Erfahrungsheilkunde 2017; 66(03): 137
DOI: 10.1055/s-0043-109303
Editorial
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

„Der Darm ist der Vater aller Trübsal.“

(Hippokrates v. Kos, 460–377 v. Chr.)
Peter W. Gündling
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Publication Date:
21 July 2017 (online)

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

als Hippokrates – oder einer seiner Schüler – diesen Satz vor fast 2500 Jahren schrieb, hatte er noch keine Ahnung von der hohen Anzahl von Nerven- und Immunzellen und der noch viel höheren Anzahl von Mikroorganismen in unserem Darm. Was er aber offensichtlich durch genaue Beobachtung wusste, war seine immense Bedeutung für unsere Gesundheit und die Entwicklung von Krankheiten.

Unbekannt dürften ihm wiederum chronisch entzündliche Darmerkrankungen gewesen sein. Die neben der Colitis ulcerosa wichtigste dieser Erkrankungen ist der Morbus Crohn, der in Deutschland eine Prävalenz von 100–200 pro 100 000 Einwohner aufweist.

Da der M. Crohn im Gegensatz zu funktionellen Darmerkrankungen nicht gerade eine Domäne der Naturheilkunde ist, habe ich das eingangs erwähnte Zitat zum Anlass genommen, einmal die aktuelle (121 S. starke) S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des Morbus Crohn gründlich zu studieren. Dabei galt mein besonderes Augenmerk natürlich den dort im Kapitel „Komplementär- und Alternativmedizin“ aufgeführten Aussagen.

Obgleich dieses Kapitel recht dürftig ist und neben der Akupunktur nur zwei Phytotherapeutika (Weihrauch und Wermut) sowie Omega-3-Fettsäuren und Probiotika enthält, ist die Lektüre nicht uninteressant. So wird zur Akupunktur eine randomisierte, Sham-kontrollierte Studie bei aktivem M. Crohn aufgeführt, in der der klinische Aktivitätsindex der Patienten in der Akupunkturgruppe gegenüber der Kontrollgruppe statistisch signifikant abnahm. Zu Wermut (Arthemisia absintum) werden zwei randomisierte, placebokontrollierte Studien aufgeführt, in denen Patienten mit aktivem M. Crohn zusätzlich zur Standardtherapie mit Steroiden 3 × 500 mg bzw. 3 × 750 mg/d Wermut erhielten. Nach 8 Wochen waren 65 % der Patienten in der Verumgruppe gegenüber 0 % in der Placebogruppe in Remission. Auch zu Weihrauch (Boswellia serrata) werden zwei randomisierte Studien erwähnt, von denen jedoch nur eine (von Gerhardt et al., siehe auch S. 166) die Gleichwertigkeit von Boswellia serrata extract H15 und Mesalazin bei der Behandlung eines akuten Schubes nachweisen konnte.

Zu Probiotika existieren laut der Leitlinie beim M. Crohn – im Gegensatz zur Colitis ulcerosa – nur sehr kleine Studien, die in der Summe keinen sicheren Hinweis auf eine Wirksamkeit ergeben. Dagegen gibt es zur Therapie mit Omega-3-Fettsäuren eine Cochrane-Analyse von 2009, die einen Effekt bei der Remissionserhaltung des M. Crohn beschreibt.

Nicht unerwähnt bleiben darf das Kapitel „Ernährungsberatung“, das ganze fünf Sätze einschließlich folgender „abgeschwächt positiver Empfehlung“ enthält: „Ausgehend von der Schwere der Entzündung, der spezifischen Krankheitssituation und des Ernährungszustandes sollten eine Ernährungsberatung und gegebenenfalls eine Ernährungstherapie im Rahmen einer Beratung durch dafür spezialisierte Fachkräfte erfolgen.“ – Naja, das ist gut zu wissen.

Auch die mit der Leitlinienerstellung befassten Experten haben erkannt, dass viele Patienten mit M. Crohn sich eine naturheilkundliche Therapie wünschen und haben mit starkem Konsens (Zustimmung von > 95 % der Teilnehmer) im Kapitel „Komplementär- und Alternativmedizin“ folgende – wie ich finde recht interessante – Empfehlungen eingebracht: „Alternativtherapien anstatt einer evidenzgesicherten Therapie sind abzulehnen.“ „Komplementäre Therapien können bei Patientenwunsch supportiv eingesetzt werden.“ „Der Nutzen soll mit dem Patienten auch unter wirtschaftlichen Aspekten diskutiert werden.“ „Dazu soll der beratende Arzt sich ausreichend über die komplementären Therapiemöglichkeiten informiert haben.“

Speziell in Bezug auf die letzte Aussage lohnt sich unser heutiges Heft ganz besonders. Bleibt nur zu hoffen, dass es auch der eine oder andere liest, der bisher nur in schulmedizinischen Kategoriengedacht hat.

Ich wünsche Ihnen – und jedem, der diese Zeitschrift vielleicht zum ersten Mal liest – jedenfalls wieder viel Freude und viel wertvolle Erkenntnis bei dieser Lektüre.

Herzlichst Ihr

Peter W. Gündling