ZFA (Stuttgart) 2004; 80(11): 445
DOI: 10.1055/s-2004-832419
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Unvernünftige Gedanken zur Therapieindikation

H.-H. Abholz1
  • 1Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
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Publication Date:
23 November 2004 (online)

Wir haben uns an die Vernunft gewöhnt: Abweichung im Blutdruck, im Cholesterin, Nierengries, große Polypen im Dickdarm, Hautjucken, Schlafstörungen, Schmerzen - alles muss behandelt werden, wegtherapiert werden, weil es uns gefährdet oder stört und weil man es behandeln kann: Behandelbarkeit führt schon fast automatisch zur Behandlung. Wo liegt das Problem? Es wird für mich deutlich, wenn man diese „vernünftigen” Korrekturen zum Normalen von der „körperlichen” auf die „seelische” Seite des Menschen erweitert. Wir erleben momentan eine Ausweitung der Indikation in diesem Bereich: Traurigkeit und Depression sind - abgebildet in Untersuchungsinstrumenten, in Klassifikationssystemen - gar nicht mehr leicht trennbar; Gleiches gilt für Angst, Schüchternheit, sprunghaftes Denken zwischen Psychose und Eigenheit eines Menschen. Im Hintergrund einer solchen Erweiterung steht das Bild des idealen Menschen, so wie wir ihn aus der Werbung oder aus dem Schönheitsideal des Dritten Reiches in Bezug auf das Äußerliche und das Innerliche schon kennen. Das Bild und der Wunsch vieler Menschen nach Erreichung des Bildes ergänzen sich.

Es gibt aber auch einige irritierende Auffälligkeiten: Ein nennenswerter Teil der Menschen folgt der im Hintergrund stehenden Vernunft nicht, will nicht normalen Blutdruck haben, sich der Polypen im Darm nicht entledigen, nicht vor der Geburt wissen, ob ein „normales Kind” zu erwarten ist, und will nicht immer fröhlich sein, nicht seine Nachdenklichkeit und Tagträumereien verlieren, die andere „Depression” nennen.

Und wir haben Ärzte unter uns, die diese Verweigerung ganz offensichtlich mitmachen: die bei Frau Meyerbär, 82 Jahre, die Mehrzahl ihrer Verwandten und Bekannten schon tot, nicht streng mit ihrem Blutdruck und ihrer Diät bei Typ-II-Diabetes sind. Die dem eigenwilligen Herrn Brauner nicht Neuroleptika aufdrängen, obwohl er immer wieder so komische Dinge tut, wie nachts Mülleimer zu durchsuchen und aus dem „Weggeworfenem Reichtum” Kollagen baut und zur Interpretation schon recht eigenwillige Dinge sagt. Oder die Frau Karl nicht doch endlich behandeln, obwohl sie immer wieder sich zurückzieht, tagelang nicht auf die Straße geht, dann Gedichte schreibt - nur für sich (und den Doktor, manchmal).

Geht man nach Studienlage, die alle definierende Fragebögen benutzen, so scheinen wir viele Patienten in unseren Praxen nicht vernünftig zu behandeln: Denn wer hat von uns schon 30 % Depressive und 20 % Angstpatienten, die er unter Medikamente gestellt hat - wer kann hier reklamieren, das Ziel unserer Vernunft auch nur annähernd erreicht zu haben? Einen Teil haben wir übersehen - also einen Fehler gemacht -, einen anderen Teil tolerieren wir in seiner Nicht-Behandlung, sind also unvernünftig.

Denn wir können für unser Unterlassen nur anführen, dass es viele Menschen gibt, die in unseren Praxen sich faktisch verweigern und wir dafür nun auch noch Verständnis haben. Manche von uns meinen sogar, dass es zum „normalen Leben” gehöre, dass manche Menschen bizarr, andere eher traurig, melancholisch oder „immer sehr nachdenklich”, wenig aktiv sind, andere wiederum immer „voll drauf”, immer fröhlich, nach neuen Aufgaben suchend sind. Und die, die diese erlösende Fröhlichkeit und Leichtigkeit für sich wünschten, die wüssten - zumindest hierzulande -, wie sie sich Abhilfe verschaffen können (Wie wir wissen, häufig allerdings ohne den von der Psychiatrie versprochenen Erfolg - denn die suggerierte Machbarkeit ist recht begrenzt.).

Aber es bleibt das Problem: Ist unser Argument vom „normalen Leben” vernünftig? Man kann das bisher Normale auch anders interpretieren: Man konnte bisher Abweichungen in Traurigkeit und Ängstlichkeit - ebenso wie Depression und Angsterkrankung - nur nicht gut behandeln. Dies habe aber so wenig mit „natürlich” zu tun, wie unbehandelte Kurz- oder Weitsichtigkeit - so kann man mit Vernunft argumentieren.

Ich finde aber, dass es hier Unterschiede gibt - aber selbst diese Unterschiede kann ich nicht gut belegen und darum bin ich unvernünftig. Ihr Heinz-Harald Abholz

Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz

Facharzt für Allgemeinmedizin

Abt. Allgemeinmedizin

Heinrich-Heine-Universität

Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de