Rehabilitation (Stuttg) 2014; 53(06): 424
DOI: 10.1055/s-0034-1384603
Buchbesprechung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Behinderung im internationalen Diskurs. Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
10. Dezember 2014 (online)

8 Jahre nach der deutschen Publikation der ICF legt Marianne Hirschberg mit ihrer Monografie „Behinderung im internationalen Diskurs“ eine diskursanalytische Auseinandersetzung mit dem Komplex „ICF“ vor. Die deutschsprachige Forschungsliteratur, die auf einige wenige Monografien reduziert werden kann, darunter Schuntermanns „Einführung in die ICF“ (2005), die sich als praktische Gebrauchsanweisung der ICF lesen lässt, und Meyers veröffentlichte Magisterarbeit „Kodieren mit der ICF: Klassifizieren oder Abklassifizieren?“ (2004), die erste theoretische Überlieferungen zur ICF gibt, findet in Hirschbergs Werk eine Ergänzung und Vertiefung.

Das Hauptaugenmerk Hirschbergs liegt auf dem neuen Konzept von Behinderung, das in der ICF postuliert wird. Die ICF verspricht den Abschied von einer bio-medizinischen Auffassung von Behinderung. Hirschberg baut ihre in der Einleitung (Kapitel 1) dargelegten Vermutungen, dass die ICF nicht mit der Tradition der bio-medizinischen Auffassung bricht, aus und spürt der Frage nach, ob die ICF ihrem eigenen Versprechen einer positiven Bewertung von Behinderung gerecht wird.

Im Hinblick auf die zentrale Frage, wie Behinderung in der ICF konzeptualisiert ist, können die Kapitel 2–3 als problematisierende, den Kontext beleuchtende Annäherung an die ICF gelesen werden. Die Kapitel 4–6 stellen als textnahe Analyse der ICF das Kernstück von Hirschbergs Studie dar.

In Kapitel 2 stehen Klassifikationen im Mittelpunkt. Die Annäherung an die ICF erfolgt über einen Rekurs auf die historischen Anfänge „medizinischer“ Klassifikationen. Mit einem Blick auf antike und fernöstliche Klassifikationen ist Hirschberg um einen großen zeitlichen und geografischen Rahmen bemüht. Sehr viel detaillierter wird die Entwicklung der ICF beschrieben, die sie in die Linie der ersten internationalen Klassifikation von Todesursachen von 1893 stellt. Vor dieser Folie beleuchtet Hirschberg die soziale, politische und rechtliche Dimension der ICF und erörtert das unvermeidbare Spannungsverhältnis zwischen Stigmatisierung und Leistungsbewilligung.

Nach diesem Rückblick auf die Entstehung von Klassifikationen von Behinderung wendet sich Hirschberg der Analyse des Diskurses über Behinderung (Kapitel 3) im 20. Jahrhundert, vor allem seit ca. 1980, zu. Sie legt die gegensätzlichen Modelle, das medizinische bzw. individuelle und soziale Modell, von Behinderung dar und erläutert ihren Entstehungskontext unter Bezugnahme auf die diversen ihnen zugrunde liegenden Ansätze aus polydisziplinärer Sicht.

Obgleich die ICF Momente des medizinischen und sozialen Modells vereint, wird insbesondere das soziale Modell stärker ­eruiert. Aus Perspektive der diskurstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults und Jürgen Links zu Macht und Normalität nähert sich Hirschberg der ICF an. Die Diskursanalyse versteht Hirschberg nicht als Selbstzweck. Ihr liegt daran, mithilfe theoretischer Überlegungen Foucaults aufzuzeigen, dass der Defini­tion von Behinderung politische und wissenschaftliche Interessen zugrunde liegen und die ICF als Instrument der Macht zu untersuchen ist. Mit Link schafft sie die theoretische Basis für eine Analyse des normativen und deskriptiven Normalitätskonzepts, das Hirschberg in der ICF verankert sieht.

Die textbasierte Analyse vollzieht sich stringent von der Ebene der Hauptstrukturen über die Ebene der Mikrostrukturen hin zu einer Gesamtanalyse.

