Zusammenfassung
Etwa 95 % der Auffahrunfälle sind als leicht bis mittelschwer einzustufen, über die
biomechanischen Abläufe und die möglichen medizinischen Folgen dieser Unfälle werden
in der Literatur und in der ärztlichen und gutachterlichen Praxis kontroverse Meinungen
vertreten. Diese konnten sich bisher nur auf nicht überprüfte Vermutungen stützen.
Inzwischen liegen aus mehreren Instituten unfallmechanische Untersuchungen von naturgetreuen
Auffahrunfällen mit Zusammenprall von rückwärts, von vorne und von der Seite vor.
Dabei wurden die Bewegungsabläufe mit einer Hochgeschwindigkeitsvideokamera unter
gleichzeitiger elektronischer Erfassung anderer, wichtiger Parameter erfasst. Übereinstimmend
hat sich gezeigt, dass die gesamte Crashphase etwa 3/10 s dauert und dass ein Schleudermechanismus
tatsächlich nicht stattfindet. Das sog. Syndrom der Spätfolgen nach Schleudertrauma
ist uncharakteristisch. Eine gleichartige Symptomatik wird bei verschiedenen Befindlichkeitsstörungen
beobachtet, deren nosologische Stellung zweifelhaft ist. In vielen Fällen sind die
somatischen, emotionalen und kognitiven Beschwerden Ausdruck von Depressivität. Der
„zervikale Schwindel” ist nach Ansicht von Experten eine zweifelhafte Entität. „Zervikaler
Nystagmus” ist auch bei Gesunden auslösbar. Viele der von einigen Autoren lebhaft
propagierten neurootologischen Untersuchungsmethoden sind in ihrer Ausführung nicht
standardisiert. Die Auswertung der Ergebnisse ist nicht statistisch belegt. Neuropsychologische
Testuntersuchungen können dazu dienen, erhaltene und beeinträchtigte kognitive Leistungen
zu beschreiben, nicht aber, Hirngeschädigte in einer unausgelesenen Population zu
identifizieren. Manualmedizinische Befunde sind stark subjektiv gefärbt. Die beschriebenen
nuklearmedizinischen Veränderungen werden auch bei Depression ohne vorangegangenes
Trauma erhoben. Die Veränderungen in der MRT, mit denen traumatische Einrisse der
Ligamenta alaria belegt werden sollten, sind in gleicher Art auch bei Gesunden festzustellen.
Für die Begutachtung sind national und international klare Regeln erarbeitet worden.
Abstract
Most rear-end collisions are of minor severity. In the past, the biomechanical events
and the possible medical sequelae of these accidents were subject to speculation.
Recently, investigations in several laboratories with the help of high-speed cameras
and of electronic recording devices have demonstrated that the duration of the crash-phase
is only about 3/10 s and that the alledged whiplash mechanism does, in fact, not occur.
The co-called Late Whipash Syndrome is not characteristic for rear-end or other automobile
collisions. The same set of symptoms is observed in various conditions of highly debatable
nosological status. The patient's complaints appear to be associated with depression.
The problems of cervical vertigo, of neuro-otological studies, of osteopathic findings,
the role of SPECT and of MRT of the atlanto-axial joints and alar ligaments in the
study of these cases are discussed. There exists a framework of rules on a national
as well as international basis for the medico-legal assessment of these patients.
Literatur
- 1
Gay J R, Abbott K H.
Common whiplash injuries of the neck.
JAMA.
1953;
152
1698-1704
- 2
Poeck K.
Kognitive Störungen nach traumatischer Halswirbelsäulendistorsion?.
Dt Ärztebl.
1999;
96
A2596-2601
- 3 Keidel M.
Neuropsychologische Defizite nach HWS-Schleudertrauma. In: Sturm W, Herrmann M, Wallesch CW (Hrsg) Lehrbuch der Klinischen Neuropsychologie. Lisse
NL; Swets & Zeitlinger 2000: 581-592
- 4
Jenzer G.
Klinische Aspekte und neurologische Begutachtung beim Zustand nach Beschleunigungsmechanismus
der Halswirbelsäule.
Nervenarzt.
1995;
66
730-735
- 5 Brandt Th. Vertigo. It's multisensory syndromes. London; Springer 1999 2nd ed
- 6
Holtmann S, Reimann V, Schöps P.
Zur klinischen Bedeutung zervikookulärer Reaktionen.
Laryngo-Rhino-Otol.
1993;
72
306-318
- 7
Poeck K.
Wie weit können neurootologische Untersuchungen Schwindelphänomene nach HWS-Distorsion
belegen?.
Med Sach.
1999;
95
181-186
- 8
Hartje W.
Neuropsychologische Diagnose zerebraler Funktionsbeeinträchtigungen.
Nervenarzt.
1986;
52
649-654
- 9
Fritsche M.
Dokumentation des Bewegungsablaufes bei der ergokinetischen Untersuchung.
Manuelle Medizin.
1997;
35
136-140
- 10
Otte A, Ettlin T M, Fiertz L. et al .
Parieto-occipital hypoperfusion in late whiplash syndromes: first quantitative SPECT
study.
J Nucl Med.
1996;
23
72-74
- 11
Alexander M P.
In the pursuit of proof of brain damage after whiplash injury.
Neurology.
1998;
51
336-340
- 12
Pfirmann C WA, Binker C A, Zanetti M.
MR morphology of alar ligaments and occipito atlantoaxial joints. Study in 50 asymptomatic
subjects.
Radiology.
2001;
218
133-137
- 13
Schrader H, Obelieniene D, Bovin G. et al .
Natural evolution of the late whiplash syndrome outside the medico-legal context.
Lancet.
1996;
347
1207-1211
- 14
Ferrari R, Russell A S, Richter M.
Epidemiologie der „HWS-Beschleunigungsverletzung”.
Orthopäde.
2001;
30
551-558
- 15
Becke M, Castro W HM, Hein M, Schimmelpfennig K H.
„Schleudertrauma” 2000. Standortbestimmung und Vorausblick.
NZV.
2000;
13
225-272
- 16
Hadler N H.
If you have to prove you are ill, you can't get well.
Spine.
1996;
20
2397-2400
- 17
Spitzer W O, Skovon M L, Salmi M L. et al .
Report on the Quebec whiplash associated disorder cohort study.
Spine.
1995;
20
2s-73s
- 18
Borchgrevink G E, Kaase A, McDonagh D. et al .
Acute treatment of whiplash neck sprain injuries. A randomized trial of treatment
during the first 14 days after accident.
Spine.
1998;
23
25-31
- 19
Rosenfeld M, Gunnarsson R, Borenstein P.
Early intervention in whiplash associated disorders. A comparison of two treatment
protocols.
Spine.
2000;
25
1782-2787
- 20 Keidel M.
Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule. In: Rauschelbach HA Jochheim KA Widder B (Hrsg) Das neurologische Gutachten. Stuttgart;
Thieme 2000 4. Aufl.: 581-592
Prof. Dr. K. PoeckFRCP
Neurologische Klinik der RWTH Aachen
Nizzaallee 40
52075 Aachen