Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2001; 44(4): 284-285
DOI: 10.1055/s-2001-19467-4
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Karl F. Haug Verlag, in: MVH Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co. KG

Zwei Fallbeispiele der Integrativen Psychiatrie

Thomas Ots
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. April 2004 (online)

1. Der Beamte

Am 7. 11. 2001 interviewte ich einen 35-jährigen Verwaltungsbeamten. Vor zwei Jahren war bei ihm ein „Burn-out-Syndrom” diagnostiziert worden, später wurde die Diagnose „Depression” gestellt und er entsprechend medikamentös therapiert. Auf meine Eingangsfrage, warum er hier sie, meinte er, dass er „so ein starkes Gefühl in der Brust” habe und legte seine Hand aufs Sternum.

Weitere leibliche Beschwerden

  • Spontanschweiß, vor allem morgens („waschelnass”)

  • Auf dem Weg nach Hause beginne das Grübeln

  • Palpitationen

  • Schmerzen über der Gallenblase

  • Magenschmerzen

  • Sodbrennen, jedoch kein Mundgeruch

  • Aufstoßen

  • Blähungen

  • Viele Winde

  • Einschlafstörung mit viel Schwitzen des Nachts

  • Schlimme Träume mit wiederkehrenden Inhalten: Ersticken, er werde umgebracht, die Frau verlasse ihn

Anamnestisch gab er mehrere Pleuritiden an. Die Mutter und der Großvater seien an Lungen-Carcinom gestorben.

Emotionelle Selbstbeschreibung

„Ich bin sensibel, trotzdem Schauspieler, überspiele meine Schwächen; eigentlich bin ich ein romantischer Mensch, aber auch das überspiele ich…. Als ich vor kurzem auf dem Campingplatz einen Vater sah, der seinen Kindern eine Abendgeschichte vorlas, musste ich spontan weinen. Einmal erwischten mich meine Kollegen dabei, wie ich im Dienst weinte. Seitdem werde ich dafür gehänselt.”

Auf die Frage, wie er mit Meinungsverschiedenheiten umgehe, sagte er: „Wenn es wichtig für mich ist, kann ich mich durchsetzen, wenn es belanglos ist, gebe ich Recht. Mit meiner Frau gibt es eher Streit.”

Auf die Frage, ob er explodieren kann: „Ja, ich bin jähzornig, hinterher geht es mir aber regelmäßig mies.” Dann nach einer Pause: „Eigentlich such ich Ruhe und Harmonie, finde sie aber nicht.”

Wenn er anfange, sich zurück zu ziehen, dann komme dieses eigenartige Druckgefühl in der Brust (die Frage nach Richtung dieses Druckes wurde mit „von innen nach außen” beantwortet; siehe nächster Artikel). Dann fange er an zu grübeln, habe zu nichts mehr Lust, beantworte z.B. das Telefon nicht mehr.

Sozialanamnese

Seine Eltern hatten sich früh scheiden lassen. Seine Mutter war recht hart ihm gegenüber gewesen. Auch sein Vater liebte ihn nicht. Kuscheln mit einem der beiden kannte er nicht. Er habe dann einen sehr lieben Stiefvater gehabt, der sei aber von der Mutter wieder vertrieben worden.

Er ist verheiratet und hat eine kleine Tochter. Nach der Geburt habe sich das Verhältnis zu seiner Frau abgekühlt, die Spontaneität sei weg, sie redeten wenig miteinander.

Diagnose

Die Symptome sprachen eindeutig für eine Leber-Qi-Stagnation mit Folgebeteiligung von Milz und Herz. (Diese beiden Funktionskreise sind am häufigsten von einer chronischen Leber-Störung betroffen.) Und dennoch passten bestimmte Erfahrungen seines Lebens und bestimmte Verhaltensweisen nicht ganz in dieses Bild. Da war eine große Trauer in ihm, die frühkindliche Erfahrung des Liebesverlustes, die Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach Ruhe und Harmonie, nach Kuscheln, die Gerührtheit. Als Grundgestimmtheit sah ich die Trauer und damit eine Lungen-Leere. Nun könnte man einwenden, dass diese Diagnose ja mit vier betroffenen von fünf Funktionskreisen nicht sehr spezifisch sei. (Ich habe diesen Fall gerade deswegen ausgesucht, weil die Benennung von mehreren Funktionskreisen für mich eher untypisch ist.) Doch erscheint die Diagnose weniger breit gestreut, wenn wir die Chronologie dieses Falles, die Psychodynamik betrachten: Überspielung der Lunge-Trauer durch Leber-Aggression. Doch da diese geblockt war, stellten sich die typischen Folgeschäden chronischer Leber-Qi-Blockade ein: Milz-Depression und Herz-Unruhe bzw. Angst.

Erstaunlich bei diesem Patienten: Das Therapeutikum des Homöopathen Dr. Rohrer war Tuberkulinum. Für ihn waren die Familiengeschichte der Lungenkrankheiten, seine rezidivierenden Pleuritiden sowie die lange Trauer wegweisend gewesen. Gänzlich überrascht und erfreut waren wir alle, als die Stationsschwester und Balneotherapeutin Ursula Kraiger, die mit der Jungeschen Bäder-Essenztherapie arbeitet, sagte, dass sie für ihn Thymian ausgesucht habe, also die Essenz, die auf die Lunge ziele. Und alles passte mit der psychotherapeutischen Deutung zusammen, die eine nicht aufgearbeitete Kindheit mit Nähe-Distanz-Problematik in den Vordergrund stellte.

Ich habe übrigens bei diesem Patienten keine Akupunktur vorgeschlagen. Zunächst soll in der Therapie das Schwergewicht auf psychotherapeutische Aufarbeitung der Kindheit gelegt werden. Akupunktur zu diesem Zeitpunkt könnte einer somatisierenden Sicht von Krankheit Vorschub leisten. Erneute Diskussion dieses Patienten in der Runde wurde für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen.

Thomas  Ots

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