Auf der Makroebene (Kapitel 4) werden zum einen formale Momente betrachtet und zum anderen wird eine inhaltlich-qualitative Analyse vorgenommen. In formaler Hinsicht verweist Hirschberg z. B. auf die Reihenfolge, in der die in der ICF klassifizierten Kategorien auftreten. Die Reihenfolge, die mit den Umweltfaktoren am Ende abschließt, so moniert sie vorsichtig, könne schon Aufschluss über eine mögliche Gewichtung geben. In inhaltlicher Hinsicht untermauert Hirschberg diese Beanstandung implizit. Ihre Analyse zeigt, dass den Körperstrukturen und -funktionen eine deutlich detailreichere und differenziertere Darstellung zuteilwird. An den Grenzen zwischen formalen und inhaltlichen Aspekten kann auf die Personenbezogenen Faktoren verwiesen werden, die in der ICF zwar aufgegriffen und definiert werden, hingegen noch keine eigene Kategorie darstellen.­

In der Feinanalyse (Kapitel 5) wird neben weiteren Momenten z. B. der Sprachstil analysiert. Diesbezüglich konstatiert Hirschberg in der ICF die stete Verwendung „positiver Termini“, wodurch Behinderung nicht als negatives Stigma erscheint. Jedoch nimmt sie kritisch zur Kenntnis, dass die ICF stark mit konträren Begriffen und Bildern arbeitet, wodurch Behinderung stets als Abweichung von der Norm charakterisiert wird.

Die gewonnenen Teilergebnisse führt Hirschberg in einer Gesamtanalyse (Kapitel 6) zusammen. Obgleich eine starke Akzentuierung des sozialen Modells in der ICF beabsichtigt und postuliert wird und mit Hinblick auf die ICIDH auch erfolgt ist, scheint sich die ICF noch nicht in gebotenem Maße von ihren historischen Wurzeln emanzipiert zu haben. Exemplarisch für dieses Spannungsverhältnis lässt sich nach Hirschberg die Tatsache anführen, dass die Ursache von Behinderung nicht mehr nur in der Körperstruktur gesucht werden soll, das Groß der in der ICF angeführten Fallbeispiele hingegen genau dieser Konzeption und Deutung von Behinderung unterliegen. Nach der Analyse und Beurteilung weiterer Momente lässt sich das soziale Modell im Rahmen der ICF nur auf inferiorer Stufe verorten.

Fortschritte durch die ICF erkennt Hirschberg auch bezüglich des Behinderungsbegriffs. Eine eindeutige Opposition der beiden Begriffe Behinderung und Funktionsfähigkeit sieht sie in einer nuancenreichen Annäherung aufgehoben. Dass die „Normalitätskon­struktion Behinderung einschlösse“, kann sie jedoch nicht erkennen. Daher muss Behinderung nach der ICF weiter als Abweichung von der Norm begriffen werden, wobei sich die Norm sowohl quantitativ als auch qualitativ bestimmen lässt. Nach Sichtung der Monografie bleibt die Einsicht, dass die ICF Behinderung nicht ohne Stigmatisierung zu klassifizieren ­vermag.

Im letzten Kapitel gibt die Autorin einen Ausblick auf den zukünftigen Umgang mit dem Behinderungsbegriff und diskutiert seine Notwendigkeit respektive seine Obsoleszenz. Für eine Obsoleszenz spricht die Instabilität und Relativität des Begriffs. So könnten z. B. eine zunehmende Überalterung einer Gesellschaft und Armut, die Behinderung in der Regel verschärft, den Behinderungsbegriff verschieben. Behinderung könnte unter der Veränderung oben genannter Parameter dann nicht mehr als Abweichung von der Norm, sondern als Norm verstanden werden. Das kaum zu umgehende Argument für eine Beibehaltung des Begriffs ergibt sich aus den Leistungsansprüchen, die die Definition von Behinderung als Abweichung erforderlich machen.

Hirschberg verzichtet auf ein Personen- und Sachregister. Dieses Defizit, welches eine systematische Arbeit mit dem Werk deutlich erschwert, schmälert etwas die Leistung einer klar strukturierten, stringenten und wohl formulierten Monografie. Eine Pflichtlektüre für jeden ICF-Interessierten, der den diskursanalytischen Zugang und das Soziale in der ICF besser nachvollziehen und verstehen möchte!

Matthias Morfeld, Stendal
Email: matthias.morfeld@hs-magdeburg.de