Sprache · Stimme · Gehör 2004; 28(4): 186-187
DOI: 10.1055/s-2004-835865
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Objektivierung der Wirksamkeit von Übungstherapie durch akustisch evozierte Hirnrindenpotentiale

Training Related Improvements in Auditory Cortical ResponsesR. Schönweiler1
  • 1Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck
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Publication Date:
13 December 2004 (online)

Bei normal begabten Kindern mit schulischen Lernstörungen lassen sich durch Hirnrindenpotentiale auditive Zeitverarbeitungsdefizite für Sprachsignale im Störgeräusch nachweisen, wobei sich die Defizite nach einer computergestützten auditiven Übungstherapie normalisieren.

Dies hat eine Arbeitsgruppe der bekannten Neurophysiologin Nina Kraus (Evanston, IL, USA) experimentell nachgewiesen und in der renommierten Zeitschrift Experimental Brain Research publiziert (Catherine M. Warrier, Krista L. Johnson, Erin A. Hayes, Trent Nicol, Nina Kraus: Learning impaired children exhibit timing deficits and training-related improvements in auditory cortical responses to speech in noise. Experimental Brain Research 157, 2004 : 431 - 441. Online: http://springerlink.metapress.com/link.asp?id = BX3G5HPXKM9KC7UX). Worum geht es in der Arbeit und warum ist sie so wichtig für die Leser der Zeitschrift Sprache - Stimme - Gehör?

Wir alle wissen, dass es Schulkinder gibt, die trotz normalen peripheren Hör- und Sehvermögens und trotz normaler intellektueller Begabung hinter den erwarteten Lernerfolgen zurückbleiben. Als Ursachen dafür kommen in Frage: Auditive Verarbeitungs- und/oder Wahrnehmungsstörungen (AVWS), Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit/ohne Hyperaktivität (ADHS), Persönlichkeitsstörungen, Motivationsmangel, Störungen im Elternhaus und vieles mehr. Schulkinder mit AVWS verwechseln häufig ähnlich klingende Sprachlaute besonders in geräuschvoller Umgebung und beim Diktat. Um zu untersuchen, ob diese Beobachtung zutrifft und ob sich das durch üben aufholen lassen, haben die Forscher zwei Experimente durchgeführt.

Am ersten Experiment nahmen 112 als normalhörig und normal begabt getestete Kinder teil, von denen 80 als „lerngestört” getestet wurden. Dann wurde bei den Kindern späte sprachevozierte Potentiale (SAEP, CERA) mit und ohne Störgeräusch abgeleitet. Bei den meisten Kindern beeinflusste das Störgeräusch die Potentiale nicht oder kaum. Bei einer Subgruppe von 23 % der Kinder mit Lernproblemen bewirkte das Störgeräusch aber eine massive Reduktion des Potentials N2.

Diese Subgruppe wurde im zweiten Experiment daraufhin geprüft, ob sich die Potentiale durch Wahrnehmungsübungen (Lautunterscheidung, auditives Gedächtnis, auditive Sequenzierung, auditive Aufmerksamkeit, phonologische Bewusstheit und Reimerkennung) normalisieren. Dabei wurden innerhalb von 8 Wochen 35 - 40 Therapieeinheiten mit dem Programm „Earobics” absolviert. Tatsächlich normalisierten sich die Potentiale bei allen Kindern, was die Forscher durch Mechanismen der verbesserten Encodierung und schnelleren auditiven Verarbeitung erklären.

Die Ergebnisse können auch für den deutschen Sprachraum bedeutsam werden: 1. Der bekannte Heidelberger Lautdifferenzierungstest (H-LAD) liegt auch in einer Version im Störgeräusch vor, die aber noch nicht normiert wurde. Es ist denkbar, dass sich mit dem Test im Störgeräusch erkennen lässt, ob Schulkinder eine Übungsbehandlung benötigen. 3. Der Erfolg einer Übungstherapie kann „objektiv” mit späten akustisch evozierten Potentialen gemessen werden. 4. Übungen können erfolgreich computergestützt durchgeführt werden. Ein ähnliches Programm wie „Earobics” ist auch für die deutschen Sprache verfügbar (Audiolog, Fa. Flexoft). 5. Zur Zeit wird ein FM-System für lernschwache Kinder in Regelschulen entwickelt (EduLink, Fa. Phonak), das das Signal-Störgeräuschverhältnis in lauten Schulklassen verbessern soll. Die Ergebnisse von Kraus und Mitarbeiten legen nahe, dass dies tatsächlich sinnvoll sein kann.

Abschließend muss aber vor einer leichtfertigen Euphorie zum generellen Nutzen evozierter Potentiale gewarnt werden. Wir erlebten kürzlich, wie sich zunächst viel versprechende Schlussfolgerungen aus Ergebnissen der DFG-geförderten „Deutschen Sprachentwicklungsstudie” im Nachhinein doch nicht haltbar waren und zurückgenommen wurden; man hatte gehofft, das Risiko für eine sich im Kleinkindalter manifestierende spezifische Spracherwerbsstörung bereits im Säuglingsalter mit ereigniskorrelierten Potentialen (EKP) vorhersagen zu können, was sich jedoch nicht bestätigte (Die Zeit 31, 2004: „Der Brabbeltest - Hirnforscher glauben, kindliche Sprachstörungen frühzeitig erkennen zu können. Doch ihre Versprechungen sind allzu vollmundig.”). Wenn sich auch die Experimente von Kraus und Mitarbeiten stark von der deutschen Studie unterscheiden, so bleibt doch Vorsicht angebracht, bis andere Forschergruppen die Ergebnisse bestätigt haben. Wir dürfen auf weitere Arbeiten zu dem Thema gespannt sein.

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler

Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: rainer.schoenweiler@phoniatrie.uni-luebeck.de