Fortschr Neurol Psychiatr 2002; 70(10): 511-519
DOI: 10.1055/s-2002-34667
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Skizzen zu einer Neuropsychologie der Autonomie: Vergegenwärtigendes Vergessen, Subliminalität und Freiheit

Towards a Neuropsychology of Autonomy: Re-Presentating Forgetting, Subliminality and FreedomH.  M.  Emrich1
  • 1Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
Kurzfassung eines im Institut für Philosophie der Universität Mainz gehaltenen Vortrages.
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Publication Date:
11 October 2002 (online)

Zusammenfassung

Neurobiologische Gegenwarts-Konzepte über sensomotorische Leistungen zeigen, dass Willkürmotorik nicht in erster Linie durch auslösende Umweltreize, sondern durch intern generierte Aktivationsprozesse („initiale Aktivität”) zustande kommt. Dies führt zu Fragen nach internen „limbischen” Bewertungen im Hinblick auf vergangenheitsbezogene Kontexte. Diese beziehen sich nicht nur auf aktual Erinnerbares, sondern auch auf subliminale Anteile des Vergangenen. Die Einbeziehung von Prozessen des „vergegenwärtigenden Vergessens” bedeutet eine Neubewertung von Autonomie innerhalb einer neuropsychologischen Theorie der Freiheit. Demzufolge lässt sich subjektive Freiheit durch intrapsychische Prozesse der Vergegenwärtigung „erobern”.

Abstract

Recent neurobiological concepts about sensomotor processes in animals exhibit that voluntary motor behavior is not due primarily to external cues but to internal activation-processes (“initial activity”). Thus questions are raised as to the role of internal “limbic” valuation-processes in relation to contexts of the past. These are not limited to the actual memorial contents but also relate to subliminal aspects of the past. The inclusion of processes of “re-presentating forgetting” means a re-evaluation of autonomy within a neuropsychological theory of freedom. Consequently, subjective freedom may be realized by intrapsychic processes of re-presentation of the past.

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1 Vgl. hier auch in Kleists „Zerbrochenem Krug”: Adam: „Da ich dem Bett entsteig’ ... ich hatte noch das Morgenlied im Munde ... renkt unser Herrgott mir den Fuß schon aus. ... Hab' einen wahren Mordsschlag heut' getan. Ich dacht' es wär ins Grab.”

2 Der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und „Erwachen” wird von Emmanuel Lévinas in folgender Weise hergestellt: „Oder diese Erkenntnis (der Interpretationsbedürftigkeit des Seins. Ergänzung durch den Verfasser) lädt den Erkennenden zu einer endlosen Psychoanalyse ein, sie lässt ihn verzweifelt einen wahren Ursprung wenigstens in sich selbst suchen, sie fordert die Anstrengung aufzuwachen.” (Totalität und Unendlichkeit, Alber, Freiburg/München 1987, S. 86 - 87)

3 Anmerkung: Kürzlich fragte während einer Zugfahrt ein Kollege, ob er eine bestimmte Chefarztstelle antreten und die Hochschulkarriere beenden solle; rational sprach alles für die Chefarztstelle. Der Akt der Freiheit, so gesehen, wäre gewesen, die Stelle anzunehmen. Jedoch war ihm zu raten, einmal ein paarmal um das Gebäude herumzugehen und zu imaginieren, wie er sich im Büro spüren und fühlen werde. Wenn es ihm dabei nicht gut gehe, solle er die Stelle ablehnen. Nur wenn Kopf und Herz das wollen, kann man den Akt als freiheitlich ansehen. Sonst hat die Pseudo-Rationalität die Person unterdrückt, zum Sklaven gemacht, Unfreiheit erzeugt.

Prof. Dr. H. M. Emrich

Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie · Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: emrich.hinderk@mh-hannover.de

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