Aktuelle Neurologie 2017; 44(01): 54-55
DOI: 10.1055/s-0042-121433
Aktuelles aus der Forschung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gleiche Pathophysiologie bei schubförmiger und primär-progredient verlaufender Multipler Sklerose wahrscheinlich

Martin S. Weber
1   Institut für Neuropathologie
2   Klinik für Neurologie, Georg-August-Universität, Göttingen
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Publication Date:
02 August 2017 (online)

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine äußerst heterogen verlaufende Erkrankung. Patientinnen und Patienten unterscheiden sich maßgeblich in der Frequenz von Schüben, in der Rückbildung schubassoziierter Behinderung sowie im Zeitpunkt, an dem eine chronisch-progediente Verschlechterung zu dieser schubförmigen Komponente hinzutritt. Die meist ohne das Auftreten von Schüben verlaufende primär progrediente (PP)-MS galt über Jahrzehnte als eine möglicherweise distinkte Unterform der MS. Dieses Konzept beruhte vor allem auf einigen Charakteristika, die die PP-MS von der schubförmigen (relapsing-remitting (RR)-MS unterscheiden. So tritt die PP-MS in etwa gleich häufig bei Männern und Frauen auf, das Erkrankungsalter ist durchschnittlich etwa 10 Jahre später als bei der RR-MS und zahlreiche RR-MS Medikamente haben in der PP-MS keine Wirksamkeit gezeigt. Vor allem letzteres in Kombination mit dem schleichenden Verlauf suggerierte, dass es sich bei der PP-MS um eine Erkrankungsentität handeln könnte, die nicht entzündlich sondern primär degenerativ bedingt sein könnte.

Eine erste Kehrtwende in diesem Konzept erbrachte die histologische Evaluation von ZNS-Läsionen bei PP-MS Patienten. Entgegen der degenerativen Hypothese zeigen PP-MS-Läsionen die Kardinalkriterien einer entzündlichen Demyelinisierung, so dass diese in Unkenntnis des klinischen Verlaufes nicht von entzündlichen Läsionen bei RR-MS-Patienten unterschieden werden können. Eine rezent publizierte Studie untermauert nun, dass sich die PP-MS pathophysiologisch sehr wahrscheinlich nicht von der RR-MS unterscheidet [1]. In dieser Studie wurde untersucht, in wie weit Patienten mit einem radiologisch isolierten Syndrom (RIS) in eine PP-MS konvertieren können. Des Weiteren wurde der Frage nachgegangen, ob die Konstellation des RIS v. a. in Bezug auf L äsionskonfiguration Hinweise auf die spätere Verlaufsform erlauben könnte. Untersucht wurden 453 Patienten, von denen im Verlauf 128 eine symptomatische MS entwickelten, von denen wiederum 15 Patienten direkt und ohne das Auftreten von Schüben eine PP-MS entwickelten. Damit entsprach der Anteil an PP-MS Patienten an allen Patienten mit einer symptomatischen MS 11,7 %. Von den 15 betroffenen PP-MS-Patienten waren 6 Frauen, das mittlere Erkrankungsalter lag bei 43,3 Jahren und die Zeit bis zur klinischen Konversion 3,5 Jahre. Damit entspricht die Population der „RIS zu PPMS-Patienten“ sehr genau den generellen klinischen Befunden bei PP-MS Patienten. Bei Diagnose des RIS unterschieden sich die MRT-Aufnahmen des Schädels bei PP-MS nicht von denen späterer RR-MS Patienten. Dies ist eine äußerst wichtige Beobachtung, da zum Zeitpunkt der klinischen PP-MS Diagnose entzündliche Läsionen im MRT oft kleiner und weniger häufig zur Darstellung zu kommen scheinen.

Dies dürfte jedoch im Kontext der jetzt erhobenen Befunde im Wesentlichen auf das Entstehungsalter der Läsionen im Verhältnis zum Zeitpunkt der MRT-Aufnahme zurückzuführen sein. Wesentlich für den Übergang eines RIS in eine PP-MS war dagegen das Vorhandensein sowie Zahl und Ausbreitung spinaler Läsionen. So zeigten alle Patienten mit späterer PP-MS, die ein spinales MRT bei RIS Diagnose erhielten, eine zervikal gelegene Läsion im Rückenmark. Bei Patienten mit RIS und späterem Übergang in eine RR-MS fand man dies dagegen nur in 50 % der Fälle. Zusammenfassend kann man also sagen, dass männliches Geschlecht, höheres Alter sowie ganz entscheidend das Vorhandensein einer initial asymptomatischen Läsion im Rückenmark den Übergang eines RIS in eine PP-MS determinierten. Damit dürfte nicht Beschaffenheit oder pathophysiologische Entstehung der jeweiligen ZNS Läsion den Krank-heitsverlauf der MS bestimmen, sondern ganz wesentlich ihre Lokalisation.

Interessanterweise manifestiert sich die PP-MS in etwa 10 Jahre später als die RR-MS und entspricht damit genau dem Altersgipfel der Konversion einer RR-MS in eine sekundär chronisch-progrediente (SP)-MS. Dies legt nahe, dass biologische Alterungsprozesse bzw. abnehmende Kompensationsmöglichkeiten einen wesentlichen Beitrag bei der Progression im Rahmen der MS darstellen dürften. Zum anderen suggeriert es im Kontext mit den Kernbefunden dieser Studie, dass die PP-MS weitestgehend einer SP-MS entsprechen könnte, bei der die „schubförmige“ Erkrankungsphase asymptomatisch verlief. Das bedeutet auch, dass die PP-MS per se keine separate Krankheitsentität darstellt, was aus therapeutischer Sicht extrem wichtig ist. Dies unterstreicht, dass die neue Klassifikation der MS nach Lublin [2]. zurecht die beiden krankheitstreibenden Komponenten der MS, auf der einen Seite läsionsgebundene ZNS Entzündung und Schübe und auf der anderen Seite langsam akkumulierende Behinderung durch chronische Progredienz im einzelnen Patienten als unabhängige Achsen beschreibt und dadurch distinkte Entitäten vermeidet. Das ist von entscheidender Bedeutung, da bei PP-MS Patienten mit Neuentstehung von ZNS Läsionen grundsätzlich Medikamente einsetzbar scheinen, die bei der RR-MS erfolgreich sind, wie rezent eindrucksvoll durch anti-CD20, Ocrelizumab gezeigt [3]. Der parallel ablaufende Kernprozess der Progredienz im Rahmen der PP- und SP-MS, das langsame Fortschreiten der Erkrankung ohne de novo ZNS Infiltration bedarf dahingegen sehr wahrscheinlich innovativer Therapiestrategien, die ZNS-intrinsische Entzündungsvorgänge in den Fokus nehmen.