, weil dies nach den Bewilligungsregeln der Rentenversicherung sogar eine Voraussetzung für eine Rehabilitation ist.Psychosomatische Reha-Kliniken müssen eine detaillierte individuelle Diagnostik leisten, im Sinne einer Weichenstellung für die längerfristige Behandlung im Rahmen der Grundversorgung. Zum zweiten müssen intensivierte Behandlungsversuche gemacht werden, um entscheiden zu können, ob noch Therapie- und Entwicklungsreserven gegeben sind oder ob von einer absehbar überdauernden Teilhabebeeinträchtigung auszugehen ist. Beide Aufgaben erfordern die Aufnahme von Patienten in ein therapeutisches bzw. (teil-)stationäres Milieu, das im Vergleich zur ambulanten Behandlung eine validere Diagnostik und eine komplexe mehrdimensionale Therapie ermöglicht. Ein traditionelles „Kur-Environment“ mit unspezifischen therapeutischen Interven­tionen ist bei psychischen Störungen nicht zielführend.

Was muss vor der Rehabilita­tion im ambulanten oder stationären Bereich schon als Diagnostik und Therapie geschehen sein? Muss insbesondere Psychotherapie stattgefunden haben?

Wie bereits ausgeführt, ist die Mehrzahl der Patienten vor Aufnahme bereits ­umfangreich behandelt worden. Die Rentenversicherung gewährt keine Reha-Leistung, wenn nicht erkennbar ist, dass bereits eine fachspezifische Behandlung erfolgt ist. Dazu gehört nicht selten auch eine Richtlinienpsychotherapie. Diese ist jedoch nicht generell indiziert, und kann daher nicht zwingend zur Voraussetzung gemacht werden. So leiden bspw. etwa 5% der Reha-Patienten mit „depressiver Erschöpfung“ in Wahrheit unter einer Schlafapnoe, die ambulant nicht zu diagnostizieren war und bei der es zu Fehlentwicklungen käme, wenn man die Pa­tienten in Psychotherapie zwingen wollte. Zudem muss bedacht werden, dass Richtlinienpsychotherapien zeitlich einen langen Beantragungsvorlauf haben und in der Regel auch erst nach längerer Behandlungszeit zu einer positiven Entwicklung führen. Darüber hinaus haben die Psychotherapeuten in der Regel auch keine Praxisausstattung, die eine vertiefte Fallabklärung ermöglichen würde. Damit ist eine Richtlinienpsychotherapie keine Generallösung.

Was muss nach der medizinischen Rehabilitation ­geschehen?

Medizinische Rehabilitation ist nach dem Sozialgesetzbuch IX die medizinische Spezialdisziplin zur Behandlung absehbar chronifizierender Erkrankungen. Die stationäre medizinische Rehabilitation mit einer 5-wöchigen Behandlungszeit muss sich daher subsidiär einordnen in die jahre- bis jahrzehntelange Behandlung im Rahmen der Grundversorgung. In der stationären Rehabilitation muss zunächst geklärt werden, wo das Problem in der bisherigen ambulanten Behandlung lag, und weshalb eine stationäre Behandlung jetzt erforderlich wurde. Ebenso wichtig ist es, im Anschluss an die stationäre Rehabilitation den Patienten in eine fachgerechte langfristig angelegte Weiterbehandlung zu überführen. Die Behandlungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind sehr vielfältig. Der Patient darf nicht allein gelassen werden, wenn es darum geht, die richtige Weiterbehandlung zu finden und einzuleiten; sondern es ist die therapeutische Pflicht der stationären Behandler sicherzustellen, dass der Patient im Anschluss in die richtigen Hände kommt. Dies entspricht der Weichenstellungsfunktion der Reha-Kliniken.

Sollten psychosomatisch-­psychotherapeutische Reha-Einrichtungen stärker mit Betrieben kooperieren – ­welche konkreten Ansätze könnte es dafür geben?

Es gibt bereits jetzt vielfältige derartige Angebote. Es gibt Reha-Kliniken, die sich auf die Behandlung spezieller Berufsgruppen spezialisiert haben, wie z. B. Lehrer, Ärzte oder Polizisten. Dies ermöglicht spezialisierte Programme nicht nur krankheitsbezogen, sondern kontextbezogen. Ebenso gibt es auch jetzt bereits Reha-Kliniken, die eine besondere Arbeitsbeziehung zu bestimmten Großfirmen haben. Auch dies ermöglicht eine bessere Berücksichtigung des Kontextes in der Behandlung, inkl. einer direkten Kommunikation zwischen Reha-Klinik und Arbeitgeber bezüglich der Wiedereingliederung oder der Schaffung leidensgerechter Arbeitsplätze. Derartige Modelle sind sicherlich noch weiter ausbaubar.

Ist die medizinische Rehabilitation eine geeignete Interven­tion bei Burn-out?

Burn-out ist ein Symptom, das dadurch gekennzeichnet ist, dass Menschen sich erschöpft, ausgelaugt und arbeitsunfähig fühlen. Das Erleben der Betroffenen, dass dies durch ihre Arbeit zu erklären sei, ist nachvollziehbar, fachlich in der Regel aber falsch. Hinter dem Syndrom „Burn-Out“ kann sich nahezu jede bekannte psychische Erkrankung und eine große Zahl körperlicher Erkrankungen verbergen, von depressiven Störungen bis hin zu Tumorerkrankungen. Von daher ist Burn-Out keine Krankheit, sondern ein Leitsymptom, das eine sorgfältige differenzialdiagnostische Klärung erfordert. Dies sollte natürlich primär im Rahmen der Grundversorgung erfolgen. Wenn dort keine Klärung möglich ist und kein Lösungsansatz gefunden wird, dann ist die Einweisung in eine psychosomatische Reha-Klinik indiziert.
Es ist auch noch darauf hinzuweisen, dass Menschen natürlich auch müde, erschöpft und gleichzeitig gesund sein können. Bei der Leitklage „Burn-Out“ muss daher auch die Diagnose „Gesundheit“ mit bedacht werden. Die Feststellung, dass ein Mensch, der sich nicht wohlfühlt und leidet, dennoch gesund ist, ist in der Regel komplizierter als die Feststellung einer vorliegenden Erkrankung, weshalb auch die „Gesundschreibung“ eine wichtige Aufgabe psychosomatischer Reha-Kliniken ist.